Wenn das Meer steigt: Werden unsere Halligen und das Wattenmeer ertrinken?
Schaut man auf die nackten Zahlen, sind die zehn Halligen im deutschen Wattenmeer dem Untergang geweiht. Denn das Meer wird hier bis zum Jahr 2100 um einen halben bis ganzen Meter steigen. Doch es gibt Ideen, wie die Halligen und selbst Wattgebiete mitwachsen könnten.
Frage an ChatGPT: Wird es die deutschen Halligen im Jahr 2100 noch geben? Antworte bitte nur mit „Ja“ oder „Nein“.
Schon eine gefühlte Ewigkeit passiert nichts auf dem Bildschirm. Ob sich der Computer aufgehängt hat? Die Internetverbindung spinnt? ChatGPT abgestürzt ist?
Ob die KI überlegt? Kann sie das?
Plötzlich steht da die Antwort. Nach dem langen Schweigen schlägt sie wie ein Stein auf den Boden:
„NEIN.“
Das ist Nommen Kruse. Er lebt auf der Hallig Nordstrandischmoor, wie seine Eltern, seine Großeltern, Urgroßeltern und viele weitere Vorfahren.
Er sagt: „Ich fühle mich hier sicher.“ Und er sagt: „Ich möchte, dass auch meine Kinder hier noch leben können.“
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“.
Nommen Kruse stapft über die Salzwiesen, klappt den Zollstock aus und hält ihn wie ein Schwert nach oben. „Jetzt ist Ruhe“, sagt er. Die Möwen fliegen etwas höher und protestieren über seinem Kopf, aber einen Angriff wagen sie nicht. Kruse ist ohnehin nicht gekommen, um Möweneier zu sammeln, wie es die Halligbewohner früher so oft gemacht haben. Und eigentlich hat er seinen Zollstock auch nicht für die Abwehr besorgter Möweneltern eingesteckt – sondern um die Tiefe der Gräben und Löcher auf der Hallig zu messen – die Attacken der Nordsee auf seine Heimat. Der Zollstock sagt: Punkt für die Nordsee.
Nordstrandischmoor oder „Lüttmoor“ wie die Hallig auf Plattdeutsch heißt, ist die jüngste der zehn Halligen im deutschen Wattenmeer, hervorgegangen aus einer Katastrophe. Eine Sturmflut zerschlug 1634 die einstige Insel Strand und ließ nur drei kleine Fleckchen Land übrig: die Inseln Nordstrand und Pellworm sowie Nordstrandischmoor. Kruses Vorfahren gehörten wahrscheinlich zu den wenigen überlebenden Insulanern und den ersten Bewohnern der Hallig. Damals war Nordstrandischmoor noch rund drei Mal so groß wie heute. Stück für Stück ließ die Nordsee die Hallig seither schrumpfen, bis in den 1930er Jahren ein kleiner Steinwall gebaut wurde, der die Erosion stoppen konnte. Vorerst.
Heute misst die Hallig knapp zwei Quadratkilometer. 18 Menschen leben hier, verteilt auf drei Erdhügel: Norderwarft, Amalienwarft und Neuwarft. Hier saßen die „Halliglüüd“ bisher selbst bei Sturmfluten hoch und trocken, doch mit dem Meeresspiegelanstieg werden die Angriffe der See immer aggressiver. Kleine Teile der Salzwiesen spülen davon, die Kanten brechen ab, aus dem Uferwall reißt die Nordsee ganze Steine. Dass die Dinge sich ändern, das kennt man hier auf der Hallig. „Aber früher waren die Veränderungen eher schleichend“, sagt Kruse, „heute jagt ein Extrem das andere“. Und in Zukunft? Können die Halligen, diese winzige Fleckchen Land in einem ansteigenden, zunehmend unberechenbaren Meer überleben?
Bei Niedrigwasser und schwachem Wind ist kaum vorstellbar, dass eine übel gelaunte Nordsee mehrere Meter hoch auflaufen und an den Warften emporsteigen kann. Diese künstlich aufgeschütteten Hügel mit den Häusern darauf sind so angelegt, dass sie selbst bei extremen Wasserständen immer noch ein Stückchen aus den Wellen herausschauen. Kleine Tupfer in einem wütenden Meer. Doch im Sommer, wenn überall der lilafarbene Halligflieder blüht und der silbrige Wermut wächst, wenn die Schafe über grüne Salzwiesen trotten und die Sonne lauter Glanzlichter auf das Meer setzt, scheint die Hallig ein sanftes Paradies zu sein.
