Die Gesundinseln
Können Orte gesund machen? Die Ostfriesischen Inseln werben mit ihrer Heilkraft. Aber was ist da dran? Eine Spurensuche zwischen Dünen und Brandung.
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“.
Mit 76 Jahren kann Dr. med. Helmer Zühlke immer noch nicht in Rente gehen. „Wer macht denn dann den Job?“, fragt er knurrend. Der Badearzt von Borkum – einer von insgesamt dreien – sitzt hinter einem massiven Schreibtisch im ehemaligen Kommandantenhaus der Insel. Reihum hängen mächtige Schiffsbilder an den Wänden. Immer mal wieder steckt der Arzt kleine Stifte in ein hölzernes Boot. Er bastelt.
Wer ihm dann eine Frage stellt, muss geduldig sein. Manche Antworten, die Zühlke nach längerem Schweigen von sich gibt, versteht man auch nicht auf Anhieb. „Wer im Sommer kommt, hat den Erfolg an Weihnachten“, lautet so ein Satz. Soll heißen: Die Wirkung eines Inselaufenthalts stellt sich erst mit Verzögerung ein. Auch brauche es Zeit, bis sich die Heilkraft entfalte. Drei Wochen am Meer müssten es schon sein, sagt Zühlke: „Es dauert lange, bis sich eine Besserung zeigt. Aber dann ist sie nachhaltig.“
Und vielseitig: Der Badearzt zählt eine lange Liste der Leiden auf, die sich auf seiner Insel lindern lassen, und zwar nur mit dem, was da ist: Wind, Sonne, Wasser, Schlick. Der Kältereiz. Das Jod, das Salz. All das zusammen schaffe ein wirksames Therapeutikum bei Atemwegserkrankungen, Hautleiden, Störungen des Bewegungsapparates, Allergien oder einem geschwächten Immunsystem.
Lage, Lage, Lage
Aber kann das stimmen? Kann ein Ort gesund machen – nur durch seine Beschaffenheit? Die sieben Ostfriesischen Inseln Borkum, Juist, Norderney und die vier anderen, Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog und Baltrum, werden seit geraumer Zeit als „Gesundinseln“ beworben. Sie leben vom Tourismus, aber auch davon, dass Kranke und Erholungsbedürftige sie aufsuchen, um Kraft zu sammeln oder sich auszukurieren. Haben diese Inseln tatsächlich einen Standortvorteil, den es anderswo nicht gibt, zumindest nicht in diesem Ausmaß?
Ein Blick in die Historie zeigt, dass etwas dran sein muss an der segensreichen Wirkung von rauem Seeklima mit beißendem Wind, der einem manchmal wie Schmirgelpapier ins Gesicht fährt. Seit über zwei Jahrhunderten existiert die Tradition der Nordseebäder, genauer: seit 1797, als das erste Kurbad auf Norderney eröffnete. Heute befinden sich allein 18 Kliniken auf den Ostfriesischen Inseln, mit insgesamt rund 2400 Betten, darunter Mutter-Kind-Kurstätten, Reha-Kliniken, Jugend- und Vorsorgeeinrichtungen. Das Reha-Zentrum Borkum beispielsweise nimmt jährlich 2902 Patientinnen und Patienten stationär auf, die unter Atemwegs- oder Hauterkrankungen leiden.
Damals wie heute dreht sich alles um das sogenannte Reizklima, das seinen Namen den vielfältigen Umwelteinflüssen verdankt, mit denen es den Organismus aus seiner Komfortzone treibt. Er muss mit dem Kältereiz klarkommen, aber auch mit der starken UV-Strahlung, mit abrupten und heftigen Wetterwechseln sowie der salzhaltigen Luft, die die Nasenschleimhäute aktiviert. All das ist der Körper nicht gewohnt: Die Stoffwechselrate fährt hoch, man wird müde und hungrig, selbst wenn man nur im Strandkorb gesessen hat.
An Borkums Dünenkante lässt sich das gut beobachten. Über den Sand verteilt stehen dort Strandkörbe wie die bunten Gehäuse von Schnecken. Dass Menschen darin sitzen, erkennt man nur an ihren reglos vorgestreckten Beinen. Wie Einsiedlerkrebse haben sie sich tief in ihre Muschelbehausungen zurückgezogen, als suchten sie Schutz vor der Umgebung.
