Das Erbe der Denisova-Urmenschen – Fluch oder Segen für den Homo sapiens?

Eine bestimmte Gen-Variante macht Menschen in Europa und Asien empfänglicher für neuropsychiatrische Erkrankungen, etwa Depressionen. Nun stellte sich heraus, dass die DNA von asiatischen Urmenschen stammt. Dahinter könnte eine Anpassung an die Umwelt stecken.

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Die Illustration vom Kopf einer jungen, dunkelhaarigen Urmenschen-Frau ist zu sehen, die per Fotomontage in eine weite Graslandschaft eingefügt wurde, in deren Hintergrund sich mächtige Bergketten erheben.

Die immensen Fortschritte bei der Entzifferung der Erbsubstanz von Menschen machte es in den vergangenen Jahrzehnten möglich, viele statistische Zusammenhänge (Korrelationen) zwischen bestimmten Krankheiten und Genen zu ermitteln. Bei dem im Jahr 2008 beschlossenen „1000-Genome-Projekt“ wurde bereits im Jahr 2012 die vollständige Erbsubstanz von mehr als tausend Menschen entziffert. 2018 waren über 2500 Genome bekannt, die aus 26 unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen stammen. Diese immense Datenbasis nutzen inzwischen auch immer mehr Paläogenetikerinnen und Paläogenetiker, die die Erbsubstanz von Urmenschen analysieren und mit der von heutigen Menschen vergleichen. Dabei geht es nicht nur darum, etwas über unsere Abstammung herauszufinden, sondern auch zu klären, welche Gene die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten erhöhen und woher solche Veranlagungen beim Homo sapiens stammen.

Eine besondere genetische Variante, die im Verdacht steht Depressionen zu begünstigen, hat jetzt ein Team unter Leitung von Elena Bosch und Rubén Vicente an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona untersucht. Dabei hatten die Forschenden die Erbsubstanz von heutigen Menschen mit der von Denisova-Menschen verglichen. Diese Urmenschenform ist bislang nur durch wenige Knochenfunde, vor allem aber durch ihre DNA bekannt und lebte vor rund 400.000 Jahren bis etwa 40.000 Jahren – vielleicht sogar bis vor 21.000 Jahren – auf dem asiatischen Kontinent. Ein Gen mit der Bezeichnung SLC30 A9, so ermittelten Bosch, Vicente und ihr Team, kommt bei heutigen Europäern und Asiaten sehr häufig in einer Variante vor, die der von Denisova-Menschen äußerst ähnlich ist. Umgekehrt ist in Afrika eine andere Variante dieses Gens verbreitet – bei mehr als 90 Prozent der Bevölkerung. Und die ähnelt dem Denisova-Erbgut nicht.

Vor rund 60.000 Jahren hatte der Homo sapiens Sex mit Denisova-Menschen

Die Forschenden schließen daraus, dass moderne Menschen (Homo sapiens), die Afrika vor rund 60.000 Jahren verließen, sich in Asien mit den Denisova-Menschen vermischt haben und deren Gen-Variante übernahmen. So wäre zu erklären, dass sie in Afrika nur sehr selten ist. Vom Neandertaler kann sie nicht stammen, denn dort wurde sie bislang nicht nachgewiesen. Was die besondere Gen-Variante rätselhaft macht: Die Daten aus Genbanken der heutigen Menschen zeigen, dass die Träger der Denisova-Variante häufiger an neuropsychiatrischen Erkrankungen – etwa Depressionen und Schizophrenie – leiden als andere Menschen. Weshalb aber sollten die auswandernden Homo-sapiens-Gruppen von den Denisova-Menschen einen Erbgut-Abschnitt übernommen haben, der sich nachteilig auswirkt?

Die Karte der Kontinente Asien, Europa und Afrika zeigt in Form von Tortendiagrammen die heutige Verteilung zweier genetischer Varianten eines bestimmten Genes. Die eine Variante ist in Afrika sehr häufig, die andere in Asien und Europa. Zudem sind Pfeile eingezeichnet, die die zeitliche Ausbreitung der Varianten darstellt.
Das sogenannte SLC30A9-Gen, das den Gehalt des Spurenelements Zink im Körper beeinflusst, existiert in zwei verschiedenen Varianten: Eine Form (rosa eingefärbt) ist in Afrika dominierend, eine andere (dunkelrot) in Asien und Europa. Letztere entstand offenbar bei den Denisova-Urmenschen und wurde vom Homo sapiens übernommen

Für das Team aus Barcelona lag daher auf der Hand: Die Denisova-Variante musste auch einen Vorteil gehabt haben, zumindest unter den Lebensbedingungen der Urzeit. Und daher begannen die Forschenden sehr detailliert die biochemischen Funktionen des Gens SLC30 A9 und die Wirkungen seiner unterschiedlichen Varianten zu untersuchen, wie sie in der elektronischen Zeitschrift PLOS Genetics berichten. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass das Gen etwas mit dem Zinktransport in den Zellen zu tun hat. Zink ist ein Spurenelement, das für eine Vielzahl von Funktionen im Körper wichtig ist und dessen Gleichgewicht in Zellen und im Körper fein austariert werden muss.

