Green Deal vor Europawahl: Renaturierungsgesetz am seidenen Faden
Das ökologische Herzstück des Green Deals ist weiter in Gefahr. Eine Mehrheit im Rat ist vor der Europawahl nicht in Sicht. Umweltministerinnen und -minister aus einem Dutzend Länder kämpfen um die Rettung des Renaturierungsgesetzes Mitte Juni. Es könnte die letzte Chance sein.
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Countdown Earth: So lösen wir die Klima- und Artenkrise“
Angesichts der Überschwemmungen in Süddeutschland fordern Wissenschaftler einmal mehr, dass Flussauen stärker renaturiert werden müssen, um Wassermengen Platz in der Landschaft zu geben, statt sie in Ortschaften zu pressen. Doch kurz vor der EU-Wahl hängt das geplante Gesetz zur Regeneration der Natur in Europa noch immer am seidenen Faden. Es würde unter anderem vorsehen, 25.000 Flusskilometer in Europa zu renaturieren. Weiterhin gibt es unter den Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten aber nicht die nötige Mehrheit, damit das bereits vom Europaparlament verabschiedete „Nature Restoration Law“ in Kraft treten kann. Alle Hoffnungen richten sich nun auf den 17. Juni, wenn die Umweltminister der EU-Staaten zusammenkommen. Auf Initiative der irischen Regierung will eine Gruppe von Umweltministerinnen und -ministern aus einem Dutzend Ländern einen neuen Anlauf nehmen, das Gesetz doch noch in Kraft zu setzen, bevor eine neue EU-Kommission gebildet wird und das wichtigste ökologische Gesetz seit Jahrzehnten in der Schublade zu verschwinden droht.
Eigentlich war das Gesetz schon in trockenen Tüchern. In den komplizierten europäischen Mühlen hatten Ausschüsse, Mitgliedstaaten und EU-Kommission sich in mehr als zwei Jahren Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt, mit dessen Hilfe die Natur in den kommenden sechs Jahren auf 20 Prozent der Fläche der EU wieder in einen ökologisch guten Zustand versetzt werden soll.
Rechtspopulist Orbán blockierte im letzten Moment
Nachdem weitgehende Zugeständnisse an den Agrarsektor vereinbart und Landwirte ausdrücklich von individuellen Verpflichtungen freigestellt wurden, stimmte im Februar das Europäische Parlament mit einer Mehrheit zu, die angesichts der europaweiten Traktoren-Proteste, die damals Schlagzeilen machten, erstaunlich deutlich ausfiel: auch viele konservative Politikerinnen und Politiker votierten für das Gesetz.
Doch dann trat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf den Plan und kündigte in letzter Minute seine Unterstützung für das Gesetz auf. Seitdem steht es – denkbar knapp – ohne eine Mehrheit da. Um sie zu erreichen, müssen 15 der 27 Mitgliedstaaten zustimmen, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Seit Orbáns Schwenk, dem sich auch die Slowakei anschloss, gibt es zwar weiter eine ausreichende Mehrheit von 19 Staaten für das Gesetz. Zusammen repräsentieren sie statt der nötigen 65 Prozent aber nur noch knapp 63 Prozent der EU-Bevölkerung.
Mit Nein gestimmt oder sich enthalten haben auch Österreich, Belgien, Finnland, Italien, die Niederlande, Polen und Schweden. Mangels einer „qualifizierten Mehrheit“ ist die erste Lesung im Rat noch nicht abgeschlossen.
Herzstück des Green Deal in Gefahr
Das Renaturierungsgesetz ist einer der wichtigsten Bestandteile des europäischen Green Deal, mit dem die Staatengemeinschaft bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral und ökologisch nachhaltig werden will. Es gilt als das wichtigste europäische Naturschutzgesetz seit der Verabschiedung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie von 1992. Während die FFH-Richtlinie dafür sorgen soll, dass überall in Europa ein ausreichend dichtes Netz an Naturschutzgebieten vorhanden ist, verfolgt das Renaturierungsgesetz einen anderen Ansatz: Es wäre das weltweit erste Gesetz, das eine ganze Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, nicht nur die verbliebenen Reste von Natur zu schützen, sondern zusätzlich bereits zerstörte oder geschädigte Ökosysteme wieder in einen guten Zustand zu bringen.
