Kein Winter mehr ohne Covid-19?
Sars-CoV-2: Wir brauchen Forschung und vor allem Zeit, um zu wissen, was die Zukunft bringen wird.
Teil 3 der Serie „Saisonalität von Infektionskrankheiten und was wir für Covid-19 erwarten können“
Diese Aufgabe fällt EpidemiologInnen eigentlich nicht schwer: Um herauszubekommen, ob eine Infektionskrankheit saisonal ist – also in einer Region zu bestimmten Zeiten im Jahr häufiger auftritt als sonst -, müssen die Erkrankungszahlen je Kalenderwoche über einen längeren Zeitraum möglichst genau erfasst und verglichen werden. Bei Covid-19 liegt der Fall aus einem simplen Grund anders: „Das Virus ist neu, die Krankheit ist neu, wir können die aktuellen Erkrankungszahlen also noch nicht mit anderen Jahren vergleichen“, sagt Stephan Glöckner von der Abteilung Epidemiologie am Helmholtzzentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
Einige Forscher sind sich aber jetzt schon relativ sicher: Wenn die Pandemie erst einmal vorbei ist, könnte Sars-CoV-2 das fünfte Coronavirus sein, das uns zumindest in der gemäßigten Klimazone vornehmlich im Winterhalbjahr beschäftigen wird; wiederholte Epidemien mit hoffentlich nachlassender Schwere. „Covid-19 ist wahrscheinlich eine saisonale Erkrankung, die in Perioden niedriger Luftfeuchtigkeit wiederkehrt“, sagt Michael Ward von der University of Sydney Anfang Juni. Winterzeit könnte dann zukünftig „Covid-Zeit“ bedeuten, meint der Epidemiologe.
Aber stehen diese Zukunftsaussichten nicht im Widerspruch zu dem, was wir gerade erleben? Das Virus breitet sich rasant über den gesamten Erdball aus – aktuell sind besonders die USA, Brasilien, Russland, Südafrika, Indien, Indonesien – betroffen (Stand Juli 2020). Dabei macht sich Sars-CoV-2 kaum etwas aus dem Wetter. Es infiziert Menschen in unterschiedlichen Klimazonen, auch dort, wo es zurzeit sehr warm und feucht ist.
Auch wenn es jetzt trotz Hitze so dramatisch viele Fälle gäbe, sei das kein Argument gegen ein zukünftig saisonales Auftreten von Covid-19, sagt Stephan Glöckner. Bei einer Pandemie würden andere Spielregeln gelten als beim Kontakt zu Erregern, die die Menschheit schon Hunderte oder Tausende Jahre begleiteten. „Eine Pandemie beginnt häufig gerade außerhalb der „klassischen“ Saison, auf die sie sich später einpendeln wird“, so der Epidemiologe.
Die Influenza-Grippe
Die Erfahrungen mit den Grippe-Pandemien zeigen das deutlich. Influenza-Viren haben bei uns meist in der Zeit von November bis März Saison. Taucht irgendwo auf der Welt jedoch eine völlig neue Virusvariante auf, weil sich die genetische Information verschiedener Influenza-Stämme neu gemischt hat, kommt es zu einer Pandemie. Diese begannen in der Vergangenheit nicht in der klassischen Grippe-Saison, sondern im Anschluss daran, quasi im Kielwasser der saisonalen Grippe. Die Pandemie 1918 begann im März, die Pandemien 1957 und 2009 im April, die Pandemien 1889 und 1977 im Mai und die 1968er Pandemie gar im Juli.
Schwerer Fehler, allein auf das Wetter zu setzen
Bei der Eindämmung von Sars-CoV-2 allein auf das Wetter zu setzen, ist fatal. Frühe Untersuchungen, die die Infektionsfälle mit Wetterdaten kombinierten, befeuerten die Hoffnung auf Wärme und Sonne. Die Ausbreitung von Sars-CoV-2 sei stark abhängig von der Temperatur und der UV-Strahlung, schrieben im April etwa Forscher vom Indian Institut of Technology in Madras. Es gäbe nur einen schmalen Temperaturstreifen von 3 bis 12 Grad Celsius, in dem bisher 90% der bestätigten Covid-Fälle aufgetreten seien.
„Nie zuvor hat sich ein Volk so irrational und so sehr nach einem brennend heißen, brutalen indischen Sommer gesehnt“, schrieb die Schriftstellerin Arundhati Roy angesichts der Pandemie im April in der ZEIT. Rachel Baker und ihre KollegInnen von der Princeton University lagen mit ihrer Modellberechnung zur Ausbreitungsdynamik des neuen Coronavirus, die sie im Mai im Wissenschaftsjournal „Science“ vorlegten, aber leider richtig. Ohne wirksame Kontrollmaßnahmen werde es wahrscheinlich auch Ausbrüche in feuchterem Klima geben und das Sommerwetter werde die Ausbreitung der Pandemie nicht grundlegend begrenzen, schrieben die Princeton-ForscherInnen vor zwei Monaten.