Landunter: 50 Mal im Jahr das Meer vor der Haustür
Wie alle Halligen – und anders als das Festland oder die Inseln – ist auch Nordstrandischmoor nicht durch hohe Deiche, große Mauern oder Dünen vor Hochwasser geschützt, sondern nur durch seinen kleinen Damm. 50 bis 60 Mal im Jahr gibt es daher ein „Landunter“. Besonders im Winter steigt die Flut dann so hoch, dass Wiesen, Straßen und Wege unter Wasser stehen. Doch was anderswo zum Desaster führen würde, ist auf Nordstrandischmoor gewollt. Die regelmäßigen Überflutungen sorgen nicht nur dafür, dass das einzigartige Ökosystem der Salzwiesen gedeihen kann, sie bringen auch Sand, Schlick und Muschelschalen mit auf die Hallig. Dieses so genannte „Sediment“ ist in Zeiten des Klimawandels ein begehrtes Gut. Wer bei steigendem Meeresspiegel mitwachsen will, braucht viel davon.
Wie man viel Sediment nach Nordstrandischmoor bekommt, das will Luisa Rieth vom Landesbetrieb für Küstenschutz (LKN) herausfinden. Nommen Kruse holt sie am Festland ab.
Gemeinsam fahren sie durchs Wattenmeer. Denn wie „Emma“ aus Lummerland kann die Lore übers Meer fahren. Allerdings nur bei Niedrigwasser - über einen kleinen Steindamm.
Luisa Rieth ist Projektleiterin von „EcoHal“, einem Forschungsprojekt, in dem „naturbasierte Lösungen“ für den Halligschutz gefunden werden sollen. „Wir haben hier zwei Höhenmodelle von 2005 und 2018“, erklärt die Hydrologin, nachdem sie eine laminierte Hallig-Karte aus ihrem Rucksack geholt hat. „In Rot sehen wir Bereiche, die während dieser Zeit erodiert sind, und in Grün Bereiche, die Sediment hinzugewonnen haben.“ Momentan ist die Hallig an den Rändern, die häufig überflutet werden, eher grün, in der Mitte rot. Ziel ist es, die komplette Höhenkarte tiefgrün zu färben.
Erfolge messen sich dabei in Millimetern und sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen – abgesehen von den aufgeschütteten Warften erscheint hier alles gleich flach. Die Misserfolge dagegen fallen sofort auf: Kruse stochert mit dem Zollstock in einem großen Loch an der Halligküste. Mit dem Steindamm aus den 1930er Jahren, der rund um die Hallig errichtet und zwischenzeitlich erweitert wurde, konnte die Erosion eine Zeitlang erfolgreich gestoppt werden.
Doch hinter dieser harten Steinkante bildeten sich zuletzt immer größere Löcher. Diese „Auskolkungen“ entstehen, wenn die Wellen über das Deckwerk schlagen und ihre Energie nicht gut abgefangen werden kann. Hat das Meer sich erstmal ein solches Angriffsloch geschlagen, frisst es sich schnell weiter in die Salzwiese hinein. Nommen Kruse hat eine Zeitlang versucht, die Löcher in der Salzwiese mit kleinen Graspflastern zu verarzten, die er weiter oben aus der intakten Wiese stach. Doch die Mühe war vergeblich. Die Nordsee war stärker.
Dabei könnte man ihr etwas entgegensetzen, meint Kruse. Wie viele Halligbewohner verdient auch er einen Teil seines Geldes durch seine Arbeit für den Landesbetrieb für Küstenschutz (LKN). In dessen Auftrag haben er und weitere Mitarbeiter in der Vergangenheit Teststrecken entlang der Halligkante angelegt: mit Reisig-Bündeln, weiteren Steinen oder auch L-förmigen Platten, in denen sich die Energie der Wellen fangen sollte, wollten sie die Salzwiesen hinter dem Damm besser schützen.
