Alles zu seiner Zeit

Wie die Chronomedizin versucht, mit Hilfe der „richtigen“ Uhrzeit die Wirksamkeit von Behandlungen zu steigern.

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Ein altmodischer, schwarzer Wecker steht auf einem Regal.

Die Tablette, die die 50-jährige Frau kurz vor dem Schlafengehen einnimmt, wirkt nicht sofort. Erst im Laufe der Nacht – mit einem Anstieg gegen Morgen – verteilt sich das Medikament in ihrem Körper. Die Arznei hemmt die Ausschüttung von Entzündungsstoffen, die die Immunzellen der Frau sonst vermehrt gegen Ende der Nacht produzieren. Das lindert die Gelenkschmerzen, die der Rheuma-Patientin schon mit dem Aufwachen zu schaffen machen. Die zeitlich abgestimmte „Chrono“-Therapie des Rheumas ist erfolgreich, weil sie die tagesrhythmischen Schwankungen berücksichtigt, mit denen der Körper Entzündungsstoffe ausschüttet.

Das optimale Timing einer Behandlung könnte die Wirksamkeit vieler anderer Medikamente ebenso deutlich verbessern und womöglich die Nebenwirkungen verringern. Handfeste Grundlagen hierfür liefert eine Untersuchung von Chronobiologen am Cincinnati Children’s Hospital Medical Center. Die Forscher machten fast 1000, von inneren Uhren gesteuerte, tagesrhythmisch schwankende Gene im menschlichen Körper aus, deren (Protein)Produkte direkt oder indirekt das Ziel von Arzneistoffen sind.

Björn Lemmer, Pharmakologe vom Management Board der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) wundert das zunächst einmal gar nicht. „Der Mensch ist extrem rhythmisch angelegt und natürlich haben diese Rhythmen eine wesentliche Bedeutung für die Medizin“, sagt der emeritierte Ordinarius für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Heidelberg. Die kleinteilige Genanalyse der amerikanischen Wissenschaftler liefere nun wichtige molekulare Grundlagen.

Es sei schon länger bekannt, dass manche Medikamente je nach Tageszeit unterschiedlich wirkten, sagt auch Achim Kramer, Leiter der Arbeitsgruppe „Chronobiologie“ an der Berliner Charité. „Es ist aber die Frage, warum dies in den meisten Fällen keine Beachtung findet – außer zum Beispiel bei der Behandlung der Rheumatoiden Arthritis und des Bluthochdrucks.“ Die molekularen Details zu kennen, sei entscheidend, damit sich die Chronotherapie in der Praxis weiter durchsetze, so Kramer und die Arbeit des Teams aus Cincinnati ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Die Hälfte der Gene ist rhythmisch aktiv

Seit 2014 war durch Untersuchungen an Mäusen bekannt, dass etwa die Hälfte aller Gene bei Säugetieren im Tagesverlauf unterschiedlich aktiv ist; 44 % sind es beim Menschen, wie die aktuelle Studie zeigt. In einer aufwendigen Computeranalyse werteten die Wissenschaftler tausende RNA-Proben von über 600 Spendern aus. Die RNA stammte aus ganz unterschiedlichen Organen, unter anderem aus der Leber, der Lunge, dem Herzen, Blutgefäßen, Schilddrüse, Darm, dem Fettgewebe. Von den zahlreichen Genen, die zyklisch auftreten, codieren 12 % für Proteine, die mit der Wirkung von Arzneistoffen verknüpft sind. Damit sind Wirkung und Nebenwirkung tausender Medikamente von der Aktivität zyklisch auftretender Moleküle beeinflusst.

„Wir haben Rhythmen in der Genexpression über den ganzen Körper hinweg in einer großen, sehr gemischten Gruppe von Menschen festgestellt“, sagt John Hogenesch, der die Studie leitete. In den meisten Geweben liegt der Höhepunkt der rhythmischen Genaktivitäten rund um das Ende der Ruhephase. Welche Gene dann jeweils aktiv sind, ist von Organ zu Organ sehr unterschiedlich. Unabhängig vom Alter, Geschlecht oder von der ethnischen Gruppe, sei es also vielmehr die innere Uhr, die die Hälfte des Genoms reguliere, so der Molekularbiologe weiter – und damit auch beeinflusst, wie gut ein Medikament wirkt.

Wie die inneren Uhren ticken

In den Zellen aller Lebewesen auf diesem Planeten läuft eine innere Uhr, um den Organismus, seinen Stoffwechsel, sein Verhalten, optimal auf den Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit einzustellen. Diese inneren Uhren sind die Grundlage der „zirkadianen“ Rhythmen innerhalb des Körpers (lateinisch „circa“: etwa und „dies“: Tag), die so heißen, weil sie sich ungefähr alle 24 Stunden wiederholen. Durch äußere Einflüsse, die „Zeitgeber“, wie Schlafen und Wachen, Aktivität und Ruhe, Essen oder Fasten, stimmen sich diese genetisch festgelegten, autonom laufenden, inneren Uhren immer wieder mit dem tatsächlichen Tagesablauf ab und stellen sich „nach“.