Peter Schöpel weiß, warum. Er ist Diplom-Sportökonom und Betriebsleiter im Gezeitenland, dem Wellnessbad der Insel. Von oben aus dem verglasten Bau fällt der Blick auf die Seehundbank, die wie eine Sichel vor dem Strand liegt. Aber die Seehunde sind jetzt weg. Sie haben sich im Lauf des Sommers verzogen, die Besucher:innen störten ihre Ruhe.
Eine Insel, drei Klimazonen
Seit 2007 lebt Peter Schöpel auf Borkum. Den Insel-Effekt spürt er am eigenen Leib. Früher war er Allergiker und reagierte auf Birkenpollen, heute hat er kaum noch Beschwerden. Dabei ist auch Borkum nicht pollenfrei, nur pollenarm, auf der Insel wachsen ebenfalls Birken. Aber weil Borkum als einzige Ostfriesische Insel ein Hochseeklima hat und ganzjährig vom Wasser umspült wird, bleiben Allergiker zumindest vom Pollenflug auf dem Festland weitgehend verschont. 2013 erhielt die Insel eine Auszeichnung als allergikerfreundliche Kommune.
Was aber hat es mit Schöpels Warnung auf sich, den Aufenthalt behutsam anzugehen? „Der Körper braucht in der Regel drei Tage, um sich zu akklimatisieren“, sagt er. „Durch das Reizklima wird der Organismus permanent gefordert. Es ist also wichtig, sich an die Klimazonen der Insel langsam zu gewöhnen, vor allem wenn man älter ist oder ein geschwächtes Immunsystem hat.“
Drei solcher Zonen unterscheiden Medizinerinnen und Mediziner. Die reizärmste – und damit die schonendste – befindet sich fernab vom Strand, im Inneren der Insel. Nummer zwei liegt an der Dünenkante und wirkt damit schon intensiver auf den Organismus. Den stärksten Einfluss spürt man in Klimazone drei direkt am Brandungssaum. Dort schlagen die Wellen je nach Windstärke mit Wucht auf den Strand. Sie reichern die Luft mit feinen Salzwassertröpfchen an, den maritimen Aerosolen, die mit jedem Atemzug bis tief in die Bronchien vordringen und helfen, den Schleim zu lösen. Menschen mit Atemwegserkrankungen können hier besser Luft holen. „Mehr oder weniger Totgesagte kommen regelmäßig hierher“, sagt Schöpel, „vor allem wegen der erleichterten Atmung.“
Zu ihnen gehört eine Dame aus Süddeutschland. Im Warteraum vor der Überfahrt hat sie freimütig von ihrer Erkrankung erzählt, auch wenn sie ihren Namen nicht nennen will. Sie ist 70 Jahre alt und leidet seit 15 Jahren an COPD, einer schweren Lungenkrankheit. Dass sie noch immer keine Versorgung mit Sauerstoff braucht, führt sie auf ihre vielen Borkum-Reisen zurück. Fünf Reha-Kuren hat sie auf der Insel verbracht, hinzu kommen mehr als zwanzig private Aufenthalte. „Wenn ich an der Brandung stehe“ sagt sie, „kann ich freier atmen, und das hilft mir noch monatelang.“
Wissenschaftliche Nachweise? Spärlich
Was aber meint die Wissenschaft zu all dem? Können Umweltreize tatsächlich so wirkmächtig sein? Die Studienlage ist dünn. Trotz der vielen Erfahrungswerte gibt es nur wenige Forschungsarbeiten, die sich auf evidenzbasierte Kriterien stützen können, also harte Nachweise erbringen, dass bestimmte Anwendungen auf bestimmte Art wirken. Das mag auch an der Natur der Sache liegen: Viele Faktoren treffen bei einem Nordsee-Aufenthalt zusammen, sie lassen sich kaum isoliert betrachten.