Funktioniert habe indes nur eine Lösung, sagt Kruse und führt zu seiner „Vorzeigekante“. Sie sieht ein bisschen aus wie eine überdimensionierte Rasenkante aus Beton, bildet aber einen sauberen Übergang zu einer vollkommen intakten Salzwiese.
„Das hier“, sagt Kruse mit etwas Stolz. „Das wäre die Lösung.“
Dass sie es vorerst nicht ist, liegt an den Gesetzen, die hier gelten. Die Hallig ist Teil beziehungsweise ist umgeben von Schutzgebieten wie dem Nationalpark Wattenmeer, dem Unesco-Weltnaturerbe, einem FFH-Gebiet und Vogelschutzgebieten. Es gibt etliche Vorschriften, was hier erlaubt ist und was nicht. Betonkanten in Salzwiesen zu bauen ist nicht erlaubt. Selbst wenn diese Kanten die Salzwiese besser schützen könnten.
„Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, wo wir nichts mehr dran machen“, sagt Kruse frustriert. „Egal was du machst, mit den Mitteln, die dir zur Verfügung stehen, funktioniert es nicht“, sagt er. „Es bindet Arbeitszeit und es ist ja auch schade, wenn permanent Grassoden kaputt gehen.“ Kruse spielt das Spiel jetzt auf seine Weise: „Wenn die Salzwiesen hier an der Kante irgendwann ganz weg sind, ist es ja anscheinend einfacher, eine Genehmigung für harte Küstenschutzmaßnahmen zu bekommen.“
Harter Küstenschutz heißt in der Regel: irgendetwas Festes aus Stein oder Beton zu bauen. Diese Methoden sind umstritten, weil sie natürlichen Feuchtgebieten wie etwa Salzwiesen schaden. Und weil sie oft dafür sorgen, dass die Küsten auf lange Sicht noch stärker erodieren. Besonders gut lässt sich das auf Hallig Hooge beobachten. Hier „bewahrt“ ein höherer Steindeich die Hallig schon seit einem Jahrhundert vor häufigen Überschwemmungen. Das hat dazu geführt, dass die Salzwiesen aussüßten und heute in einem so mickrigen Zustand sind, dass sie unter keinen Schutzstatus mehr fallen. Gleichzeitig wuchs die Hallig im Innern nicht mehr auf, weil kaum Sediment angespült wurde. Hooge hat daher mittlerweile die Form einer Suppenschüssel: außen hoch, innen tief. Verloren haben beide: Küsten- und Naturschutz.
Statische Gesetze treffen auf dynamische Natur
Was Nommen Kruse und auch Luisa Rieth für Nordstrandischmoor vorschwebt, sind daher „hybride Lösungen“ - eine Mischung aus hartem und naturbasiertem Küstenschutz. Letztlich, meint Nommen Kruse, gebe es ohnehin nicht die eine Lösung für alle Halligen oder für alle Bereiche. Was an der Westseite funktioniert, könnte an der Südseite schon ein totaler Fehlschlag sein. Kruse und Rieth diskutieren bei ihrem gemeinsamen Gang über die Hallig daher viele verschiedene Ideen: Ob mehr oder anders gebaute kleine Dämme, wie Lahnungen und Buhnen das Sediment im Wattenmeer vor der Hallig auffangen könnten? Ob künstlich angelegte Muschelbänke die Wellen abbremsen könnten? Ob es eine natürliche Variante für den Zwei-Komponenten-Kleber gibt, mit denen die Steine des Uferdamms an einer Stelle verklebt wurden?
Doch vielen dieser Ideen stehen Vorschriften und Gesetze im Wege. Die hätten zwar alle ihren Sinn und Zweck, meint Luisa Rieth, aber sie seien oft zu statisch. Und auch Kruse sagt: „Unsere Gesetze müssen genauso dynamisch werden wie das Wattenmeer selbst.“ Auch daran wollen sie bei EcoHal arbeiten und Vertreter aus Verwaltung, Politik, Küstenschutz und Naturschutz an einen Tisch bringen. „Meine Vorfahren früher haben direkt gegen die Nordsee gekämpft. Ich muss gegen Papiere kämpfen“, sagt Kruse. Das müsse sich ändern.
