Coronavirus: Wenn sich Menschen mit einer geschwächten Immunabwehr anstecken

Krebskranke oder Transplantierte haben während der Pandemie ein besonders hohes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.

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Ein Tropf, über den ein Patient im Krankenhaus gerade ein Antibiotikum intravenös verabreicht bekommt.

Seit zehn Jahren leidet die 71-Jährige an einer Leukämie. Anfang März wird sie wegen Blutarmut ins Krankenhaus eingeliefert. Dort stellt sich bei einem Routine-Screening heraus, dass sich die US-Amerikanerin, die im Bundesstaat Washington lebt, mit dem neuen Coronavirus angesteckt hat. Symptome hat sie nicht. Eine Untersuchung des Brustkorbes mit Hilfe der Computer-Tomografie ist und bleibt unauffällig, die Lunge ist nicht belastet. Nach dem ersten positiven Virustest am 2. März, fällt das Ergebnis des Abstriches insgesamt 15 Wochen lang bis Mitte Juni immer wieder positiv aus.

Die ganze Zeit über geht es der Frau gut, sie hat kein Fieber und keinen Husten. Über 70 Tage muss sie jedoch isoliert leben, weil sie infektiöses Virus ausscheidet, über die sich andere anstecken könnten. „Dieser Fall ist bisher einzigartig“, sagt Vincent Munster, Virologe am US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases. Dabei bezieht er sich auf die lange Zeitspanne, in der die Patientin zwar aktiv mit Sars-CoV-2 infiziert ist, aber vollkommen ohne Symptome bleibt.

Covid-19 bei immungeschwächten Menschen

Das Virus breitet sich immer stärker in der Gesellschaft aus und natürlich erreicht es dabei auch Menschen, deren Körperabwehr wegen eines angeborenen Immundefektes, einer Erkrankung oder wegen der Medikamente, die sie einnehmen müssen, stark geschwächt ist. Allein in den USA gibt es schätzungsweise drei Millionen Frauen und Männer, deren Abwehr aus irgendeinem Grund nur eingeschränkt funktioniert – sei es, weil sie mit dem HI-Virus infiziert, Empfänger von Organ- oder Stammzellspenden sind oder eine Chemotherapie bekommen. „Es ist wichtig zu verstehen, wie sich das Virus in diesen Bevölkerungsgruppen verhält“, sagt Vincent Munster.

ÄrztInnen und ForscherInnen veröffentlichen seit Beginn der Pandemie immer wieder Einzelfallschilderungen von Betroffenen. Menschen mit einer Immunschwäche haben ein erhöhtes Risiko für schwere Covid-19-Verläufe und auch die Sterberate ist erhöht. Doch Covid-19 verläuft auch in dieser besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppe nicht immer schwerer als bei Immungesunden. Ebenso trifft die anfängliche Annahme nicht für alle PatientInnen zu, ein geschwächtes Immunsystem würde den Krankheitsverlauf sogar abmildern, weil es seltener überreagiere und ein Zytokin-Sturm daher unwahrscheinlich werde.

Der Fall der 71-jährigen US-Amerikanerin ist besonders. Sie leidet an einer „Chronisch lymphatischen Leukämie“ (CLL), bei der sich eine Gruppe der weißen Blutkörperchen, die B-Lymphozyten, unkontrolliert vermehrt. Ihre Immunabwehr kann wegen der Erkrankung keine oder so gut wie keine Antikörper als Antwort auf eine Infektion oder Impfung herstellen. Im Rahmen ihres normalen Therapieplans erhält die Frau sonst alle vier bis sechs Wochen Immunglobulin-Präparate (das sind hochdosierte Antikörper-Gaben, die aus Spenderblut gewonnen werden).