Denn: „Wetterschwankungen können für die Ausbreitung wichtig sein, wenn ein Krankheitserreger bereits endemisch (sich in der Bevölkerung etabliert hat) ist. Aber wenn er sich noch in der Pandemie-Phase befindet, hat das Klima nur eine Randbedeutung.“ Das Wetter beeinflusse zwar die Virus-Übertragung. Doch viel bedeutender für den Verlauf der Pandemie sei ihr größter Antreiber: die Verwundbarkeit, die Empfänglichkeit der Menschen, deren Immunsystem dieses Virus bisher nicht gesehen hat.
Für einen moderaten Einfluss des Wetters in der Pandemie-Phase sprechen auch die Ergebnisse von WissenschaftlerInnen der Harvard University in Boston. Sie kombinierten Wetterdaten und Infektionszahlen bis Ende April 2020 von über 1000 Städten weltweit. Danach gibt es zwar einen Zusammenhang zwischen wärmeren Außentemperaturen, einer höheren UV-Strahlung und einer verringerten Virusübertragung. Doch das allein reiche nicht aus, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
In Deutschland und einigen anderen Ländern sind die Infektionszahlen gerade (noch) auf einem mehr oder weniger erfreulich niedrigen Niveau. Welchen Anteil das Wetter daran hat, wissen wir nicht. „Wir wenden zur Eindämmung des Virus gerade viele Maßnahmen parallel an; daher kann man nicht sagen, welcher Faktor entscheidend ist“, sagt Stephan Glöckner.
Was für eine Saisonalität spricht
Nicht alle Viren, die unseren Atemwegen Probleme machen, sind Winterviren. Mit Adenoviren, Rhinoviren oder Parainfluenzaviren und den durch sie ausgelösten Erkältungen können wir im Prinzip das ganze Jahr über zu tun haben. Zumindest die beiden ersten Virustypen/Familien sind im Gegensatz zu etwa Influenza-Viren oder auch den Coronaviren nicht von einer Membranhülle umgeben und daher weniger anfällig für höhere Temperaturen. Coronaviren sind bei niedrigen Temperaturen (4 Grad Celsius) sehr stabil, ab 30 Grad sind sie noch höchstens 24 Stunden ansteckend, bei 70 Grad schon nach 5 Minuten inaktiviert.
Auch die Luftfeuchtigkeit ist für die Stabilität und Übertragbarkeit entscheidend. Das mit Sars-CoV-2 verwandte MERS-CoV ist stabiler bei niedrigen Temperaturen und niedriger Luftfeuchtigkeit. Es bleibt zum Beispiel bei 30 Grad Celsius und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 30% etwa 24 Stunden auf Metall- oder Plastikoberflächen ansteckend, bei gleicher Temperatur aber feuchterer Luft (80% Feuchtigkeit) dagegen nur acht Stunden.
Bei niedrigeren Temperaturen und niedriger Luftfeuchtigkeit (Bedingungen, wie wir sie bei uns im Winter haben) halten sich in die Umgebung gehustete Viren länger in kleinen Tröpfchenkernen in der Luft. Bei feuchterer Luft bilden sich größere virushaltige Aerosole, die rasch absinken und dann zumindest über die Luft keinen mehr anstecken können.
Vier der schon länger bekannten Coronaviren tauchen jedes Jahr sehr regelmäßig im Winter auf. Oder genauer: die durch sie verursachten Erkältungen tun es. Der Epidemiologe Arnold Monto von der University of Michigan durchforstete zusammen mit seinem Team Daten über Infektionen der Atemwege der Jahre 2010 bis 2018, die eigentlich erhoben wurden, um die Wirksamkeit des Grippeimpfstoffes zu kontrollieren. Danach beginnen die Infektionen mit den vier Coronaviren (OC43, 229E, HKU1, NL63) im November oder Dezember, haben ihren Höhepunkt im Januar und Februar und verschwinden im Mai. Im Gegensatz zu Sars-CoV-2 haben sich diese Coronaviren seit langem an den Menschen und sein Immunsystem angepasst.
Wie wird es weitergehen mit Sars-CoV-2?
Wie wird es weitergehen in der Geschichte zwischen dem neuen Virus und dem Menschen? Es ist enorm, was wir gerade täglich dank all der Forschung dazu lernen. Doch auch die rund 20.000 bzw. 36.000 Fachartikel, die laut Datenbank Pubmed, seit Beginn des Jahres über „Sars-CoV-2“ bzw. Covid-19 erschienen sind (stand Juli 2020), können eines nicht ersetzen: die Zeit. Wir brauchen Beobachtungen und Studien über längere Zeiträume.