Im Laufe des Tages haben alle Körperfunktionen ihre Hoch- und Tiefzeiten. Also auch die Verdauungsorgane, deren Aktivität mitbestimmt, wie schnell ein Medikament vom Magen ins Blut gelangt, es verstoffwechselt und schließlich wieder ausgeschieden wird.

Chronotherapie des Bluthochdrucks

Auch Herz und Blutgefäße funktionieren nicht den ganzen Tag über gleich. Der Blutdruck hat einen ausgeprägten Tag-Nacht-Rhythmus. Morgens nach dem Aufstehen steigen die Werte an, mittags sinken sie leicht ab, am Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr gibt es meist einen zweiten Anstieg, nachts fallen die Werte erneut um etwa 10 Prozent. Auch manche Krankheitsereignisse, die das System betreffen, treten bevorzugt in bestimmten Zeiträumen auf: Angina Pectoris Anfälle besonders zwischen 4 und 6 Uhr morgens, Herzinfarkte und Schlaganfälle gehäuft zwischen 8 und 12 Uhr, Hirninfarkte bevorzugt um drei Uhr nachts.

Die Therapie des Bluthochdrucks könne inzwischen gut auf die biologischen Rhythmen des betroffenen Patienten abgestimmt werden, sagt Martin Middeke vom Hypertoniezentrum in München. Dank der Möglichkeiten zur 24-Stunden-Blutdruckmessung können sich Patient und Arzt ein Bild davon machen, ob der Blutdruck nur beim Arzt zu hoch ist oder auch im Alltag von den Normwerten abweicht.

Es stünden Substanzen mit kurz- und langfristiger Wirkung zur Verfügung, die individuell, aber eben auch zeitlich, vernünftig dosiert werden müssten, so Middeke. „Das wird in der Praxis leider häufig nicht beachtet und kann zum Beispiel dann gefährlich werden, wenn ein Mensch abends noch ein blutdrucksenkendes Medikament bekommt, obwohl sein Blutdruck nachts ohnehin stark absinkt“, sagt der Münchner Arzt.

Die aktuelle Genanalyse der Wissenschaftler aus Cincinnati liefert wichtiges Detailwissen zur Bluthochdrucktherapie. Inwieweit dies in die aktuelle Praxis vordringen kann, ist ungewiss. Laut der Studie sind auch einige Gene mit der Bauanleitung für Calcium-Kanäle in den Muskel- und Blutgefäßzellen des Herzens tagesrhythmisch aktiv. Manche Arzneistoffe, die zur Absenkung des Blutdruckes auf genau diese Kanalproteine abzielen, halten sich nur sehr kurz im Körper stabil, sie haben eine geringe Halbwertszeit. Wann ein solches Medikament eingenommen wird, kann also für die Wirkung entscheidend sein.

„Eine Harmonisierung zwischen dem Zeitpunkt der Medikamentengabe und dem Höhepunkt des Auftretens des Zielmoleküls (hier des Calcium-Kanal-Proteins) könnte die Effektivität von schnell wirksamen Calcium-Kanal-Blockern wie Nifedipin und Verapamil stark verbessern“, schreiben die Studienautoren aus Cincinnati.

Björn Lemmer, der sich seit Jahrzehnten mit der Chronopharmakologie beschäftigt, ist skeptisch. An der Regulierung des Blutdrucks sei schließlich nicht nur ein Gen beteiligt, sondern es wirkten 30 bis 40 unterschiedliche Prozesse mit. „Wenn man versucht, therapeutisch an einem einzelnen rhythmischen Molekül anzugreifen, ist das zu simpel. Die Vorgänge beim Menschen sind viel komplizierter“, sagt der Pharmakologe.

Weniger Nebenwirkungen

Zu welcher Tageszeit ein Gen besonders aktiv ist, kann von Gewebe zu Gewebe unterschiedlich sein. Kennt man die Differenzen, könnte möglicherweise eine optimale Uhrzeit für die Einnahme des Medikamentes gefunden werden, zu der der Wirkstoff weniger Nebenwirkungen auslöst. Beispiel Theophyllin. Dieser Arzneistoff wird bei Asthma zur Weitung der verengten Atemwege gegeben. Theophyllin hemmt Rezeptoren und Enzyme, die aber nicht nur in den Bronchien, sondern auch im Herzgewebe vorkommen. Der Arzneistoff kann daher bei manchen Personen als unerwünschte Wirkung Herzbeschwerden auslösen.