Nach der Halligbegehung beugen sich Luisa Rieth und Nommen Kruse bei einem Kaffee noch gemeinsam über Karten und Diagramme. Die zeigen: Die meisten Halligen wachsen zwar. Aber sie wachsen langsamer als der Meeresspiegel steigt. Laut „Generalplan Küstenschutz“ stieg das mittlere Tidehochwasser zwischen 1940 und 2007 um durchschnittlich 3,8 Millimeter pro Jahr. Was diese Millimeterbeträge über die Jahrzehnte bedeuten können, konnten Nommen Kruse und seine Familie im Februar 2022 erleben, bei der dritthöchsten Sturmflut seit Aufzeichnung. „Hier in diesem Schuppen“, sagt Kruse und deutet vom Kaffeetisch um sich herum, „hier sind die Wellen reingelaufen.“
Der „Schuppen“ ist Teil des alten Hauses der Kruses. Weil klar war, dass es für zukünftige Fluten zu tief liegt, wurde die Warft neben dem alten Haus um zweieinhalb Meter erhöht und 2019 ein neues Haus an diese Stelle gebaut. Danach war eine von Kruses Hauptsorgen, dass auf dem neuen Teil der Warft eine gleichmäßige und dichte Grasnarbe anwuchs, die Nordseewellen keine Angriffspunkte liefert. Denn bei einer Sturmflut ist die Warft nicht mehr und nicht weniger als ein verlorenes Stückchen Land in einem riesigen wütenden Meer. „Die Warft ist unsere Lebensversicherung“, wiederholt Kruse einen Satz, der ihm schon als Kind eingeprägt wurde. Auch Oma Kruse hatte die Grasnarbe stets im Blick.
Braucht es größere Lösungen?
Den Sturmtest im Februar 2022 überstand die neue Warft schadlos. „Aber ich war trotzdem beeindruckt, wie aggressiv die Wellen waren“, sagt der 36-Jährige im Rückblick. Aggressiver als sonst. Ein Phänomen, das man auf den Halligen die letzten Jahrzehnte verstärkt beobachtet und das Fragen aufwirft: Wird es reichen, ein paar Halligkanten auszubessern, die Grasnarbe zu pflegen und Buschlahnungen aus dem vorigen Jahrhunderten zu verstärken? Oder braucht es größere, massivere Lösungen? Und falls ja, wie soll das gehen? Schließlich ist Nordstrandischmoor keine Südseeinsel, die aus dem Ozean ragt, sondern eingebettet in ein natürliches Gezeitensystem, das ständig in Veränderung ist.
Hallig und Watt: eine marine Schicksalsgemeinschaft
Das Schicksal der Halligen ist eng mit jenem des Wattenmeers verknüpft: Je nachdem wie hoch die Wattflächen sind, wie die Priele verlaufen, wie die Außensande sich bewegen oder wo Muschelbänke und Seegraswiesen wachsen, sind sie mehr oder weniger gut vor der Brandung der Nordsee geschützt. Gerade die hohen Wattbereiche können bei Sturmfluten viel Energie aus den anrollenden Wellen nehmen. Fällt dieser Wellenbrecher weg, wäre das für die Halligen wie für das Festland fatal.
Und es wäre auch fatal für die unzähligen Lebewesen, die sich auf das Kommen und Gehen des Wassers eingestellt haben und denen das Watt als riesiger Futtertrog dient. Das Wattenmeer ist eines der vogelreichsten Gebiete Europas und ein Zuhause für endemische, also nur hier lebende Arten, wie zum Beispiel den Halligflieder-Spitzmaus-Rüsselkäfer, der auf die Wurzeln des lila blühenden Flieders angewiesen ist. Insgesamt wird geschätzt, dass das Wattenmeer mit seinen verschiedenen Lebensräumen vom Watt über die Salzmarschen, Dünen und Seegraswiesen Heimat für bis zu 10.000 Arten ist. Wie Nommen Kruse sehen auch sie einer ungewissen Zukunft entgegen.
