Erntedank neu denken: Wie viel ist uns unser Essen wert?

Erntedank? Fällt diesmal aus. Wie wir unser Essen mehr wertschätzen können – und was Landwirte und Politik jetzt tun müssen. Ein Kommentar.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
5 Minuten
Nahaufnahme eines Korbs mit vielen verschiedenen frischen, rohen Bio-Gemüsesorten in den Händen einer Bäuerin im Spätsommer. Ein Natur-Gemüsegarten unscharf im Hintergrund.

Früher gehörte die Sorge um die Ernte zum Leben dazu. In unserer Wohlstandsgesellschaft war in den vergangenen Jahrzehnten wenig davon zu spüren. Das hat sich geändert: Spätfröste im April, Starkregen und Hochwasser im Juni, weiteres Extremwetter folgte. Kein Wunder also, dass dieses Jahr die Erntebilanz in Deutschland überwiegend ernüchternd ausfiel: das Getreide mickrig, die Erdbeeren verfault, der Wein erfroren. Der Erntedank wird dieses Jahr vermutlich nicht jedem so leicht über die Lippen kommen.

Die Bäuerinnen und Bauern ernteten dieses Jahr 39,3 Millionen Tonnen Getreide, im Vorjahr waren es noch rund 42 Millionen Tonnen. „Sowohl die Erntemengen als auch zum Teil die Qualitäten haben in einigen Regionen unter den wiederkehrenden und zum Teil sehr starken Niederschlägen massiv gelitten“, schreibt der Deutsche Bauernverband (DBV) in seiner Erntebilanz und beklagt „die deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels“.

Pflanzen liefern wertvolle und klimaschonende Proteine

Dass der Bauernverband diese Aussage über den Klimawandel trifft, ist wichtig. Richtig ist aber auch, dass der Verband unter seinem Präsidenten Joachim Rukwied dagegen ist, die Tierbestände zu verringern. Doch gerade der Fleischkonsum und die Produktion anderer tierischer Nahrungsmittel heizt die Erderwärmung an.

„Wir Menschen brauchen tierisches Eiweiß für eine gesunde Ernährung“, sagte Rukwied 2023 in einem Interview im Tagesspiegel. Dabei stimmt das nicht. Proteine können wir ebenso gut über pflanzliche und damit klimaschonende Nahrungsmittel zu uns nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, nicht mehr als 300 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche zu verzehren.

Der Fleisch- und Wurstverbrauch in Deutschland liegt aktuell bei durchschnittlich 1000 Gramm pro Woche und Kopf – das ist mehr als das Dreifache. „Zu viel Fleisch von Rind, Schwein, Lamm und Ziege und insbesondere Wurst erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Dickdarmkrebs“, warnt die DGE vor den gesundheitlichen Folgen der dauerhaften Wurst-Völlerei.

Bauernverband mit Drohgebärden

Von seiner fleischlastigen Position will der Deutsche Bauernverband anscheinend nicht abrücken. In einer Stellungnahme zur Änderung des Klimaschutzgesetzes im Mai 2021 lehnte er ab, überhaupt Ziele zur Reduktion von Treibhausgasen im Sektor Landwirtschaft festzulegen. Das sei „aufgrund der besonderen Rolle des landwirtschaftlichen Sektors nicht sachgerecht“. Und: Noch schärfere Ziele würden die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährden. Mehr Drohkulisse geht fast nicht.

Doch auch die Landwirtschaft in Deutschland trägt dem Umweltbundesamt zufolge „maßgeblich zur Emission klimaschädlicher Gase bei“. Besonders klimaschädlich sind laut Umweltbundesamt Methan- und Lachgas-Emissionen. Diese entstehen vor allem in Verbindung mit der Tierhaltung. Nun: Das Klima schert sich weder um markige Worte von Verbandspräsidenten noch darum, dass einige Politiker an alten Technologien - Stichwort: Verbrennermotor - festhalten wollen.