Während der Infektion mit Sars-CoV-2 wurde die 71-Jährige zweimal mit dem Blutplasma von Menschen behandelt, die eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben. Vincent Munster geht jedoch davon aus, dieses Rekonvaleszenten-Plasma habe keine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass die Frau das Virus nach den vielen Wochen dann doch wieder los wurde. Die Menge an Antikörpern im gespendeten Plasma, die sich gegen Sars-CoV-2 richteten, sei zu gering gewesen. Welche Abwehrmechanismen das Virus dann letztlich aus ihrem Körper hinausbeförderten, oder warum sich das Virus nicht weiter vermehrte, ist unbekannt.

Lange infektiös, aber lange nicht ohne Symptome, ging dagegen eine Sars-CoV-2-Infektion bei 20 PatientInnen aus, die sich zur Behandlung eines Multiplen Myeloms, eines Lymphoms oder einer Leukämie in der Icahn School of Medicine in New York aufgehalten hatten. 11 Betroffene erkrankten schwer, vier starben. Drei PatientInnen, die eine Stammzelltransplantation bzw. eine CAR-T-Zelltherapie erhalten hatten, setzten bis zwei Monate lang infektiöses Virus frei. Auch diese Männer und Frauen können wegen der Immunschwächung keine Antikörperantwort gegen einen viralen Eindringling in Gang bringen. Bei immungesunden Menschen mit leichter bis moderater Erkrankung gehe die Ansteckungsfähigkeit nach rund zehn Tagen deutlich zurück, schreibt das Ärzteblatt. Immunsupprimierte Patienten dagegen können das Virus deutlich länger weitergeben.

Dänische Ärzte berichteten im Juli 2020 über den Fall eines Mannes in den 50ern, der vor zwei Jahren an einer Leukämie erkrankt war. Dank Chemotherapie war der Krebs gewichen, dem Mann ging es gut, er arbeitete wieder. Drei Monate nach Ende der Tumortherapie bekommt der Däne Fieber, Muskelschmerzen, Geruchs- und Geschmackssinn gehen verloren, die PCR auf Sars-CoV-2 ist positiv. Das Fieber steigt, der Mann hat eine schwere Lungenentzündung. 24 Tage nach Einsetzen der ersten Symptome bekommt er 10 Tage lang das antivirale Medikament Remdesivir. Der Wirkstoff, der eigentlich zur Therapie von Hepatitits-C entwickelt wurde, kann die Vemehrung von Sars-CoV-2 in Zellkulturen blockieren. In der Klinik bei der Therapie von Covid-19 überzeugte Remdesivir bisher nicht. Bei immungeschwächten Menschen jedoch zeigt das Medikament eher eine Wirkung.

Dem Dänen, der Remdesivir bekam, geht es nach der Behandlung deutlich besser. Das Fieber sinkt, die Lungenentzündung geht deutlich zurück. Nur wenige Tage nach dem Absetzen des Medikamentes kehren die Krankheit, die Atemnot, das Fieber jedoch zurück.

45 Tage nach Krankheitsbeginn bekommt der Mann erneut eine Remdesivir-Therapie. Doch kurz nach Therapieende ist die PCR positiv, das Virus wieder da. Dieses Mal hat der Mann jedoch keine Atemnot und braucht keinen zusätzlichen Sauerstoff. Offenbar hemme Remdesivir die Virusvermehrung zwar, die Infektion des Patienten komplett beenden könne die Arznei jedoch nicht, schreiben die Ärzte aus Kopenhagen. Durch die Leukämie, an der der Mann leidet, können auch seine B-Zellen keine Antikörper herstellen, die Immunabwehr insgesamt funktioniert fehlerhaft.

Selbst acht Wochen nach der Ansteckung hat der Patient noch keine Antikörper gegen das Virus im Blut. Weil gerade kein Remdesivir verfügbar ist, bekommt der Patient bei seinem erneuten Aufenthalt im Krankenhaus (Tag 58) schließlich zwei Infusionen mit Plasma von Blutspendern, die eine Covid-19-Erkrankung überstanden haben. Zwei Tage später ist er fieberfrei, die Entzündungswerte im Blut sinken. Wieder fünf Tage später kann der Mann nach Hause. Ob die Genesung spontan geschah, oder ob das gespendete Plasma einen entscheidenden Einfluss hatte, ist unbekannt.

