- RiffReporter /
- Wissen /
Susan Sontag: Die zeitlose Stimme der Kulturkritik - Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn
Susan Sontag – Eine intellektuelle Ikone in der Bundeskunsthalle in Bonn
Ein Gespräch mit der Kuratorin Kristina Jaspers zur Ausstellung „Susan Sontag. Sehen und gesehen werden“.

Mit drei Jahren konnte sie bereits lesen – ein früher Ausdruck ihrer außergewöhnlichen Neugier, die sie ein Leben lang begleiten sollte. Susan Sontag schlug eine vielversprechende akademische Laufbahn aus, um in New York als Intellektuelle zu leben und die Kultur unserer Zeit wie kaum eine andere zu prägen. Ihr Interesse kannte keine Grenzen: Sie schrieb Romane, philosophierte über Krankheit, analysierte die Ästhetik des Camp (eine ästhetische Sensibilität, die Übertreibung, Künstlichkeit und Ironie feiert, oft mit einer Vorliebe für das Theatralische und das bewusst Geschmacklose) und hinterfragte die Macht der Bilder in ihrem bis heute einflussreichen Werk „Über Fotografie“. Ihre Tagebücher, Listen und Briefe offenbaren einen ruhelosen Geist, der sich nie mit einfachen Antworten zufriedengab – und inspirieren noch immer. Als Intellektuelle in der Öffentlichkeit und moralische Instanz stellte sie sich der Welt mit wachem Blick entgegen. Ihr eigenes Leben betrachtete sie als Experiment, getrieben von ihrem Motto: mehr hören, mehr sehen, mehr fühlen.
Riffreporter: Warum ist Susan Sontag heute noch relevant?
Kristina Jaspers: Schon in den 70ern erkannte sie den prägenden Einfluss von Bildern auf unser Weltbild – ihre Texte wirken heute fast vorausschauend, angesichts der Bilderflut in sozialen Medien. Sie beschrieb, wie manche Ereignisse nur für die Kamera inszeniert werden, etwa eine Erschießung im Vietnamkrieg, die ihrer Meinung nach für Fotograf:innen gestellt wurde. Dieses Phänomen ist in der heutigen Social-Media-Welt allgegenwärtig. Früh prägte sie auch den Begriff einer „Ökologie der Bilder“ – eine bewusste Reduzierung der Bilderflut. Sie kritisierte touristisches Fotografieren als bloße Beglaubigung des Erlebten: „Ich war dort, ich habe es gesehen.“ Doch oft verhindert das Fotografieren das eigentliche Erleben. Schon damals warnte sie davor, dass die Kamera zur Barriere zwischen Mensch und Realität wird – eine Beobachtung, die aktueller nicht sein könnte.

„Das Problem ist nicht, dass die Leute sich an ein Ereignis erinnern mithilfe von Fotos. Das Problem ist, dass sie sich nur an die Fotos erinnern.“
Susan Sontag
Riffreporter: Welches war das wichtigste Werk von Susan Sontag?
Kristina Jaspers: Man könnte sagen, ihr Leben war ihr wichtigstes Werk – ein fortwährendes Experiment. Sie reflektierte sich ständig, führte Listen in ihren Tagebüchern darüber, was sie lernen oder verändern wollte, und setzte sich bewusst neuen Situationen aus. Reisen, Begegnungen und kontinuierliche Entwicklung waren essenziell für sie. Von ihren Büchern halte ich „Krankheit als Metapher“ für besonders bedeutend. Darin analysiert sie die oft martialische Sprache rund um Krankheiten – etwa die Vorstellung, Krebs „bekämpfen“ zu müssen – und zeigt, wie solche Metaphern Patient:innen zusätzlich belasten. Ihre Analyse hat bis heute nichts an Relevanz verloren. Ebenso wichtig ist „Regarding the Pain of Others“, ihr letztes Werk. In den 70ern kritisierte sie Fotografie dafür, dass sie Betrachter abstumpfen lasse, besonders bei Kriegs- und Leidensbildern. Anfang der 2000er differenziert sie diese Sicht: Solche Bilder könnten uns auch aufrütteln und zum politischen Handeln bewegen. Sie lehnt Mitleid ab, da es bestehende Ungleichheiten zementiert – stattdessen fordert sie ein Bewusstsein, das zu echter Veränderung führt.
Riffreporter: Was würde denn Susan Sonntag heute zur KI generierten Bilder sagen?
Kristina Jaspers: Man kann nur spekulieren, aber Susan Sontag hat sich intensiv mit Fake und Retusche in der Fotografie beschäftigt – eine Praxis, die es seit Beginn des Mediums gibt. Früher galt ein Bild erst als vollendet, wenn es retuschiert war. Besonders in der Kriegsfotografie sind viele Bilder gestellt oder bearbeitet. Sontag fand das nicht grundsätzlich problematisch, sondern betonte die Notwendigkeit eines kritischen Bewusstseins dafür. Sie war stets neugierig und offen für neue Ausdrucksformen. Wahrscheinlich hätte sie sich auch KI-generierte Bilder genau angesehen – weniger, um sie zu verdammen, sondern um zu verstehen, was sie mit uns machen und welche künstlerischen Möglichkeiten sie bieten.
Riffreporter: Warum, glauben Sie, ist es für einen Fotografen wichtig, sich mit Susan Sontag heute zu beschäftigen?
Kristina Jaspers: Susan Sontags Texte sind für Fotograf:innen nach wie vor relevant, weil sie das Machtverhältnis zwischen fotografiertem Objekt und Fotograf:in hinterfragt. Sie beschreibt Fotografie als einen „aggressiven Akt der Aneignung“ und fragt, wie sich diese Hierarchie durchbrechen lässt, um Begegnungen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Auch Fragen nach Bildausschnitt, Rahmung und Bildlegenden betrachtet sie aus einem moralischen Blickwinkel. Sich mit ihren Analysen auseinanderzusetzen, hilft, eine eigene reflektierte Haltung zur Fotografie zu entwickeln.