Anruf bei einer Wissenschaftlerin, die genau diese Umweltreize und ihre Auswirkungen auf den Organismus erforscht: Claudia Traidl-Hoffmann ist Lehrstuhlinhaberin für Umweltmedizin an der Universität Augsburg und wissenschaftliche Beirätin der bayrischen Heilbäder. „Es stimmt“, sagt sie, „dass es kaum Studien gibt. Aber wie wollen Sie auch bei natürlichen Heilfaktoren eine Doppelblind-Studie machen?“ Also eine Versuchsanordnung, bei der die Probanden nach dem Zufallsprinzip in Untersuchungsgruppen eingeteilt werden, wobei weder sie noch die Forschenden wissen, wer zu welcher Gruppe gehört.
Doch ein paar wissenschaftlich fundierte Belege gibt es, vor allem bei Hauterkrankungen wie Schuppenflechte und Neurodermitis. So wurden 2002 in einer Studie knapp 670 Neurodermitis-Erkrankte dem Klima an Nord- und Ostsee ausgesetzt. Ihre Therapie bestand hauptsächlich aus Meerwasserbädern und Sonnenlicht, ergänzt um künstliche UV-Bestrahlung. Bei 93 Prozent der Probanden zeigte sich eine deutliche Verbesserung des Hautbilds, was die Forschenden dem Seeklima zuschrieben sowie den therapeutischen Anwendungen. Sie lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Thalasso.
Dieser Begriff geht auf das griechische Wort für Meer zurück und meint nichts anderes als die Behandlung mit allem, was aus dem Meer und seiner Umgebung stammt. Dabei wird Salzwasser inhaliert, in der kalten See gebadet, an der Brandungskante entlang spaziert, ergänzt um Sonnenbäder, Atemtherapien, Schlickpackungen. All das ist Thalasso und hat, so sagt es Traidl-Hoffmann, einen hohen Wert. Ganz besonders in der Vorsorge und in der Rehabilitation: „Gesundheit besteht aus vielen, vielen Mosaiksteinen“, sagt sie, „und erst das Ganze macht die Gesundheit aus. Dasselbe gilt für die Umweltreize: Sie wirken als Gesamtpaket.“
Juist und die Kraft des Wenigen
Im Gegensatz zum stark frequentierten Borkum ist Juist eine Insel der Ruhe. Das Erste, was auffällt, ist das, was fehlt. Kein Auto donnert über die gepflasterten Straßen. Stattdessen: Hufgeklapper. Ein Planwagen kommt des Wegs, gezogen von zwei kraftvollen Kaltblütern. So werden auf Juist die Waren transportiert, sogar die Mülltonnen.
Das Nächste, was fehlt: Landmasse. Die Insel ist lang wie ein im Schlick ruhender Aal und genauso schmal. Höchstens 900 Meter liegen zwischen Wasser und Wasser. Wer im Süden das beschaulich schwappende Wattenmeer betrachtet und sich mehr Aufregung wünscht, muss sich nur umdrehen, durch den Hauptort spazieren und über den Dünenkamm klettern. Schon blickt er auf die offene See, die anbrandenden Wellen und einen gigantischen Strand. Noch größer ist nur der Himmel über allem.
Vereinzelt stehen Menschen reglos wie kleine Spielzeugkegel auf der riesigen Fläche. Viele sind barfuß, halten ihr Gesicht dem Meer entgegen. Andere wandern gemessenen Schritts an der Wasserkante entlang, Schuhe in der Hand.
Auch die Sozialarbeiterin Nicole Kühler war vor Monaten unter diesen Barfußgängern. Die Berlinerin kennt Juist seit nunmehr vier Jahren und kommt seitdem immer wieder hierher. 2019 hatte sie einen Burn-out, der sich in einer Gesichtslähmung äußerte, wie bei einem Schlaganfall. Zuerst traten Nackenschmerzen auf, ein Nerv entzündete sich. Schließlich reagierte ihre linke Gesichtshälfte nicht mehr. Kühler konnte kaum noch sprechen, ihr linkes Auge nicht mehr schließen, das Gehör reagierte hypersensibel.
