Die armen Menschen in Deutschland werden immer ärmer, aber niemand interessiert sich für sie

Armut ist keine Seltenheit. 13 Millionen Menschen in Deutschland können nicht im ausreichenden Maß am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sie werden ausgegrenzt, sehen sich Vorurteilen gegenüber und verlieren den Anschluss. Unsere konsumorientierte Gesellschaft interessiert sich oft nicht dafür. Ein Kommentar.

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Ein Mann sucht in einer Mülltonne nach Essbarem.

Armut ist in Deutschland keine Randerscheinung. 15,5 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Das sind 13 Millionen Menschen. Und entgegen allen Beteuerungen, sich um arme Menschen kümmern zu wollen, entwickelt sich ein anderer Trend: Die Armen werden immer ärmer, die Reichen reicher.

Diese Fakten aus dem Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes sollten uns alarmieren. Aber sie entfalten keine nachhaltige Wirkung. „Für ein reiches Land wie Deutschland bewegt sich die Armut insgesamt auf einem viel zu hohem Niveau“, heißt es im Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes, der ein gewaltiges Sprachrohr sein könnte, weil er mehr als 10.000 Vereine, Organisationen, Einrichtungen und Initiativen unter seinem Dach versammelt. Die AutorInnen haben den Titel ihrer Studie auf eine griffige Formel verdichtet: „Verschärfung der Armut“.

Dieser Titel ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit.

Doch wenn fast jeder sechste Mensch in Deutschland in Armut lebt, sorgt das nur einen Tag für Schlagzeilen. Danach lässt das Interesse merklich nach. 13 Millionen arme Menschen, deren Kaufkraft seit 2020 deutlich abgenommen hat, sind kein Thema für eine der unzähligen, reichweitenstarken TV-Talkshows. Darin liegt die Crux der ärmeren Menschen: Sie sind niemandes Zielgruppe, uninteressant für Medien und Marketing, weil ihnen Kaufkraft fehlt und damit ihre Bedürfnisse an Bedeutung verlieren.

Koalitionsvertrag lässt arme Menschen allein

Dieses Desinteresse findet sich auch im Koalitionsvertrag wieder. Er beschäftigt sich mit der Ernährungsarmut im globalen Süden und in Europa, aber nicht mit der Situation in Deutschland. Zumindest an zwei Stellen im Koalitionsvertrag werden die Chancen der armutsgefährdeten Kinder erwähnt, die verbessert werden sollen. Immerhin, wenigstens gute Absichten für die 2,1 Millionen armutsgefährdeten Kinder und Jugendlichen. Anders formuliert: Die übrigen elf Millionen armen Menschen wissen, dass sie nicht viel zu erwarten haben.

Dass Armut in Deutschland keinen Stellenwert hat, liegt womöglich am Begriff. Viele Menschen verknüpfen den Begriff eher mit dem, was global als absolute Armut bezeichnet wird: mit Hunger und Durst, mit dem Bild abgemagerter Menschen im täglichen Kampf ums Überleben. Deutschlands Armen geht es besser als den etwa 740 Millionen Menschen, die täglich hungern. Aber sie sind trotzdem arm, denn sie sind stark eingeschränkt gegenüber der finanziell besser gestellten Mehrheit der Gesellschaft.

relative Armut bedeutet erhebliche Einschränkungen

Die Armutszahlen in Deutschland werden als relative Armut ermittelt. Sie beziehen sich immer auf das, was andere haben. Die Wissenschaft hat einen Weg gefunden, diesen Durchschnitt bundesweit zu ermitteln. Sie kann das Einkommen durch Arbeit und anderen Quellen berechnen, das gerade in der Mitte liegt, den Median. Die eine Hälfte der Bevölkerung hat mehr als den Median, die andere Hälfte weniger. Menschen sind in diesem Sinne arm, wenn sie über weniger als 60 Prozent dieses Median-Einkommens verfügen. Die Armutsschwelle in der paritätischen Studie liegt bei 1381 Euro pro Monat, die meisten armen Menschen haben aber deutlich weniger Geld zur Verfügung: Das mittlere Monatseinkommen der einkommensarmen Menschen wird für 2024 mit 1099 EUR berechnet. 5,2 Millionen Personen müssen in erheblicher materieller Entbehrung leben.

Dieses geringe Budget schließt die Menschen vom gewöhnlichen Alltag anderer Menschen aus. Ein Cappuccino oder ein Aperol im gemütlichen Café oder Restaurantbesuch werden zum absoluten Luxus. Wenn die Koalition die Mehrwertsteuer in der Gastronomie senkt, profitieren davon nur reichere Menschen – denn die Ärmeren gehen nicht essen. Wollte man etwas gegen Armut tun, könnte man stattdessen die Mehrwertsteuer für gesunde Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder Brotdrastisch senken. Verbände fordern das seit langem, damit alle Menschen in der Gesellschaft entlastet werden.