Offene Fragen zur Immunität, zur genetischen Entwicklung des Virus, zur Wirksamkeit verschiedener Testimpfstoffe, lassen sich nur beantworten in Zusammenhang mit längeren Zeiträumen. Geduld und auch Demut angesichts der Komplexität sind erforderlich. Wer schon jetzt eindeutige, klare Beweise oder Botschaften über Wirkstoffe, Krankheitsverläufe, Impfstoffe vorlegt, könnte richtig aber genauso gut auch richtig falsch liegen.
Der Epidemiologe Marc Lipsitch und einige KollegInnen von der Harvard University nennen die Faktoren, die die Dynamik der Infektionen mit Sars-CoV-2 zukünftig steuern: die saisonalen Variationen der Virusübertragung, die Dauer der Immunität, die das Virus auslöse, das Ausmaß der „Cross-Protektivität“ zwischen Sars-CoV-2 und anderen Coronaviren und das Timing sowie die Intensität von Kontrolluntersuchungen, schreiben die Forscher in „Science“.
Wenn sich die Infektionszahlen jetzt im Sommer (in unseren Breitengraden) verringern, könnten sich vermehrt empfängliche Personen „ansammeln“, die sich dann, wenn die äußeren Bedingung für eine Ansteckung wieder günstiger sind, anstecken – was zu Ausbrüchen mit höheren Ausschlägen führen würde, spekulieren Lipsitch und Kollegen. Wenn sich die Immunität gegenüber Sars-CoV-2 im Laufe der Zeit genauso verringern würde, wie es bei anderen Coronaviren der Fall ist (die Antikörper-Spiegel sinken während der Monate nach dem Infekt ab), wären wiederkehrende Winterausbrüche in den kommenden Jahren wahrscheinlich. Würde sich hingegen eine länger anhaltende Immunität entwickeln, könnte das Virus innerhalb von 5 Jahren völlig verschwunden sein (und mit ihm womöglich auch andere Coronaviren).
Bis wir das wissen, gilt es zu beobachten. Daten sammeln, messen, testen und auswerten. Wenn wärmeres Wetter einen Rückgang der Neuerkrankungen begünstigt, könnte man doch eine Lockerung der Maßnahmen riskieren, das Social Distancing etwa sein lassen, die Masken absetzen? Nein! Sicher nicht. Vielmehr sollte man, wie es Antonio Páez von der McMaster University im kanadischen Ontario vorschlägt, gerade jetzt, während des Sommers die Maßnahmen beibehalten (Abstand halten, Hygiene, Alltagsmasken) und das neue Virus auf diese Weise weiter in die Knie zwingen.
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Quellen:
COVID-19 could be a seasonal illness with higher risk in winter https://www.sciencedaily.com/releases/2020/06/200601134608.htm
WHO, Covid-19, Situation Report 192, 30. Juli 2020 https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200730-covid-19-sitrep-192.pdf?sfvrsn=5e52901f_4
Seasonality in risk of pandemic influenza emergence https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5654262/
On the global trends and spread of the COVID-19 outbreak: preliminary assessment of the potential relation between location-specific temperature and UV index https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7180684/#__ffn_sectitle
Coronavirus-Pandemie in Indien: Durch das Tor des Schreckens https://www.zeit.de/politik/ausland/2020–04/coronavirus-pandemie-krisenpolitik-indien-armut
Susceptible supply limits the role of climate in the early SARS-CoV-2 pandemic https://science.sciencemag.org/content/369/6501/315
The Modest Impact of Weather and Air Pollution on COVID-19 Transmissionhttps://projects.iq.harvard.edu/files/covid19/files/weather_and_covid-19_preprint.pdf
Stability of Middle East respiratory syndrome coronavirus (MERS-CoV) under different environmental conditions https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560–7917.ES2013.18.38.20590#html_fulltext
Projecting the transmission dynamics of SARS-CoV-2 through the postpandemic period https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7164482/
https://www.eurekalert.org/pub_releases/2020–06/mu-hah060920.php
Hinweis: Die Arbeit an diesem Artikel sowie die weiteren Teile der TAKTVOLL-Serie „Saisonalität von Infektionskrankheiten – was können wir für Covid-19 erwarten?“ wurde mit Mitteln des Recherchefonds „Covid-19“ der Wissenschaftspressekonferenz (WPK) gefördert. Teil 1: „Wo bleibt die Grippe im Sommer?“Teil 2: „Haben Viren im Winter leichtes Spiel, weil unsere Immunabwehr dann nicht so fit ist wie im Sommer?“