Warum der Strompreis am Gaspreis hängt: das Verfahren der Merit Order
Weil das jeweils teuerste Kraftwerk den Börsenpreis für alle Anbieter bestimmt, steigen die Kosten für kurzfristig bestellte Elektrizität gerade stark an.
Die Preise an der Strombörse steigen zurzeit rasant an: Sie haben sich teilweise gegenüber dem Niveau im vergangenen Jahr verzehnfacht. Das nährt unter anderem dieForderungen, die Laufzeit der Atomkraftwerke in Deutschland zu verlängernoder sogar neue Reaktoren zu bauen. Doch solchen Vorschlägen liegt eine falsche Vorstellung zugrunde, wie sich der Strompreis bildet. Atomstrom allein kann die Energiekosten nicht senken.
Warum steigt der Strompreis mit dem Gaspreis? Das fragen sich zurzeit viele Kunden und Kundinnen. Gaskraftwerke erzeugen doch nur einen auch noch sinkenden Bruchteil der Elektrizität – in der jüngsten vollständigen Woche (KW34) waren es 12, 7 Prozent. Man sollte daher erwarten, dass der Anstieg beim Erdgaspreis in der Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch nur zu etwa einem Achtel auf die Preise an der europäischen Energiebörse in Leipzig (EEX) durchschlägt. Dort versorgen sich Unternehmen mit kurzfristig gehandelten Strommengen. Die Verbraucher betrifft dieser kurzfristige Handel indirekt mit, wenn ihr Energielieferant, etwa das lokale Stadtwerk, über seine langfristigen Abnahmeverträge mit fest vereinbarten Preisen hinaus noch Megawattstunden nachkaufen muss.
Doch an der EEX bildet sich der Preis eben nicht als Durchschnitt über alle gehandelten Strommengen, sondern das jeweils teuerste Kraftwerk bestimmt ihn für alle Anbieter. Das ist gewollt, damit Kraftwerke mit sehr geringen Kosten ihre Energie immer ins Netz liefern können und in jeder Situation am besten damit verdienen: vor allem Windräder und Solarparks.
Dieses System erzeugt langfristig einen Anreiz, in solche Anlagen zu investieren, und senkt so den Börsenpreis: Schließlich sind dann mehr preisgünstige Anbieter am Markt, und das teuerste Kraftwerk von heute ist in Zukunft zu teuer. Diesen Platz nimmt dann eine Anlage mit geringeren Kosten ein – jedenfalls im Prinzip. In der Vergangenheit haben davon oft gerade die sogenannten energie-intensiven Industrien profitiert, die andererseits überhaupt nicht für den Ausbau der Erneuerbaren zur Kasse gebeten wurden. Und die jetzt besonders über das Niveau der Energiekosten klagen. Denn das System kann in einer Ausnahmesituation auch – wie zurzeit – zu einem starken Anstieg der Strompreise an der EEX führen. Davon profitieren zurzeit am meisten die Anbieter von Ökostrom.
Wer am billigsten produziert, darf zuerst liefern
Das genaue Verfahren heißt Merit Order: Das ist sozusagen die Reihenfolge, in der Kraftwerke zugeschaltet werden, um die jeweilige Nachfrage nach Elektrizität zu decken. Diese Reihenfolge folgt zwei Prinzipien: Erst dürfen alle Anlagen der erneuerbaren Energieformen, also Wind, Solar, Biogas und Wasser ihre Leistung einspeisen, dann folgen die konventionellen Anlagen. Hier geht es nach den jeweiligen Grenzkosten für die letzte Kilowattstunde, die ein Kraftwerk liefern muss oder kann. Dieser Preis ist niedrig für Windräder oder Solarparks, aber auch für Atommeiler, bei denen die Anschaffung der Anlage teuer war, aber der jeweilige Betriebsstoff nichts oder nur sehr wenig kostet. Die Grenzkosten sind dagegen hoch, wenn ein Kraftwerk fossile Rohstoffe verbrennt, die selbst zurzeit immer mehr kosten.