Auch das Watt wächst - zumindest ein bisschen
Viele kluge Menschen studieren daher Messdaten und entwerfen komplexe Modelle, die simulieren, wie die Zukunft des Wattenmeers aussehen könnte: Aus welchen Flüssen, aus welchen Meeresregionen werden Sedimente angespült? Wie werden sie durch Wind, Wellen und Gezeiten verteilt? Die Ergebnisse zumindest für die Gegenwart sind ermutigend: Lange habe man gedacht, dass das Wattenmeer einige Zeit brauchen werde, um sich an höhere Wasserstände anzupassen, sagt Robert Lepper von der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW) in Hamburg. Anders als die Halligen aber hat das Wattenmeer in den vergangenen Jahrzehnten teilweise schneller an Höhe gewonnen als der Meeresspiegel. Teile des ostfriesischen Watt etwa wuchsen gleich fünf Mal so stark in die Höhe, das nordfriesische Watt, dort wo Kruse wohnt, ungefähr im gleichen Tempo wie das Meer.
Wie genau sich Sand, feiner Schlick und andere Partikel im Wattenmeer verteilen ist auch nach drei Jahrzehnten Sedimenthaushalts-Forschung noch nicht ganz klar. Die Datenlange ist löchrig. Denn sie basiert auf Überfliegungen und Schiffsmessungen, deren Genauigkeit wiederum von Wetter und Gezeiten abhängt.
„Wie das Wattenmeer in 100 Jahren aussieht, können wir jetzt einfach noch nicht sagen“, sagt Christian Winter, Küstengeologe der Universität Kiel. Sowohl Winter als auch Lepper warnen aber: Steigt das Meer schneller, wie in den eher pessimistischen Szenarien angenommen – also bis 2100 nicht „nur“ 50 Zentimeter, sondern doppelt so viel – wird das Wattenmeer mit dem Wachstum nicht mehr hinterherkommen. Dann werden viele Wattflächen, die heute noch regelmäßig bei Ebbe trocken fallen, nicht mehr aus den Fluten auftauchen. Große Wattbereiche könnten bis 2100 untergehen. Dann sieht es auch für die Halligen schlecht aus.
Stimmt damit ChatGPTs hartes Urteil zur Überlebensfähigkeit der Halligen? Nun, die KI hat auch eine weitaus differenzierte Antwort parat. Das Schicksal der Halligen, so fasst sie zusammen, „ist ein komplexes Thema, das von mehreren Faktoren abhängt, darunter die Geschwindigkeit des Meeresspiegelanstiegs, natürliche Prozesse und lokale Schutzmaßnahmen.“ Alle drei genannten Faktoren sind ungewiss. Im Gegensatz zu natürlichen Prozessen oder dem Kampf gegen den Klimawandel aber lassen sich die lokalen Schutzmaßnahmen direkt an der Küste steuern. Sie stehen für einen alt bewährten Kampf auf neuem Level: Der Schutz der Küste vor dem Meer. Vor dem steigenden Meer.
Lieber klotzen statt kleckern?
Experten auf diesem Gebiet sind die Niederlande. Hier liegen schon jetzt große Landesteile weit unterhalb des Meeresspiegels und dennoch schafft das Nachbarland es, die Nordsee mit Deichen, riesigen Dämmen und Sandaufspülungen in Schach zu halten. „Die Niederländer kleckern nicht, die klotzen“, sagt die Direktorin des Landesbetriebs für Küstenschutz, Birgit Matelski. Vorläufiger Höhepunkt dieses „Klotzens“ war der Vorschlag des niederländischen Forschers Sjord Groeskamp aus dem Jahr 2020, die ganze Nordsee „einzuzäunen“: Ein gut 160 Kilometer langer Damm im Ärmelkanal sowie ein fast 500 Kilometer langer Damm von Norwegen nach Großbritannien könne alle Nordsee-Anrainer auf einmal schützen, so die Idee von Groeskamp und einem Kieler Kollegen. Die Bauzeit schätzte der Niederländer auf 50 bis 100 Jahre, die Kosten auf 250 bis 500 Milliarden Euro. „Machbar ist alles“, sagt Birgit Matelski dazu, „aber so ein Bau muss auch unterhalten werden. Also ich möchte das nicht machen.“
Als Folge des Dammbaus würde sich die Nordsee irgendwann in ein Süßwassergewässer verwandeln. Ohne Gezeiten würde auch das Wattenmeer verschwinden. Spätestens hier stellt sich die Frage, die auch Groeskamp selbst aufwarf: Kann so ein Mega-Damm wirklich eine Lösung sein – oder zeigt er eher das Ausmaß unseres Problems?