Ärmere Menschen werden ausgegrenzt

So bleibt es, wie es immer war: Das Leben in relativer Armut konfrontiert die Betroffenen tagtäglich mit ihrer unbefriedigenden Situation, sie erleben das ständige Nein-Sagen-Müssen. Weil es der Geldbeutel nicht hergibt, gibt es keine Kugel Eis an den ersten Sommertagen, keine Verabredung mit KollegInnen, und erst recht keinen Konzertbesuch. Das Kind kann nicht mit auf den Schul- oder Vereinsausflug, weil erwartet wird, dass es für Essen ein üppiges Taschengeld mitnimmt. Stattdessen entwickeln ärmere Menschen Routine für ausgedachte Entschuldigungen. Noch schlimmer sind plötzlich fällig werdende Großausgaben, weil das Handy defekt ist, das Deutschlandticket plötzlich deutlich im Preis steigt oder das Kind einen Führerschein machen soll.

Der mangelnde Konsum grenzt die Menschen sogar aus vermeintlich einfachen Small-Talk-Gesprächen aus: „Warst Du da schon? Nein?, da musst du unbedingt hin“. Die Frage nach dem nächsten oder letzten Urlaub kann zur Peinlichkeit geraten. Menschen, die nur zwei Paar heile Schuhe besitzen und kaum Geld, um abgetragene Kleidung zu ersetzen, wundern sich zuweilen, wenn andere Menschen stolz erklären, dass sie sich nun gegen die Umweltgefahr durch „Fast-Fashion“ wehren. Beispiele wie diese lassen sich beliebig austauschen. Sie dokumentieren, wie wenig die Mehrheit der Gesellschaft über das Leben in relativer Armut weiß. Oder sie sind schlicht Zeichen von Respektlosigkeit und mangelnde Empathie.

Respektlose Ratschläge helfen niemanden

Respektlosigkeit zeigt sich oft in vermeintlichen Ratschlägen von Besserverdienenden. Essen und Armut sind ein Dauerthema der Politik, die gern erklärt, wie man sich billig und gesund ernähren kann und deshalb mit einem niedrigen Regelsatz im Bürgergeld auskommt. So empfiehlt die Techniker Krankenkasse Linsen, Bohnen und Kichererbsen als vielseitige Beilage und auch als Hauptgericht. Über andere Tipps können arme Menschen nur lachen, weil sie sie schon längst praktizieren: Preise vergleichen, auf Angebote achten, selber kochen statt auswärts essen. Und (besonders dreist): nicht zu viel einkaufen, damit Lebensmittel im Kühlschrank nicht schlecht werden.

Wir müssen viel mehr darüber sprechen, was Leben in Armut in Deutschland bedeutet. Das gehört auch, mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen. Nämlich, dass es sich bei armen Menschen vor allem um Alleinerziehende, Erwerbslose, MigrantInnen oder Menschen mit schlechter Ausbildung handeln würde. „Diese Gruppen sind zwar in besonderem Maße von Armut bedroht, aber sie sind nicht die quantitativ größten Armutsgruppen“, heißt es in der Studie des Paritätischen Gesamtverbands. Rund 63 Prozent aller Armutsbetroffenen haben ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau. Fast ein Viertel ist erwerbstätig und trotzdem arm, lediglich 12,7 Prozent sind arbeitslos. Altersarmut ist ein Problem in Deutschland. Armut betrifft Menschen, die Angehörige pflegen in Elternzeit sind, schlechte bezahlte Ausbildungen machen oder studieren. In den bisher genannten Zahlen werden Wohnungslose und Menschen in Pflegeeinrichtungen übrigens nicht gezählt.

Viele Personen verzichten auf Hilfe

Das Verständnis des reicheren Teils der Gesellschaft für ärmere Menschen muss besser werden, und die Hilfe der Situation angepasst und menschenwürdig sein. Forschende haben für den neuen Armutsbericht der Bundesregierung Betroffenen gesprochen, die freiwillig auf staatliche Leistungen wie Bürgergeld oder Wohngeld verzichten. Das sind nach Ansicht von Armutsforscher Christoph Butterwegge mehrere Hundertausend. Die einen begründen den Verzicht mit dem Aufwand für Anträge, die oft zu kompliziert sind, oder den zum Teil demütigenden Erfahrungen bei Behörden. Die anderen haben ein geringes Anrechtsempfinden und Stolz. Sie wollen erst einmal sehen, ob sie nicht doch allein klarkommen.

Höchste Zeit, Menschen mit wenig Geld mehr Respekt zukommen zu lassen.

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