Riffreporter: Gibt es eine Susan Sontag der Gegenwart?
Kristina Jaspers: Wir vermissen eine Stimme wie Susan Sontags. Ihr langes Leben (1933–2004, Anm. d. Red.) und ihr direktes Erleben historischer Umbrüche – von Vietnam bis Sarajevo, wo sie sogar ein Theaterstück inszenierte – verliehen ihr eine einzigartige Autorität. Sie war ein moralisches Gewissen, glaubwürdig, mutig und bereit, zu provozieren. Heute, in einer zersplitterten Medienlandschaft, fehlt eine solche Figur. Früher erreichten ihre Texte eine breite, internationale Öffentlichkeit. In Zeiten von Social Media ist das viel schwieriger geworden.
„In der Literatur ist die Wahrheit etwas, dessen Gegenteil ebenfalls wahr ist. Ich glaube nicht, dass die Kamera lügt. Das ist eine Wahrheit.“
Susan Sontag
Riffreporter: Hat Susan Sonntag die kulturellen Standards festgelegt, die wir heute haben? Sie liebte ja Listen …
Kristina Jaspers: Sie war eine regelrechte Listen-Fanatikerin. Sie notierte, was sie an sich ändern, lesen oder sehen wollte, erstellte Kanon-Listen – und brach sie wieder. Diese Listen gaben ihr Struktur, wie es viele Künstler:innen brauchen, um ihre Gedanken zu ordnen. Gleichzeitig wirkten sie wie Collagen: Nicht bloße Aufzählungen, sondern dynamische Zusammensetzungen, in denen die Elemente in Spannung zueinander standen. Man könnte sagen, ihre Listen waren eine künstlerische oder sogar kuratorische Praxis.

Riffreporter: Wenn jemand heute wie Susan Sontag werden will, egal ob Mann oder Frau, wo sollte die Person anfangen?
Kristina Jaspers: In ihrem Tagebuch schrieb Sie: „Mehr Sehen, mehr Hören, mehr Fühlen!“ – ein Aufruf, das Leben intensiv zu erleben. Sie hielt nichts davon, sich nur in Bücher zu vertiefen, sondern suchte den direkten Kontakt zur Welt. Für sie waren Lesen und Reisen zwei Seiten derselben Erfahrung: mentale und reale Reisen, die den Horizont erweitern. Sontag war extrem belesen und akademisch brillant – sie übersprang zwei Klassen und war eine der jüngsten Dozentinnen der USA. Doch ihr Antrieb war die Neugier, Grenzen zu überschreiten. Sie lehnte eine strikte Trennung zwischen Hoch- und Popkultur ab und erkannte früh Filme als Kunstform an. Wer sich in den „Sontag-Modus“ versetzen will, braucht genau diese Offenheit.
„Der Tod ist das Gegenteil von allem.“
Susan Sontag