Der Sand und das Nirgendwo
Wenn sich das Wasser also vorerst nicht wegsperren lässt, muss das Land eben wachsen. Diese Idee steht hinter einem anderen niederländischen Großprojekt: „Sandmotor“. Anstatt den Kräften der Nordsee etwas entgegenzusetzen, versucht man hier, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen: Vor der Südwestküste Hollands spülten die Niederländer eine zwei Kilometer lange künstliche Insel auf, mit insgesamt 21 Millionen Kubikmeter Sand. Und tatsächlich verteilte die Nordsee den Sand mit Hilfe der häufig wehenden Westwinde an jene Strände, an denen er dringend benötigt wird. Nicht im prognostizierten Ausmaß, dennoch verbuchen die Niederländer das Projekt als Erfolg.
Auch die Nordseeinsel Sylt erhält jedes Jahr etwa eine Millionen Kubikmeter Sand – Tendenz steigend. Dass die Nordsee diese mühsam verteilten Massen jedes Jahr aufs Neue wieder davonträgt, wird in dem Wissen geduldet, dass große Teile dieser Sände im Wattenmeer landen und es so ein bisschen aufpolstern. Denn das hat man ohnehin vor. In der „Wattenmeerstrategie 2100“ des Landes Schleswig-Holstein heißt es, der Import von natürlichen Sedimenten z.B. von Sand aus der vorgelagerten Nordsee in das Wattenmeer sei „nach heutigen Erkenntnissen die wichtigste Anpassungsoption“.
Aber kann das funktionieren für ein Gebiet, das immerhin fast so groß ist wie ganz Schleswig-Holstein? Oder ist es nicht eher so, als würde man eine Handvoll Sand in einen Garten-Pool schmeißen? „Kommt auf die Dimension der Hand an“, sagt der Hamburger Küstenschutz-Experte Robert Lepper von der BAW. Um das gesamte Wattenmeer um einen Zentimeter wachsen zu lassen, bräuchte man etwa 46 Millionen Kubikmeter Sand – die doppelte Menge vom Projekt „Zandmotor“. Klingt machbar. Aber auch wenn das Sediment natürlich an einigen Stellen gezielt eingebracht und nicht auf das gesamte Wattenmeer verteilt werden soll: ein Zentimeter ist gerade mal ein Fünfzigstel dessen, was in den optimistischsten Szenarien als Meeresspiegelanstieg bis 2100 erwartet wird.
Zudem stehen Sandaufspülungen immer wieder in der Kritik. Gerade bei den millionenteuren Sandspenden für Sylt, liegt der Gedanke nahe, dass hier Meerblick-Villen mit Steuergeldern geschützt werden. „Mit genügend Geld und massivem Ingenieurwesen könnte man jede Küste für einige Zeit halten“, sagt Christian Winter dazu. Aber langfristig lohnten sich die Mühe und das Geld kaum. Ohnehin könne man nicht auf Dauer gegen die Nordsee anarbeiten. Menge und Häufigkeit der Aufspülungen würden immer weiter anwachsen. „Und irgendwann ist das nicht mehr darstellbar“, sagt Winter.
Er betont zudem die ökologischen Folgen der Maßnahmen: „Alle freuen sich über den weißen Strand, aber dass da auch Ökosysteme drin sind mit kleinen Mikroorganismen und Fauna, das wird meistens außer Acht gelassen.“
Das heißt nicht, dass Winter Sedimentspenden für das Watt generell ablehnt. Wo welches Sediment dazu beitragen kann, das Wattenmeer gegen den Meeresspiegelanstieg zu wappnen, sei aber noch unklar. „Das Wattenmeer ist ein solch komplexes System, dass wir noch gar nicht ausreichend Rechenkapazitäten für die genaue Sedimentverteilung haben“, sagt Winter. „Die grundsätzlichen Prozesse verstehen wir, aber das komplette Wattenmeer zu vermessen und diese Prozesse zu simulieren, ist noch eine größere Aufgabe.“
Katastrophendemenz und Häuser in der ersten Reihe
Darüber hinaus müssen viele weitere Fragen beantwortet werden: Wo können Menschen sich anpassen, wo können sie natürliche Prozesse geschickt steuern und nutzen? Wo müssen sie sich zurückziehen und dem Meer wieder mehr Platz einräumen?
