Kluges Spatzenhirn

Jennifer Ackermans Buch „Genies der Lüfte“ zeigt, was Vögel alles können. Von Petra Ahne

4 Minuten
Zu sehen ist das Cover des Buchs, das einen blauköpfigen Vogel darstellt.

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Auf Youtube kann man Alex jederzeit wieder lebendig werden lassen. Man kann staunen, wie er zum Beispiel zwei blaue und drei rote Schlüssel gezeigt bekommt und auf die Frage „Wie viele blaue?“, den Kopf schief legt, mit den glänzenden schwarzen Augen blinkert und dann gut verständlich krächzt: „Zwei.“ Und auf die Frage, „Was ist verschieden?“ die Antwort gibt: „Farbe“. Alex war ein Graupapagei, der die Hirnforschung verblüffte. Er konnte 100 Wörter sprechen und verstehen sowie Farben und Formen unterscheiden und dies kommunizieren.

Als die spätere Verhaltenspsychologin Irene Pepperberg ihn 1977 als Doktorandin in einem Zooladen kaufte, weil sie die Kommunikationsfähigkeit der Graupapageien untersuchen wollte, galten Vögel generell als nicht besonders intelligent. Als er 2007 starb, sah man das schon etwas anders – auch dank Alex.

In Jennifer Ackermanns Buch „Genies der Lüfte“ kommt Alex natürlich vor. Ackermann will, so der Untertitel, „Die erstaunlichen Talente der Vögel“ zeigen – und zwar nicht nur als Kuriosität auf Youtube, sondern eingebettet in den neuesten Stand der Verhaltens- und Neurowissenschaft. Die Wissenschaftsautorin verrät gleich zu Beginn ihre große Vogelliebe, und es ist eine der vielen Stärken ihres Buches, dass sie ihren eigenen Drang zur Anthropomorphisierung der Vögel offenlegt – also dazu, Vogelverhalten so zu interpretieren, als seien sie Menschen – und sich dabei sozusagen selbst bremst. Zum Beispiel, wenn sie beschreibt, wie die Geradschnabelkrähe 007 – die immer wieder erstaunlichen Geradschnabelkrähen sind wichtige Protagonisten des Buchs – um an ein Stück Fleisch zu kommen, insgesamt acht Aufgaben löst. 007 zieht an einem Stück Schnur, um an den daran hängenden Stock zu kommen, benutzt den Stock, um Steine aus einem Kästchen zu fischen, lässt die Steine auf eine Wippe fallen, um sie in Bewegung zu setzen, und kommt so schließlich an einen Stock, der lang genug ist, um damit das Fleisch in einer weiteren Kiste zu angeln.

Das Buch kreist klug um den Unterschied zwischen Mensch und Tier

Eine Schnur hochzuziehen, um so einen Stock zu erreichen – bedeutet das denn schon, Ursache und Wirkung zu verstehen? Kausal denken zu können, wie der Mensch es täglich viele Male tut? Nicht unbedingt, schreibt Ackermann, und erwähnt eine weitere Versuchsanordnung, bei der Krähen an einer Schnur ziehen mussten, um an eine Belohnung zu kommen, aber nicht sehen konnten, wie diese auf sie zukam, wenn sie zogen. Ohne die visuelle Rückkopplung waren die meisten Vögel hilflos. Zum kausalen Denken, also dazu, die Wirkung von Kräften zu verstehen, auch wenn man diese nicht sieht, sind sie also eher nicht fähig.

Anschaulich fächert Ackermann auf, mithilfe welcher Kategorien sich kognitive Fähigkeiten und Intelligenz definieren lassen, beim Tier wie beim Menschen, und gibt so wie nebenbei einen anschaulichen Einblick in die neuronale Forschung. Ihr über 400 Seiten dickes Buch nimmt sich nacheinander jeden Aspekt des Vogellebens vor – das soziale Miteinander, die Partnerwahl, das Singen, die Navigation – und daraus wiederum besonders beeindruckende Leistungen und Verhaltensweisen.

Ackerman lässt uns staunen über Eichelhäher, die einander Geschenke machen, über Raben, die einen toten Artgenossen zu beerdigen scheinen, über Buschhäher, die Vorräte von einem Versteck zum anderen tragen, um Plünderer zu täuschen und über Seidenlaubenvögel, die jede Menge blaue Gegenstände sammeln und drapieren, um so ein Weibchen für sich einzunehmen. Richtig spannend wird es aber, wenn Ackermann einen Einblick gibt, wie die Forschung mit solchen Verhaltensweisen umgeht, wie man mit Experimenten herauszufinden versucht, welche kognitiven Mechanismen dahinterstecken und wie weit sie mit denen des Menschen korrelieren.

Eichelhäher-Männchen, die ihren Weibchen Geschenke machen, durften etwa hinter einer Scheibe beobachten, wie Eichelhäher-Weibchen entweder Mehlwürmer oder Wachswürmer verzehrten. Ihrem Weibchen brachten sie hinterher genau den Leckerbissen, den es zuvor nicht bekommen hatte. Vögel mögen Abwechslung beim Essen. Offenbar besitzen Eichelhäher also zumindest eine Komponente dessen, was als „naive Theorie“ bezeichnet wird: die Fähigkeit, zu begreifen, dass andere Wesen andere Bedürfnisse und Überzeugungen haben als man selbst.

„Genies der Lüfte“ ist also ein Buch, nach dessen Lektüre man niemanden mehr so schnell als „Spatzenhirn“ beschimpft – es ist aber vor allem auch ein Buch, das klug und sehr anschaulich und lesbar die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier umkreist. Fasziniert lässt man sich einmal mehr vor Augen führen, in welchem Maß dieser – wie schon Charles Darwin vermutete – eben nur gradueller und nicht grundsätzlicher Natur ist. Bei Primaten verwundert das nicht so sehr wie bei Vögeln, die sich seit 300 Millionen Jahren auf einem anderen evolutionären Zweig entwickeln als wir, und dennoch ähnliche kognitive Strategien entwickelt haben.

Im letzten Kapitel geht es um die Anpassungsfähigkeit der Vögel, die es vielen Arten erlaubt, auch im vom Menschen veränderten Habitaten weiterzuleben. Ihre Flexibilität ist das Talent, das sie in den kommenden Jahrzehnten vermutlich am meisten brauchen werden. Allein in Europa ist jede sechste Vogelart vom Aussterben bedroht.

Jennifer Ackermann, „Genies der Lüfte“, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 447 Seiten, 24,95 Euro

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