Gelänge es, Theophyllin im Tagesverlauf dann zu geben, wenn die Zielmoleküle, die die Arznei hemmt, in den Herzzellen (nicht aber in den Atemwegen) auf dem tageszeitlichen Tiefpunkt sind, ließen sich die Nebenwirkungen laut John Hogenesch und seinen Mitstreitern möglicherweise verringern.

Pillenspender mit vielen bunten Tabletten für die Woche gefüllt.
Trotz des Wissens um die Bedeutung der Tageszeit für den Erfolg einer Therapie, werden chronobiologische Daten bisher selbst bei Studien kaum erfasst oder beachtet.

Der richtige Zeitpunkt

Aus Beobachtungen und Studien weiß man schon länger, dass Mensch und Tier Medikamente zu manchen Tageszeiten besser vertragen als zu anderen. Wie gut der Organismus den Wirkstoff toleriert, kann in Abhängigkeit zum Zeitpunkt der Arzneigabe um den Faktor 5 schwanken, die Effektivität des Wirkstoffes – wählt man den „richtigen“ Zeitpunkt aus – sich immerhin verdoppeln. „Nicht nur die richtige Menge der richtigen Substanz muss an das richtige Zielorgan gelangen, dies muss auch zur richtigen Zeit geschehen“, fasst Björn Lemmer das Leitmotiv der Chronotherapie zusammen.

Doch was ist der richtige Zeitpunkt? Leider liefern die Studien kein einheitliches Bild. Das verwundert nicht, jeder Mensch ist anders und mit ihm seine innere Uhr. „Die richtige Uhrzeitfür eine Medikamentengabe, gibt es nicht, weil die inneren Uhren von uns Menschen einfach unterschiedlich laufen“, sagt Achim Kramer. Während bei dem einen „morgens“ auch wirklich innerlich „morgens“ sei, treffe den anderen die „morgendliche“ Tablette innerlich noch am Übergang zwischen Nacht und Tag an, so der Charitè-Forscher weiter.

Wir alle kennen schon innerhalb der Familie die Unterschiede: der/die eine wird erst abends richtig munter (die Eulen), während der/die andere schon früh am Morgen gut aus den Federn kommt (die Lerche). „Es gibt Frühtypen, Spättypen, Extremfälle und alles dazwischen“, sagt Achim Kramer. Eine entscheidende Hürde für die umfassende Einführung von Chronotherapeutika in die medizinische Praxis sei die Verschiedenartigkeit der Menschen bezogen auf das Timing ihrer inneren Uhren.

Kramers Team hat kürzlich einen Bluttest entwickelt, mit dem die tatsächliche Innenzeit eines Menschen auf eine halbe Stunde genau gemessen werden kann. Nur wenn diese individuelle Innenzeit bekannt ist (die nicht mit der Wanduhr übereinstimmen muss), macht die Chronotherapie Sinn. „Jeder getimte therapeutische Eingriff sollte personalisiert sein“, sagt Kramer. Es sei also nicht nur wichtig zu wissen, wie die Rhythmen der durch Arzneistoffe anvisierten Moleküle im Körper abliefen. Für den Erfolg einer Behandlung müsse auch bekannt sein, wo der betroffene Mensch mit seiner persönlichen Innenzeit gerade stehe.

Anwendungsmöglichkeiten für Bluttests zur Bestimmung der Innenzeit (gerade hat ein Forscher-Team aus Chicago eine ähnliche Methode präsentiert) gibt es viele. Die Wirkung von Chemotherapeutika beispielsweise variiert im Tagesverlauf. In einer Studie mit Frauen, die an Eierstockkrebs erkrankt waren, wurde eine bessere Wirkung bei besserer Verträglichkeit erzielt, wenn die Patientinnen die Medikamente Doxorubicin und Cisplatin nicht irgendwann sondern immer um 6 Uhr morgens bzw. um 18 Uhr erhielten. Womöglich ließen sich durch das Wissen um die tatsächliche Innenzeit die Therapiechancen bei Krebskranken steigern.

Wissenschaftliche Hinweise, die Uhrzeit als wichtigen Einflussfaktor einzubeziehen, gibt es unter anderem für die Behandlung der Allergie, der Durchführung von Impfungen oder auch bei der Planung von (Herz-)Operationen. „Möglicherweise wird eines Tages routinemäßig bei jeder Blutprobe die Innenzeit, der Chronotyp eines Menschen, mitbestimmt werden“, sagt Achim Kramer. Ein wichtiger Schritt wäre getan, wenn es bis dahin gelänge, wenigstens bei klinischen Studien auch dem „Wann“ einer Maßnahme den gebührenden Platz einzuräumen. Trotz des ständig wachsenden Wissens um die Bedeutung der Tageszeit für den Erfolg einer Therapie, werden chronobiologische Daten bisher selbst bei Studien kaum erfasst oder beachtet.

Dieser Text erschien zuerst bei spektrum.de.

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