Politik spielt auf Zeit – die wir nicht haben

Es ist Zeit, Erntedank neu zu denken. Das heißt auch: Die Politik muss an ihren Auftrag erinnert werden, unsere Lebensgrundlagen zu sichern. Sie kann jetzt die Rahmenbedingungen setzen, um die Transformation zu beschleunigen.

Zu oft lässt sich die Politik von den Lobbyisten der Autoindustrie, aber auch der Agrarunternehmen vor sich hertreiben. Nach andauernden Bauernprotesten Anfang des Jahres etwa zog EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die geplante Pestizid-Verordnung (SUR) zurück.

Ein verheerendes Signal, da Pestizide der Artenvielfalt schaden – die andere große Katastrophe neben der Klimakrise, die die Landwirtschaft zudem erheblich mitverursacht. Ein aktueller Bericht zeigt, wie schlecht es um sie in Deutschland steht. Der Faktencheck Artenvielfalt zeichnet ein beunruhigendes Bild davon, wie die Menschen in Deutschland mit dem umgehen, was nicht umsonst „natürliche Lebensgrundlagen“ heißt.

Landwirt:innen sind Teil der Lösung

„Wir Bauern wissen, dass sich etwas ändern muss“, sagt auch Claudia Gerster aus dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL) in einem Interview mit RiffReporterund kritisiert die verschleppte Agrarwende.

Es hilft, sich radikal mit den Realitäten zu beschäftigen. Ja, Bäuerinnen und Bauern sind stark vom Klimawandel betroffen, aber auch Teil des Problems. Sie sind aber, und das ist die gute Nachricht, auch Teil der Lösung!

Selbst wenn sich nicht alle klimabedingten Ernteausfälle verhindern lassen: Landwirte sind es, die robuste Sorten entwickeln, die wechselnde Fruchtfolgen setzen oder veränderte Anbaumethoden nutzen, um ihre – und unsere – Ernten zu sichern.

Gerade Erntedank erinnert daran, dass unsere Nahrung nicht selbstverständlich ist. Alles, was wir essen, ist durch viele Hände gegangen. Bevor das Gemüse in unserem Einkaufskorb landet, haben es Landwirtinnen und Landwirte gesät, gepflegt und geerntet. Und sie schaffen mehr als „nur“ unser Essen zu produzieren. Die kleinbäuerlichen Betriebe schützen auch die Umwelt und unseren Lebensraum – und damit unsere Gesundheit.

Erntedank neu denken

Doch Konsument:innen kämpfen sichtbar mit gestiegenen Preisen. Viele meiden nun Hof- und Bioläden und gehen öfter oder gar ausschließlich zum Discounter. Ist das die richtige Antwort? Mitnichten!

Preisfallen und Angebote in Discountern und Supermärkten verleiten in der Regel dazu, mehr zu kaufen als nötig. Hier noch ein Sticker-Album oder da noch das 101. Deko-Teil für die Wohnung – und die erhoffte Ersparnis ist futsch.

Beim bäuerlichen Direktvertrieb sind die Regeln klar und ehrlich. Hier spielen die Jahreszeiten die Hauptrolle: Gemüse und Früchte, die Saison haben und in der Region heimisch sind, sind preislich häufig günstiger. Wir alle können – so oft es geht – die Landwirte unterstützen, indem wir direkt bei ihnen einkaufen.

„Die Ökologisierung einer ökonomisch ertragsstarken Landwirtschaft am Gunststandort Deutschland hat ihren Preis. Sie zu unterlassen ist teurer. Sehr viel teurer – für die Landwirtschaft, für die Volkswirtschaft und für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft auch in Zukunft“, resümierte schon die Zukunftskommission Landwirtschaft 2021.

Erntedank ist auch ein Tag des Nachdenkens. Der Bauernverband und die Politik täten gut daran, sich einem Realitätscheck zu unterziehen: Welche Strategien sichern unsere Ernährung in Zeiten der Erderwärmung? Es ist höchste Zeit.

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