Feuchtgebiete zählen zu den wichtigsten Lebensräumen, für die Experten Renaturierungen für dringend nötig halten. So werden zum Beispiel Hochwasser nach Starkregen, wie sie aktuell in Süddeutschland auftreten, auf Jahrzehnte des Ausbaus von Flüssen und der Trockenlegung von Flussauen zurückgeführt, die ihre natürliche Aufgabe als Wasserschwamm nicht mehr erfüllen können. Austrocknende Moore werden zu den wichtigsten Quellen von Treibhausgasen gezählt. Zudem ist vielerorts die Trinkwasserversorgung gefährdet, wenn Feuchtgebiete fehlen, die Wasser aufnehmen und reinigen.
Damit wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass der Verlust von immer mehr Tier- und Pflanzenarten trotz des vorhandenen Schutzgebietsnetzes nicht aufgehalten werden konnte, sondern sich in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen sogar beschleunigt hat. In der Europäischen Union sind nach mehr als einem Jahrhundert der Industrialisierung inzwischen mehr als 80 Prozent aller Lebensräume in einem schlechten ökologischen Zustand. Viele Tier- und Pflanzenarten kämpfen ums Überleben.
Weltweit erstes Gesetz, um ökologische Schäden zu beheben
Auch der Weltbiodiversitätsrat IPBES kommt in seiner Analyse zum Zustand der Natur weltweit zu dem Ergebnis, dass der Schutz der vorhandenen Naturreste allein nicht mehr ausreicht, um den Artenverlust zu stoppen und die auch für Menschen überlebenswichtigen „Dienstleistungen“ dieser Ökosysteme zu sichern. Denn der anhaltende Verlust an Biodiversität hat Folgen auch für den Menschen: Kanalisierte Flüsse und zerstörte Auen bieten keinen wirksamen Hochwasserschutz mehr, kranke Wälder stoßen Treibhausgase aus, statt sie zu speichern, und die schwindende Zahl bestäubender Insekten entwickelt sich zu einer ernsten Gefahr für die Lebensmittelproduktion. Schon heute leidet die Hälfte der von Bestäubung abhängigen Ackerkulturen in der EU unter Mangelerscheinungen.
Um diese ökologische Krise zu bewältigen, verpflichtet das Renaturierungsgesetz die EU-Mitgliedstaaten, bis 2050 Maßnahmen zur Renaturierung von 90 Prozent der geschädigten Ökosysteme auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet zu ergreifen. Einbezogen werden müssen alle Arten von Lebensräumen – darunter Wälder, Moore, Wiesen, Seen, Flüsse und Meere. Dazu gilt ein Stufenplan: Als erste Zielmarke bis 2030 wird festgelegt, dass bis zum Jahr 2030 in mindestens 30 Prozent der Ökosysteme Maßnahmen angelaufen sind, um sie in einen guten Zustand zu bringen; das entspricht etwa 20 Prozent der Gesamtfläche der EU.
UN-Abkommen von Montreal verpflichtet zum Naturschutz
Bis 2040 müssen die Staaten Renaturierungsmaßnahmen in 60 Prozent und bis 2090 in 90 Prozent der geschädigten Ökosysteme ergriffen haben. Außerdem sollen die Renaturierungen dazu beitragen, die von der EU angestrebten Ziele zu erreichen, bis 2030 mindestens drei Milliarden zusätzlicher Bäume zu pflanzen und auf einer Länge von mindestens 25.000 Kilometer frei fließende Flüsse zu schaffen. Auch auf der Weltnaturkonferenz in Montreal hatte sich die Staatengemeinschaft auf das Doppelziel verständigt, 30 Prozent der Erde unter Schutz zu stellen sowie auf weiteren 30 Prozent Renaturierung zu betreiben. Anders als die Beschlüsse von Montreal ist das EU-Gesetz unmittelbar bindend für die Mitgliedstaaten und muss auch nicht noch einmal von den nationalen Parlamenten beschlossen werden.
Der europäische Green Deal, zu dem das Gesetz gehört, ist zudem eine der wichtigsten politischen Initiativen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Er umfasst weitreichende Maßnahmen beim Klimaschutz, aber auch grundlegende Veränderungen in der Agrarpolitik und im Umgang mit der Natur. Wichtige Ziele, etwa eine Halbierung des Pestizideinsatzes, wurden allerdings bereits unter dem Eindruck der Bauernproteste aufgegeben. Gegen solche Rückschritte richteten sich Ende Mai europaweite Proteste von Umwelt- und Klimaschützern.
