„Ich glaube, wir stehen am Beginn einer großen Transformation des Mensch-Tier-Verhältnisses“

Das sagt der Soziologe Marcel Sebastian aus Hamburg, der die Beziehung zwischen Mensch und Tier erforscht. Werden wir Nutztiere bald wie Haustiere behandeln? Ein Gespräch über die Zukunft unseres Umgangs mit Tieren.

vom Recherche-Kollektiv Tierreporter:
10 Minuten
Porträt eines jungen Mannes mit offenem Lächeln und kurzen braunen Haaren. Es ist der Soziologe Marcel Sebastian aus Hamburg.

Herr Sebastian, wie würden Sie das Mensch-Tier-Verhältnis in Deutschland beschreiben?

Tiere haben für Menschen eine große Bedeutung. Und diese nimmt zu. Seit den Siebziger-, Achtzigerjahren sind Tiere für uns immer wichtiger geworden. Wir können das zum Beispiel an der Anzahl der Haustiere sehen, seit etwa zehn Jahren gibt es einen starken Anstieg bei Hunden und Katzen. Die Haltung von Reptilien und Fischen dagegen stagniert. Ich denke, das spricht für einen wachsenden Wunsch nach Interaktion, wir wollen mit Tieren eine Gemeinschaft bilden. Die zweite große Bedeutung, die sie für uns haben, liegt im Fleischverzehr. Der steigende Wohlstand der Nachkriegsgesellschaft ging mit einer enormen Zunahme des Fleischkonsums einher: Aus dem Sonntagsbraten wurde der Alltagsbraten. Das hat aus Nutztieren eine Ware gemacht. Wir sehen in ihnen keine Interaktionspartner, sondern Dinge. Das war eine sehr dominante Entwicklung über eine lange Zeit.

Aber seit ein paar Jahren sinkt der Pro-Kopf-Fleischverbrauch signifikant.

Tatsächlich kommt da gerade etwas ins Wanken. Aber auch an den sozial-ökologischen Krisen der Gegenwart erkennen wir, dass wir noch auf andere Weise mit Tieren verbunden sind: Der Klimawandel und das Artensterben stehen in direkter Verbindung mit der landwirtschaftlichen Tierhaltung. 15 bis 20 Prozent der globalen Klimagase gehen auf das Konto der Nutztierhaltung in der Landwirtschaft. Plötzlich diskutieren wir nicht nur, ob es aus Tierwohlgründen legitim ist, Fleisch zu essen, sondern auch, wie sich das auf unsere Zukunft auswirkt. Wir haben also gleich drei Bereiche, in denen Tiere für uns sehr wichtig geworden sind: als Freunde, als Nahrungsmittel und als Teil existenzieller Krisen.

Wie kam es zu dieser Trennung – dass wir die einen Tiere als Freunde und die anderen als Dinge ansehen?

Vor 400 Jahren waren in Deutschland noch rund 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft tätig, heute sind es weniger als zwei Prozent. Verbunden mit diesem Strukturwandel kam es zur Urbanisierung, die Leute zogen in die Städte und nahmen zunächst ihre Tiere mit. Eine Zeitlang existierte auch eine starke urbane landwirtschaftliche Tierhaltung. Bevor sie wieder aus dem Stadtbild verschwand, bekamen in dieser Übergangsphase einige Tiere sozusagen einen neuen Nutzen. Die Leute hielten sie, weil sie Freude an ihnen hatten. Rassehunde wie Spitze und Pudel entwickelten sich zunehmend zum Statussymbol für das deutsche Bürgertum. Bestimmte Tiere wuchsen also über ihren ökonomischen Nutzen hinaus und zogen in die Familie ein.

Kein anderes Tier hat dabei eine solche Aufwertung erfahren wie der Hund. Früher lag er an der Kette, heute logiert er in Hundehotels.

Die Verbundenheit mit dem Hund geht besonders tief, weil unsere gemeinsame Geschichte noch viel weiter zurückreicht als die mit allen anderen domestizierten Tieren. Sie begann vermutlich als Jagdgemeinschaft vor mindestens 15.000 Jahren. Wenn zwei zusammen jagen, wenn sie sich abstimmen müssen, entsteht eine intensive Interaktion, es gibt jede Menge emotionale Resonanz. Aber wir könnten auch mit Nutztieren eine intensive Gemeinschaft eingehen.

Inwiefern?

Welche Tiere wir als Haustiere ansehen und welche als Nutztiere, ist ein soziales Konstrukt. Anderswo werden Hunde gegessen, Kühe aber nicht. Das bedeutet, wir können so tiefe Beziehungen auch zu anderen Tieren haben. Insgesamt ist die Bandbreite an Mensch-Tier-Beziehungen enorm. Sie reicht von der völligen Verwahrlosung über die systematische Tötung bis hin zum tiefen Berührtwerden durch Tiere. Die Trauer über den Verlust eines Tieres kann der Trauer über den Verlust eines Menschen ähneln. Wir kennen das auch aus der Desasterfolgen-Forschung. Da wird untersucht, wie Menschen reagieren, wenn sie evakuiert werden müssen. Studien zeigen, dass viele alles daransetzen, dass auch ihre Haustiere gerettet werden. Als Russland die Ukraine überfiel, kam es zu Problemen an den Grenzen, weil so viele Menschen mit ihren Haustieren geflohen waren.

Nehmen Sie auch in unserem Verhältnis zu Nutztieren eine Veränderung wahr?

Die Vorstellung aus den Sechzigerjahren von Tieren als nicht leidensfähigen Automaten hat sich völlig überholt. Das sagt heute niemand mehr. Stattdessen gibt es neue Fragen, zum Beispiel: Können Tiere trauern? Die Bereitschaft, in Tieren nur ein Ding, ein Etwas zu sehen, sinkt immens. Das aber schafft Irritationen in unserem Denkmodell, dass Nutztiere dafür da sind, gegessen zu werden. Wie stark solche Irritationen sind, hängt jedoch sehr von den Milieus ab. In der jungen, urbanen gebildeten Mittelschicht, vor allem bei Frauen, spielt das Tierwohl mehrheitlich eine große Rolle. Da hat der Fleischkonsum einen vollständigen Imagewandel durchgemacht. Was früher normal war, muss heute legitimiert werden. Es gibt dort analog zur Flug-Scham eine Fleisch-Scham. In anderen Milieus kommt das viel weniger vor. Diese Milieus sind eher statusorientiert und traditionsbewusst, da kommt auf den Tisch, was schon die Eltern gegessen haben. Eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung lässt sich also noch nicht behaupten, wir sehen aber starke Dynamiken in bestimmten Milieus.

Ein junges Schwein in einem Nutztierstall, dicht gedrängt neben anderen. Es schaut die Betrachterin direkt an.
Wer ist Freund, wer ist Ware? Ferkel in einem Maststall – und so intelligent wie Hunde.

Rechnen Sie damit, dass diese Entwicklung sich fortsetzt? Sehen wir vielleicht auch in der Kuh irgendwann ein Du?

drei kleine Schweine in einer Box.
Wird die industrialisierte Massentierhaltung in Deutschland zum Auslaufmodell?