Die Urmenschen waren bestens an kalte Umgebungen angepasst

Das untersuchte Gen stellt in den Zellen ein bestimmtes Eiweiß (Protein) her. Es handelt sich dabei um einen sogenannten „Zinktransporter“ – ein Eiweiß-Molekül, das Zinkatome aufnehmen und durch Membranen (das sind so etwas wie Hüllen, die verschiedene Zellbestandteile voneinander abgrenzen und auch die ganze Zelle umschließen) schleusen kann. Das Eiweißmolekül reguliert innerhalb einer Zelle, wie hoch der Zinkspiegel in bestimmten Zellbestandteilen ist, unter anderem in den sogenannten Mitochondrien. Sie gelten als die „Kraftwerke“ der Zellen und liefern ihnen biochemische Energie.

Auf dem Schwarz-Weiß-Foto ist eine Frau in lockerer Hose und T-Shirt zu sehen, die auf dem Fußboden vor einer kahlen Wand sitzt, die Knie angezogen, die Arme darauf verschränkt und das Gesicht nach unten geneigt, so dass nur ihre Haare zu sehen sind.
Rund zehn Prozent der Menschen in Europa leiden mindestens einmal in ihrem Leben an Depressionen oder depressiven Verstimmungen. Dazu beitragen könnte eine genetische Besonderheit, die wir von den Denisova-Menschen geerbt haben

Die Denisova-Variante des Genes, so ermittelte das Team aus Barcelona, steigert die Stoffwechsel-Aktivität der Mitochondrien, indem sie deren Zinkgehalt reguliert. Mit dieser Erkenntnis hatten die Forschenden einen Hinweis darauf, welchen Vorteil das Urzeit-Gen haben könnte. Weil die Mitochondrien für die Energieversorgung und Arbeit der Muskeln eine wichtige Rolle spielen, könnte die genetische Variante eine Anpassung an die Kälte gewesen sein. Die Denisova-Menschen haben womöglich weniger gefroren, weil ihre Muskeln mehr Hitze produzierten.

Das Spurenelement Zink ist essenziell für die psychische Gesundheit

In wärmeren Gegenden wie in Afrika ist eine solche Gen-Variante nicht nötig, doch als Homo-sapiens-Gruppen von dort aus nach Asien vordrangen war eine Anpassung an das rauere Klima von Vorteil. Das gelang offenbar durch eine Vermischung mit den Denisova-Menschen, die schon seit Jahrhunderttausenden dort lebten und an die Kälte adaptiert waren. Von dort aus verbreitete sich die Denisova-Variante nach Europa und sogar nach Amerika – nur in Afrika blieb sie selten.

Das Bild zeigt Kopf und Hals eines Mädchens mit kräftigen, dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und einem ungewöhnlich breiten Gesicht mit gelblich-brauner Hautfarbe.
Dieses Porträt eines Denisova-Mädchens beruht auf Informationen, die Forscher in Israel aus dem Erbgut herauslasen. Einer neuen Studie zufolge vererbten die Denisova-Urmenschen eine genetische Variante an den Homo sapiens, die anfällig für Depressionen macht

Allerdings handelten sich die Einwanderer mit dem veränderten Erbgut auch einen Nachteil ein. Die Verteilung von Zink spielt bei der Erregung des Nervensystems eine wichtige Rolle und damit auch für das mentale Gleichgewicht und die Gesundheit. Die Denisova-Genvariante aber, die das Zinkgleichgewicht in den Zellen verschiebt, führt offenbar zu einer größeren Anfälligkeit für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Hyperaktivität, Magersucht, Autismus, bipolare Störungen, Depressionen, Zwangsneurosen und Schizophrenie.

Das Beispiel zeigt: Es gibt in der Regel keine eindeutig „guten“ oder „schlechten“ Genvarianten. Wie sie wirken, hängt oft von der Umgebung ab. Und der Vorteil der besseren Anpassung an die Umwelt kann mit Nachteilen – wie hier der psychischen Labilität – erkauft werden. Die Denisova-Variante des Zinktransporter-Gens ist nicht der einzige Fall von Urzeitgenen in heutigen Menschen, die sich auf die Gesundheit und den Körper auswirken. Sowohl von Denisova-Menschen als auch von Neandertalern sind inzwischen zahlreiche Erbgutanteile bekannt, die solche Wirkungen zeigen: Neandertaler-Varianten etwa erhöhen die Anfälligkeit für Corona-Infektionen, machen Frauen fruchtbarer oder senken das Prostatakrebs-Risiko. Das Denisova-Erbe schützt heutige Menschen im pazifischen Raum vor manchen Krankheitserregern und lässt sie besser mit einem stark schwankenden Nahrungsangebot fertig werden. Offenbar war es eine übliche Taktik der aus Afrika auswandernden Homo-sapiens-Gruppen, sich mit anderen, ortsansässigen Urmenschenformen zu vermischen und sich auf diese Weise schnell an neue Umwelten anzupassen.

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