Irischer Minister kämpft für das Gesetz
Hinter den Kulissen bemühen sich nun die Befürworter des Gesetzes, wenigstens einen ihrer Kollegen aus dem Lager der Gegner auf ihre Seite zu ziehen. In einem vom irischen Umweltminister Eamon Ryan initiierten Brief an die Ministerinnen und Minister aus den Ländern, die gegen das Abkommen sind, fordern die Ressortchefs Rückgrat zugunsten des bereits vom Europaparlament beschlossenen Gesetz ein. Es gelte, die beispiellose Unterstützung von Millionen Bürgern, Wissenschaftlern und Unternehmen aus der gesamten EU zu respektieren, heißt es in dem Schreiben. Ohne das Gesetz sei auch der Kampf gegen den Klimawandel in Europa – dem sich am schnellsten erwärmenden Kontinent der Erde – aussichtslos, argumentieren die Minister.
Neben Irland haben auch die Umweltministerinnen und -minister aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Dänemark, Luxemburg, die Tschechische Republik, Litauen, Slowenien, Estland und Zypern den Brief unterzeichnet. „Wir haben verhandelt, wir haben Kompromisse geschmiedet und wir haben im Parlament abgestimmt: das Gesetz jetzt nicht in Kraft treten zu lassen, würde Europa seiner Glaubwürdigkeit berauben“, warnte Ryan.
Schon zuvor hatte der Grünen-Politiker sich als energischer Verfechter für das Gesetz hervorgetan. In einem emotionalen Redebeitrag vor seinen Kollegen rügte er den Vorstoß des belgischen Premierministers und amtierenden Ratsvorsitzenden Alexander De Croo, beim Renaturierungsgesetz „die Pausentaste zu drücken“. Mit dem Zeigefinger Wort für Wort in der Luft unterstreichend, rief er: „Die Zerstörung der Natur ist lebensbedrohend, die Zerstörung der Natur ist unauflöslich mit dem Klimawandel verbunden. Jetzt ist nicht die Zeit, den Pausenknopf zu drücken – es zu tun, wäre eine Schande.“
Hoffnung auf Donald Tusk
Noch ist nicht klar, ob das Renaturierungsgesetz überhaupt wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das entscheidendet sich vor dem Umweltrat am 17. Juni. Bis dahin geht es nun darum, ob Mitgliedsländer doch noch zugunsten des vorliegenden Entwurfs abstimmen. Als mögliche Kandidaten dafür gelten Finnland und vor allem Polen. Dort ruhen die Hoffnungen auf einem Meinungsumschwung von Regierungschefs Donald Tusk. Der konservativ-liberale Politiker hatte im Wahlkampf gegen die von der rechtskonservativen PiS geführten Vorgängerregierung stark auf Umweltthemen gesetzt. So kündigte er an, die Renaturierung der durch die Umweltkatastrophe von 2022 geschädigten Oder zu einer Priorität für sein Regierungsbündnis zu machen, an dem auch die Grünen beteiligt sind. Auch den besseren Schutz der vielen alten Wälder Polens schrieb sich Tusk auf die Fahne. Umso überraschender war sein plötzliches Abrücken vom Renaturierungsgesetz unter dem Einfluss zahlreicher Protestkundgebungen von Landwirten und der Agrarindustrie. Darüber kam es auch zu einem offenen Streit mit Umwelt- und Klimaministerin Paulina Hennig-Kloska.
Tusk bekräftigte zwar seine auch im Wahlkampf geäußerte Haltung, wonach die Verbesserung des ökologischen Zustands der Natur auch für die polnische Landwirtschaft langfristig unabdingbar sei. Maßnahmen dazu wolle er aber „ohne europäischen Zwang“ umsetzen. Im polnischen Umweltministerium herrscht dennoch vorsichtige Zuversicht, dass Tusk im Vorfeld des Rates am 17. Juni einlenken werde.
Österreichische Bundesländer stoppen grüne Umweltministerin
„Er hat im Wahlkampf erkannt, dass man in Polen heute nur gewinnt, wenn man sich zu einer grünen Politik bekennt“, sagt eine Insiderin aus dem Ministerium im Gespräch. Sie hält Tusk zugute, dass er die ersten Monate seiner Amtszeit fast ausschließlich dem Wiederaufbau demokratischer Strukturen nach den Jahren der PiS-Herrschaft gewidmet hat. Teil dessen sei es auch gewesen, die Allianz aus Rechtskonservativen, ultrakonservativer Bauernpartei und der Landbevölkerung aufzubrechen.