Transplantiert und infiziert

Menschen, die mit einem gespendeten Organ leben, sind besonders anfällig für Infektionen, da sie immunschwächende Medikamente einnehmen müssen. Sie verhindern, dass die Immunabwehr das als „fremd“ erkannte Organ angreift und abstößt. Die Anfälligkeit gilt auch für Atemwegsinfekte zum Beispiel durch die Coronaviren, die schon seit längerem in der menschlichen Population zirkulieren und eigentlich nur harmlose Erkältungen verursachen. Bei Transplantierten können diese bekannten Coronaviren jedoch nicht nur die oberen, sondern auch die unteren Atemwege befallen.

Claudius Speer und seine KollegInnen am Universitätsklinikum Heidelberg stellen in einer aktuellen Preprint Studie vier Menschen vor, die mit einer gespendeten Niere leben und sich mit Sars-CoV-2 angesteckt haben. Darunter eine 56-jährige Frau, die seit gut zwei Jahren mit einer Spenderniere lebt. Die Frau kommt mit Fieber und Husten ins Krankenhaus, wo sie positiv auf Sars-CoV-2 getestet wird. Außer einem Bluthochdruck hat sie keine weiteren Erkrankungen.

Damit die gespendete Niere nicht abgestoßen wird, muss die Patientin regelmäßig immununterdrückende Medikamente wie Cyclosporin A, Prednisolon und Mycophenolat einnehmen. Die ersten beiden Arzneistoffe erhält sie auch während der Covid-19-Erkrankung weiter, das Mycophenolat, das T- und B-Lymphozyten hemmt, setzen die Ärzte dagegen während des Krankenhausaufenthaltes ab. Der Frau geht es gut, obwohl sich die Nierenleistung vorübergehend verschlechtert. Nach sieben Tagen kann die Frau in guter körperlicher Verfassung wieder nach Hause.

Leider ergeht es nicht allen vier Transplantierten wie der 56-Jährigen. Zwei Männer erleiden einen schweren Verlauf, ein 64-jähriger Patient muss beatmet werden. Doch alle überleben. Alle entwickeln trotz Immunsuppression innerhalb von zwei bis drei Wochen eine robuste Immunantwort mit Antikörpern, die das Virus neutralisieren. Nach spätestens sechs Wochen ist das Virus bei allen verschwunden und sie können das Krankenhaus verlassen.

Die größte Herausforderung bei der Behandlung von Transplantierten, die mit Sars-CoV-2 infiziert sind, sei, in welcher Form die notwendige Immunsuppression aufrechterhalten werden könne, schreibt Umberto Maggiore vom Universitätshospital im italienischen Parma. Verschiedene Wege seien bisher beschritten worden, so der italienische Chirurg: in einigen Fällen sei die Medikamentengabe nicht oder nur minimal verändert worden; in anderen Situationen habe man die Immunsuppression fast komplett gestoppt, nur Glucocorticoide (ebenfalls immunhemmend), seien weiter – häufig sogar in erhöhter Dosis – verabreicht worden. Die meisten zurzeit verfügbaren Immunhemmer zielten auf die T-Zellen ab, die Hauptkomponente der Immunabwehr, die für die Beseitigung der Viren, der virusinfizierten Zellen, verantwortlich sei, schreibt Maggiore.

Wie wirkt sich die Immunschwächung auf den Krankheitsverlauf aus?