Zurzeit bestimmt das teuerste Gaskraftwerk, das noch am Netz gebraucht wird, den Strompreis für alle Anbieter am Markt. Das betrifft indes nur die Stromproduzenten, die ihre Energie dort kurzfristig anbieten. Langfristige Lieferverträge von Kraftwerken, deren Ertrag sich gut planen lässt – etwa Braunkohle oder Atom –, sind ebenso wenig erfasst wie die Einspeisungen aus Erneuerbaren, für die noch die garantierten Preise nach dem EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) bezahlt werden.
Die Preis im Wochendurchschnitt sind daher laut energy-charts.info im Verlauf dieses Jahres deutlich gestiegen: von 142 auf zuletzt 645 Euro pro Megawattstunde.
Dabei zeigt sich zudem, dass die Preise in der Tendenz umso niedriger lagen, je mehr Strom aus Windkraft und Sonne gehandelt wurde.
Wenn die Atomkraftwerke länger laufen, hat es keinen Einfluss auf den Strompreis
Die Kosten für den Strom an der Leipziger Börse könnten nur dann wieder sinken und vom Gaspreis entkoppelt werden, wenn kein einziges Gaskraftwerk mehr am Netz ist. Das ist zurzeit eine unrealistische Forderung, denn erstens erzeugen viele von ihnen neben Strom auch Wärme für Fernwärmenetze, die sich nicht aus anderen Quellen einspeisen lässt. Und zweitens sind Gaskraftwerke praktisch die einzigen Stromlieferanten, die flexibel und problemlos ein- und ausgeschaltet werden können, wenn Nachfrage und Angebot auf dem Strommarkt plötzlich auseinanderklaffen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn die Wetterprognosen für die Wind- und Solaranlagen nicht völlig korrekt sind und sie weniger Strom liefern als angenommen.
Atomkraftwerke am Netz zu halten, um den Strompreis zu senken, ist daher eine naive Forderung. Sie wird seit Wochen vor allem von Politiker:innen der Unionsparteien und der FDP wiederholt. Doch die Reaktoren können die Aufgaben von Gaskraftwerken nicht übernehmen und werden darum kaum jemals dazu beitragen, dass in Deutschland überhaupt keine Elektrizität mehr aus Erdgas erzeugt wird. Nur dann aber würde der Gaspreis nicht mehr auf den Strompreis durchschlagen.
Eine kurzfristige Reform des Merit-Order-Prinzips wird zurzeit diskutiert, ist aber schwierig. Dieser Artikel bei spektrum.de erklärt einige der Optionen. Und in der Süddeutschen Zeitungwarnt ein Kommentar (€) vor hektischen Eingriffen ins Marktgeschehen. Würde zum Beispiel der Gaspreis per Gesetz oder durch eine Regierungs-Verordnung begrenzt, dann käme womöglich nicht mehr genügend von dem Energierohstoff nach Deutschland, weil Lieferanten anderswo mehr verdienen.
Und wenn die Gaskraftwerke hierzulande nicht mehr kostendeckend betrieben werden können, dann schalten die Betreiber ihrer Anlagen eben nicht mehr ein – und das gefährdet dann die Stabilität des Stromnetzes. Ordnet der Staat dann den Betrieb an, muss er auch die Verluste der Gaskraftwerke tragen.
Denkbar ist hingegen, an der Strombörse verschiedene Preise zu bestimmen. Ein niedriger würde zum Beispiel für die Anbieter von Ökostrom gelten, so dass sie zwar noch ordentlich verdienen, aber keine riesigen Profite wie zurzeit einstecken. Die Gaskraftwerke würden wie bisher kostendeckend für ihre Energie bezahlt. Und für die Kunden würde mit einer Mischkalkulation ein Preis berechnet, der als gewichtetes Mittel der Einzelpreise entsteht. Das wäre eine Quersubvention von den Betreibern der günstigsten Anlagen zu den Besitzern der teuersten und würde – das ist der Nachteil – die Anreize, schnell mehr Windräder oder Stromspeicher zu bauen, deutlich reduzieren. ◀