Eine Konfrontation mit der Agrarlobby um das Renaturierungsgesetz hätte diese Bemühungen zurückgeworfen und zu herben Verlusten bei der Europawahl geführt, lautet die wohlwollende Interpretation von Tusks Gegnerschaft zum Renaturierungsgesetz. Nach der Wahl des Europäischen Parlaments am 9. Juni sieht die Ministeriumsmitarbeiterin die Chance, dass Tusk wieder auf einen ökologischeren Kurs einschwenkt.
Der Experte von Greenpeace Polen für Umweltpolitik, Marek Józefiak, kritisiert, Tusks bisherige Blockade sei „ziemlich leichtsinnig“. Der Ministerpräsident habe gehofft, damit bei den Kommunalwahlen im April Stimmen in den ländlichen Gebieten zu gewinnen. Nichts davon sei eingetreten: „Die Ergebnisse seiner Partei bei den Landwirten waren schlecht.“ 72 Prozent der Polen sprächen sich für das Renaturierungsgesetz aus und Tusk habe im Umweltbereich hohe Erwartungen geweckt. „Wenn er seine Versprechen nicht einhält, wird dies mit Sicherheit für ihn nach hinten losgehen“, sagte Józefiak auf Anfrage. Auch er hält ein Umschwenken zugunsten des Gesetzes noch für möglich.
In Österreich bilden die Konservativen und die Grünen die Regierung, doch die Mehrheit der österreichischen Bundesländer stellt sich gegen das Renaturierungsgesetz. Die Zeitung „Der Standard“ berichtete zuletzt, eine gemeinsame Stellungnahme der Länder sei nicht zustande gekommen und titelte: „Blockade bei EU-Renaturierungsgesetz: Der Karren ist festgefahren“. „Der Standard“ berichtete weiter, dass laut Bundesverfassungsgesetz die in diesem Fall zuständige Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) bei Verhandlungen und Abstimmungen in der EU an die Stellungnahme der Länder gebunden sei. Abweichungen seien nur dann möglich, wenn „zwingende außen- und integrationspolitische Gründe“ dagegen sprächen. Das Blatt zitierte Walter Obwexer, den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, mit den Worten: „Ich sehe diese Gründe nicht, so wichtig das Thema Renaturierung auch sein mag.“
Mehrere Wege können noch zum Ziel führen
Die vorentscheidende Weichenstellung für das Gesetz findet wenige Tage vor dem Ministertreffen statt, wenn sich die Botschafter der EU-Mitgliedsstaaten zu einer Probeabstimmung treffen. Nur, wenn sich dort eine ausreichende Mehrheit findet, dürfte die belgische Ratspräsidentschaft das Gesetz beim Ministertreffen noch einmal aufrufen.
Doch selbst wenn das Gesetz im Juni abermals scheitern sollte, ist es nicht zwingend tot. Denn die Regel, dass mit den EU-Wahlen Gesetzgebungsprozesse automatisch enden, die „Diskontinuität“, greift beim Renaturierungsgesetz nicht, weil es das EU-Parlament bereits in erster Lesung passiert hat. Deshalb geht der Gesetzgebungsprozess nun über die EU-Wahl am 9. Juni hinaus weiter. Es liegt an der belgischen Ratspräsidentschaft, wie aktiv sie sich für eine Einigung und Verabschiedung einsetzt. Sofern Belgien eine Mehrheit zusammentrommelt, könnte das Renaturierungsgesetz vom Rat ohne weitere Diskussion verabschiedet und in Kraft gesetzt werden.
Pingpong zwischen Parlament und Rat?
Der Rat könnte den Gesetzentwurf auch weiter abändern und sich auf eine neue Position einigen. Diese geht dann ans Parlament, das den neuen Gesetzentwurf entweder annehmen und damit in Kraft setzen oder aber Änderungen vorschlagen kann. Der Rat kann diese Änderungen annehmen und das Gesetz damit in Kraft setzen oder aber weitere Änderungen vorschlagen.
Für diesen Fall sowie für den Fall, dass im Rat eine qualifizierte Mehrheit erst gar nicht zustande kommt, wird nach Angaben der belgischen Ratspräsidentschaft die zweite Lesung eröffnet. In dieser Phase legt dann der Rat einen neuen Entwurf vor, zu dem wiederum das EU-Parlament Stellung bezieht. Das Parlament kann den Rats-Entwurf
- annehmen und damit in Kraft setzen
- abändern und zurück an den Rat überweisen
- oder ablehnen – dann wäre das Renaturierungsgesetz endgültig gescheitert.