Während der Landesbetrieb für Küstenschutz vorrangig sein Versprechen erfüllen möchte - nämlich die Küstenlinie zu bewahren, fordert Christian Winter mehr Ehrlichkeit in der Debatte. „Wir können die Häuser in der ersten Reihe langfristig nicht halten. Ich fürchte, diese Nachricht müssen wir den Besitzern der Häuser jetzt zumuten.“ LKN-Direktorin Birgit Matelski würde das so nie sagen. Aber auch sie, die als Kind in Dithmarschen die Sturmflut von 1976 erlebt hat, warnt: „Ich würde nie auf die Idee kommen, direkt hinter dem Deich im Schutzstreifen zu bauen. Aber Menschen neigen ja zu einer gewissen Katastrophendemenz.“
Anpassung oder Rückzug?
Was bedeutet all das für Nommen Kruse? Er hat sein Haus in der ersten Reihe bereits aufgegeben, nur um sich – zweieinhalb Meter höher – erneut in die erste Reihe zu begeben. Hätte er die Erlaubnis und die Unterstützung für die Warfterhöhung nicht bekommen, wäre er fortgegangen, sagt er. Anpassung oder Rückzug – diese zwei Optionen gab es. Auf den Halligen ist die Situation dabei eine besondere: Nur die Bewohner können helfen, diese kleinen Landflecken im Meer zu erhalten. Daher gibt es vom Land finanzielle Hilfen für sicheren Wohnraum. „Wir sind dem Land sehr dankbar, dass wir bleiben konnten“, sagt Kruse. „Und jetzt geht es darum, den Rest der Hallig zu erhalten.“
Auch für Nordstrandischmoor ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden, um Sandaufspülungen vor der Hallig zu testen. Aber Kruse glaubt nicht daran, dass dies auf den Halligen die richtige Maßnahme ist. Wie Luisa Rieth setzt er große Hoffnungen in eine Methode, die bereits sein Opa in ersten Versuchen ausprobiert hat: den Rohrkoog.
Die Idee dahinter ist simpel: Man baut verschließbare Rohre vom Wattenmeer in die Hallig hinein um die Nordseefluten bei ihrem Weg über die Hallig zu bremsen und zu steuern. Nommen Kruse hat diese Methode gemeinsam mit Wissenschaftlern der Uni Göttingen verfeinert und probiert sie an verschiedenen Stellen der Hallig bereits aus. In einem Pilotprojekt haben sie am Ufer ein Rohr gebaut, das Wasser unter dem Steindamm hindurch in die Hallig hineinleiten kann. Weil das Wasser direkt vom Meeresboden kommt, ist es sehr trüb und trägt viele Sedimente mit auf die Hallig. Dort rieseln die kleinen Partikel herunter und das Wasser kann dann langsam zurückfließen. Oder anders formuliert: Die Nordsee spült hier Sand auf – ganz von allein.
Den ersten Messungen zufolge scheint die Idee zu funktionieren. Dort, wo der Rohrkoog gebaut wurde, wuchs die Hallig besonders stark. So stark - dass sie mit dem Meeresspiegelanstieg Schritt halten könnte. Lassen sich diese Ergebnisse auch an anderen Stellen wiederholen, könnte der Rohrkoog sogar ein Modell für andere Küstengebiete werden.
„Die Halligen sind exzellente Orte um verschiedenste Optionen des Küstenschutzes auf kleinem Raum zu testen“, sagt Christian Winter dazu. Notfalls übrigens auch für die letzte Option: für den Rückzug. Denn wie man weicht, bevor es zur Katastrophe kommt, darin hat die Menschheit bisher wenig Übung.
Bis es soweit kommt, möchte Kruse aber kämpfen. Denn kämpfende Halligbewohner, glaubt er, könnte ChatGPT in seinen Überlegungen übersehen haben.
Das Rechercheprojekt „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.