Nach einem Jahr des Leidens fuhr sie zur Kur nach Juist und blieb drei Wochen. „Dieser Ort war für mich entscheidend“, sagt sie. „Die Ruhe, die Abgeschiedenheit, und dass man laufen kann, ohne jemanden zu treffen. Dass man nicht reden muss. Mir waren anfangs sogar die Wellen zu laut.“
Oft übersehen: die Schonfaktoren
Die karge Umgebung aus Wasser, Strand und Dünen wirkte wie ein schützender Mantel. Kühlers Nerven kamen zur Ruhe, nachts fiel sie in tiefen Schlaf. Tagsüber musste sie nur wenige Entscheidungen treffen: Gehe ich rechts den Strand entlang oder links? Weil kaum Ablenkendes da war, konnte sie sich wichtige Fragen stellen: Was hatte zu dem Burn-out geführt, was war notwendig, um einen weiteren zu verhindern? „Ich habe zu lange nicht auf meinen Körper gehört“, sagt Kühler.
Auf Juist änderte sich das. Sie lernte, die Ruhe auszuhalten und ihren Wertekompass neu auszurichten, was zu radikalen beruflichen Veränderungen führte: Sie suchte sich einen neuen Arbeitsort und reduzierte ihre Arbeitszeit. Heute hat sie 60 Tage Urlaub im Jahr, von denen sie acht Wochen an der Nordsee verbringt – als Selbstmedikation, wie sie sagt, um nicht wieder zu erkranken.
Der Rehabilitationsforscher Friedhart Raschke wundert sich überhaupt nicht, dass eine Burn-out-Patientin so stark von der Heilwirkung einer Nordseeinsel profitieren kann. Er ist der wissenschaftliche Leiter des Staatsbades Norderney und führte dort zuvor rund 25 Jahre lang das Institut für Rehabilitationsforschung. In dieser Zeit stellte er umfangreiche Untersuchungen zu Burn-out an. So ließ er die Stoffwechselaktivitäten von Betroffenen messen, die sich drei Wochen dem Meeresklima ausgesetzt und teilweise eine Bewegungstherapie begonnen hatten. Es zeigte sich, dass bei den Probanden vor allem die Burn-out-Problematik, aber auch die Schlafstörungen verschwanden und dieser Effekt noch monatelang anhielt – selbst bei den Erkrankten, die keine zusätzliche Therapie gemacht hatten.
Was hat den Leuten so geholfen? „An erster Stelle sicher die Neuordnung des Alltags mit gezielten Belastungen und Entspannungen“, sagt Raschke. Aber eben auch: „Die klimatischen Faktoren, der Standort am Meer und die Erholungsangebote.“ Hinzu kommt das, was nach Raschkes Ansicht meist unter den Tisch fällt: dass die Nordsee eben auch über Schonfaktoren verfügt, Reizklima hin, Reizklima her. Die Inseln sind weitgehend frei von Verkehrslärm. Auch wird es im Sommer selten heiß, noch weniger wird es schwül, die Hitzebelastung ist weit geringer als auf dem Festland. Selbst im Winter herrschen hier moderate Temperaturen.
Reizklimawandel
Fragt sich nur: Wie wird das in Zukunft sein? Der Klimawandel macht auch vor den Ostfriesischen Inseln nicht Halt und beeinträchtigt möglicherweise ihre Heilwirkung. Auf Juist fällt im Winter spürbar mehr Regen als früher. Auf dem Festland setzt der Pollenflug zeitiger ein, manchmal sogar schon im Januar. Er dauert länger und entwickelt sich aggressiver. Weht dann ein starker Wind Richtung Meer, erreicht die Pollenfracht auch die Inseln, die keine Hochseelage haben – und Allergiker wären nicht mehr so gut geschützt wie heute.
Borkum indes profitiere im Moment eher noch vom Klimawandel, sagt Peter Schöpel, der Sportökonom. Vielen Gästen wird es anderswo zu heiß, zum Beispiel am Mittelmeer. Bereits ab März kommen die Gesundheitstouristen, mit ihrer Sehnsucht nach Sonne, Wind und Wasser. Sie wandern am Meer entlang, meist schon am Tag ihrer Ankunft, ohne sich um Klimazonen und Akklimatisierung zu scheren. Und finden Zuflucht im nächsten Strandkorb, wenn der Insel-Effekt dann doch stärker zuschlägt als gedacht.
Das Rechercheprojekt „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.