Wird der Entwurf abgeändert an den Rat zurückgeschickt, kann dieser die neue Fassung annehmen und in Kraft setzen oder aber einen Vermittlungsausschuss zwischen den Institutionen einberufen. Dieser Prozess muss dann innerhalb von maximal vier Monaten abgeschlossen sein.
Wissenschaft unterstützt das Gesetz
Kaum ein europäisches Gesetzesvorhaben hat in den vergangenen Monaten so viel Unterstützung aus Wissenschaft und Zivilgesellschaften der Mitgliedstaaten erfahren, wie das Renaturierungsgesetz. Weit über eine Million Bürgerinnen und Bürger der EU haben einen Aufruf von Umweltverbänden für das Gesetz unterschrieben. Einer von der Umweltorganisation WWF in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage zufolge unterstützen die Bürger auch in den Ländern das Gesetz, in denen die Regierungen es ablehnen. Demnach sprachen sich in den Niederlanden, Finnland, Ungarn, Italien, Polen und Schweden von den knapp 6200 Befragten 75 Prozent für das Gesetz aus und nur sechs Prozent dagegen. Auch aus der Wissenschaft kommt Unterstützung für das Gesetz. Die im Dachverband der europäischen Wissenschaftsakademien zusammengeschlossenen Expertinnen und Experten aus zahlreichen Disziplinen appellierten an die Blockadestaaten, den Weg für das Gesetz freizumachen. Das Gesetz sei von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der Ernährung für Europa, die Bewahrung der biologischen Vielfalt und für einen erfolgreichen Kampf gegen den Klimawandel, erklärten die Akademien.
Auch Wirtschaftsverbände plädieren für Verabschiedung
In Deutschland stellten sich gleich drei wissenschaftliche Beiräte der Bundesregierung hinter das Renaturierungsgesetz, das sie als eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben überhaupt bezeichneten. Deutlich für das Renaturierungsgesetz ausgesprochen hat sich zuletzt auch ein Bündnis von Wissenschaftsvereinigungen, zu denen etwa die Gesellschaft für Ökologie, die Society für Conservation Biology und Scientists for Future zählen. In einem offenen Brief an die EU-Institutionen fordern sie, das Gesetz so schnell wie möglich zu verabschieden. Auch aus Wirtschaft und Wissenschaft kommt Rückendeckung für das Gesetz. So meldeten sich vor wenigen Tagen mehrere Dutzend Unternehmen und Unternehmensverbände zu Wort. Banken, Energieversorger, Lebensmittel- und Konsumgüterproduzenten und Handelsketten aus ganz Europa appellierten an die Regierungen, beim Umweltministerrat grünes Licht zu geben. Drei Millionen Unternehmen in der EU hingen direkt von intakter Natur ab, argumentierten sie.
„Führende Unternehmen und Investoren wissen, dass es keine Zeit zu verlieren gibt, um Ökosysteme zu heilen und die Gelegenheit zu nutzen, die das Renaturierungsgesetz für Europa darstellt, um seine eigene Wirtschaft zu stärken“, erklärte die Direktorin des Unternehmerverbandes CISL, Ursula Woodburg. Schon während der Beratungen hatten sich zahlreiche Großunternehmen, Branchenverbände und Lobbygruppen vehement hinter das Gesetz gestellt, darunter der europäische Windenergieverband und selbst die konservative Jäger-Dachorganisation „Face“.
Europawahl stellt die Weichen
Auch wenn das Gesetz formell unter einer künftigen EU-Kommission wieder aufgerufen werden könnte, setzen die Befürworter des Renaturierungsgesetzes alles daran, es so rasch wie möglich unter Dach und Fach zu bringen. Denn allen Umfragen zufolge wird das konservative und rechte Lager gestärkt aus der Europawahl hervorgehen. Sowohl Vertreter der konservativen EVP-Fraktion als auch aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Lager haben bereits deutlich gemacht, dass sie es nicht bei der Ablehnung des Renaturierungsgesetzes belassen wollen.
Langjährige Beobachter der Brüsseler Szene wie der Europachef des Naturschutzdachverbandes BirdLife International, Ariel Brunner, erwarten, dass der Artenschutz, die Finanzierung für europäische Naturschutzprojekte und das zivilgesellschaftliche Engagement für Klima- und Naturschutz insgesamt unter Druck geraten werden, wenn es zu einem Rechtsruck kommen sollte. „Wolf und Bär könnten die nächsten Opfer werden“, warnt Brunner. Dieser Warnung schließen sich Naturschützer in ganz Europa an.