Haben Transplantatempfänger oder Personen mit einem stark geschwächten Immunsystem generell einen anderen Covid-19-Verlauf als Immungesunde? Erste Studien dokumentierten eine hohe Sterblichkeit (16 bis 20%) bei Covid-19 Patienten, die mit einem gespendeten Organ leben. Gleichzeitig gab es Berichte über Betroffene, die die Krankheit ähnlich gut oder sogar besser überstanden, als Menschen, die kein Immunsuppressivum einnehmen müssen. Kann die medikamentöse Schwächung der Körperabwehr, die das Transplantat vor einer Abstoßung schützen soll, möglicherweise auch verhindern, dass die Immunabwehr bei der Auseinandersetzung mit Sars-CoV-2 überreagiert und so einem Zytokinsturm entgegensteuern?

Scheinbar nicht. Forscher der University Arkansas veröffentlichten im November eine Studienanalyse, die über 30.500 Covid-19-Patienten einbezog. 288 davon lebten oder leben mit einem transplantierten Organ. Laut den Ergebnissen steigert die Transplantation das Risiko für eine Krankenhauseinlieferung nach einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 deutlich: 37% der Transplantierten mussten eingeliefert werden, gegenüber 12% der anderen. Künstlich beatmet werden mussten 7,9% gegenüber 2%; nach 30 Tagen waren 11,1% der Transplantierten und 3,8% der anderen Covid-19-Patienten verstorben.

Allerdings: welche Rolle die Immunsuppression für diesen heftigeren Verlauf spielt, zeigen auch diese Zahlen nicht. Denn im Durchschnitt waren die Transplantierten rund acht Jahre älter und hatten deutlich mehr zusätzliche Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht/Fettleibigkeit. Allesamt Zustände, die bekannte Risikofaktoren für schwere Verläufe von Covid-19 sind.

Bei langer Infektionsdauer: Virus verändert sich

Eine Immunschwächung kann – muss aber nicht – einen schweren Covid-19 Verlauf begünstigen. Die meisten immungeschwächten Patienten könnten Sars-CoV-2 effektiv beseitigen, schreiben Bina Choi und ihre KollegInnen vom Brigham and Women’s Hospital in Boston. Das Ärzte-Team beschreibt den Krankheitsverlauf eines Mannes, der an einer Autoimmunerkrankung litt und deswegen ein Immunsuppressivum einnehmen musste. Dabei machen die Bostoner MedizinerInnen auf eine weitere Besonderheit bei der Infektion eines immungeschwächten Menschen mit Sars-CoV-2 aufmerksam. Wenn sich das Virus besonders lange in einem Wirtsorganismus aufhält, weil die Immunabwehr es nicht rasch beseitigen kann, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Virus genetisch verändert.

Der 45-Jährige litt an einem „Antiphospholipid-Syndrom“, bei dem die Immunabwehr fälschlicherweise Antikörper gegen eigene Fett-Protein-Komplexe auf Thrombozyten herstellt. Um die Immunantwort zu dämpfen, musste der Mann ein Immunsuppressivum einnehmen und wegen erhöhter Thrombose-Gefahr zusätzliche Gerinnungshemmer. Nach einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 wird der Mann für fünf Monate immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert, weil das Virus trotz der Therapie mit Remdesivir (die jedesmal gut anschlägt) und der Gabe therapeutischer Antikörper immer wieder zurückkommt.

Sieben Tage nach der letzten Hospitaleinweisung muss der Mann künstlich beatmet werden und stirbt vier Tage später. Eine Analyse der Viren, die die Ärzte in den verschiedenen Phasen der Erkrankung im Körper des Mannes fanden, zeigt, dass sich das Virus im Laufe der Zeit veränderte. Mutationen gab es vor allem im Spike-Protein und dort in genau dem Bereich, über den sich das Virus an die menschliche Körperzelle anlagert. Welche Bedeutung diese Veränderungen auf die Eigenschaften des Virus und die Passgenauigkeit bereits gebildeter Antikörper haben, weiß man noch nicht.

Quellen:

Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden über die Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung gefördert.

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