Bleibt von der Leyen ihrer ökologischen Agenda treu?
Dass der europäische Umwelt- und Naturschutz bei einer konservativ-rechten Mehrheit insgesamt in Gefahr ist – daraus macht beispielsweise die konservative Mehrheitsfraktion EVP keinen Hehl. Aus den Reihen der Parteienfamilie, zu der auch die deutschen Unionsparteien gehören, wird seit längerem gegen die FFH-Richtlinie und gegen die Vogelschutzrichtlinie geschossen, die sie als bürokratisches und nicht mehr zeitgemäßes Hindernis für die Landwirtschaft sowie die wirtschaftliche Entwicklung diskreditieren. Beide Richtlinien bilden die Fundamente des Naturschutzes in Europa. Die FFH-Richtlinie soll dafür sorgen, dass Lebensräume geschützt werden, und die Vogelschutzrichtlinie hat maßgeblichen Anteil daran, dass nicht noch mehr Vogelarten – und mit ihnen viele andere Tier- und Pflanzengruppen – aus Europa verschwunden sind als ohnehin bereits.
Entscheidend für die ökologische Zukunft Europas in den kommenden Jahren wird dabei voraussichtlich eine Frau sein: die bisherige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Sie ist Spitzenkandidatin der EVP, die weiter stärkste politische Kraft bleiben dürfte. Den Green Deal, mit dem Europa zu einem ökologischen und klimaresilienten Staatenbündnis umgebaut werden soll, hat sie mit Unterstützung eines breiten demokratischen Bündnisses aus linken, grünen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien durchgesetzt.
BirdLife-Chef: „Jeder verlorene Monat wäre kriminell“
Doch in den letzten Wochen macht von der Leyen – wie bereits seit längerem auch EVP-Chef Manfred Weber –, unverhohlene Avancen an das Lager der Rechtsaußen-Parteien um die Fratelli d'Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. „Ich habe mit Giorgia Meloni sehr gut im Europäischen Rat zusammengearbeitet, wie ich es mit allen Staats- und Regierungschefs tue“, sagte die Spitzenkandidatin der EVP-Fraktion bei einer Kandidatenbefragung vor wenigen Wochen. Meloni sei eindeutig für Europa, für Rechtsstaatlichkeit und gegen Putin: „Wenn das so bleibt, dann bieten wir an, zusammenzuarbeiten.“
„Sollte es zu einem Bündnis von von der Leyen mit der EKR-Fraktion Melonis kommen, ist Ende mit Umweltpolitik – dann geht es rückwärts“, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Jutta Paulus, die das Renaturierungsgesetz mit ausgehandelt hat. „Wenn sie eine Mehrheit mit Sozialdemokraten, Liberalen und uns Grünen anstrebt, dann wird es sicher nicht so progressiv wie bisher, aber es könnte zumindest beim Schutz der Biodiversität vorangehen“, glaubt Paulus.
Auch BirdLife-Chef Brunner sieht von der Leyen in der Schlüsselrolle. „Entscheidend wird sein, welche Ursula von der Leyen wir erleben“, sagt er in Anspielung auf die politische Wendigkeit der CDU-Politikerin. „Die Ursula von der Leyen, die ihren Green Deal für Klima- und Naturschutz als ‚Man on the Moon Moment‘ feiert, oder die von der Leyen, die ihre gesamten ökologischen Errungenschaften im Angesicht der Bauernproteste innerhalb weniger Wochen komplett in den Mülleimer der Geschichte wirft?“
Von der Leyen hatte auf dem Höhepunkt der Bauernproteste zentrale Teile des Green Deal aufgegeben, darunter den Versuch, die Landwirtschaft ökologischer zu gestalten und den Einsatz gesundheits- und naturschädlicher Chemikalien zu halbieren. Brunner warnt davor, bei der Umsetzung des Green Deals nach der Europawahl Zeit zu verlieren: „Der Planet kocht, die Biodiversität stirbt – jeder verlorene Monat wäre kriminell.“
Die Recherchen von Thomas Krumenacker zu diesem Artikel wurden von der Hering-Stiftung Natur und Mensch im Rahmen des Projekts „Countdown Earth“ gefördert. Die Recherchen von Christian Schwägerl zu diesem Artikel wurden von der Andrea von Braun Stiftung gefördert.