Die radikale Lösung

Ein Zukunftszenario zur Umsetzung von Fahrverboten

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
11 Minuten
Schlechte Luft: Autos stauen sich auf einer Straße in der Innenstadt.

Stellen wir uns einmal vor, die Menschen in den Städten sind den Streit um Fahrverbote, Dieselabgase, Grenzwerte und Abgasmanipulationen leid. Sie ergreifen selbst Maßnahmen. Deren Tenor: Die Luft in den Städten gehört den Menschen, die dort wohnen – und nicht den Pendlern. Ein Zukunftsszenario der ZukunftsReporter.


Als die kleine Warnlampe leuchtet, greift Peter Gesslick gleich zu seinem Smartphone. „Ich bin über hundert, drei Werte im roten Bereich“, sagt er kurz. Der Anruf bei der zentralen Messstelle für Luftverschmutzung wäre gar nicht nötig gewesen. Das kleine metallfarbene Gerät an der Hauswand, neben dem Balkon, auf dem er gerade einen Tee trinkt, meldet die Messergebnisse direkt an die neue Behörde des Umweltamts. Aber Gesslick freut sich als alleinstehender Rentner über jeden Kontakt, deshalb meldet er sich gern persönlich. „Ja, Peter, der ganze Süden der Stadt liegt schon drüber. Es ist wohl der Stau auf der Autobahn, der für die schlechte Luft sorgt“, antwortet Saskia Meyer, die heute die Tagschicht übernommen hat. „Wann machst Du zu?“, fragt Peter. Die Frage lässt Saskia auf die drei Bildschirme vor ihr schauen, auf denen die Daten sämtlicher Messstationen der Stadt gesammelt werden. „Noch vier Alarmierungen, dann ist dicht“, sagt sie.

Nicht ungewöhnlich für einen so heißen Tag. Wenn die Sonne auf die Stadt brennt und nur wenig Luft durch die Straßen weht, sammeln sich dort die Schadstoffe. Die Sonneneinstrahlung sorgt zudem dafür, dass die Ozonwerte steigen. In diesem Moment hat der Counter auf Saskias rechtem Bildschirm drei Zahlen weitergezählt. „Gleich geht es los, Peter, ich muss aufhören und alles vorbereiten.“ „Klar“, sagt Gesslick, „aber so wie die Wettervorhersage ist, sprechen wir uns morgen bestimmt wieder.“ Saskia hat bereits aufgelegt, demnächst muss sie die Schadstoffampeln an den Einfallsstraßen von gelb auf rot schalten. Die Gelbphase war ein Kompromiss. Sie sollte die Bevölkerung informieren, dass es schon viele Überschreitungen der Grenzwerte gab. Die Menschen sollte ihr Auto freiwillig stehenlassen. Saskia kontrolliert die Kameras an den großen Straßen. Die Autos sollten jetzt langsamer fahren und der Verkehr sich lichten. Aber eher das Gegenteil passiert. Viele Fahrer versuchen noch rechtzeitig in die Stadt zu kommen, bevor die Schranke sich senkt.

Der Bildschirm zeigt fünf weitere Alarmierungen. Saskia bestätigt den Schadstoffalarm mit ihrem Fingerabdruck. Jetzt senken sich die Schranken auf den Einfallsstraßen der Stadt. Keiner kommt mehr rein. Die meisten Ampeln in der Stadt haben auf Rot geschaltet. Wer kein Elektroauto fährt, muss auf die öffentlichen Verkehrsmittel ausweichen oder riskiert ein hohes Bußgeld. Illegale Autofahrten gibt es fast keine mehr, seitdem die Bürger der Stadt sich angewöhnt haben, jeden anzuzeigen, der beim Schadstoffalarm noch mit einem Verbrennungsmotor fährt.

Saskia schaut auf die Uhr. 11:30 Uhr. Vielleicht hat Nico Glück, denkt sie, und das Verbot wird aufgehoben, bevor er abends von seinem Job zurück in die Stadt muss. Ihr Sohn fährt trotz allem einen Diesel, genau wie sein Vater, der aber nicht auf das Auto angewiesen ist. So war es nunmal, denkt Saskia: Die Menschen änderten ihre Gewohnheiten und Vorlieben nur sehr langsam. Und die Autohändler verkauften lieber Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor statt Elektroautos. Die roten Ampeln und die heruntergelassenen Schranken waren der Beweis dafür, dass die Verkehrswende nicht geklappt hatte. Sicher, ein Fünftel der Autos fuhr mittlerweile mit Strom, doch für mehr Elektromobilität fehlte die Energie. Manchmal brach das Stromnetz auch heute noch während der Aufladung tausender Fahrzeuge zusammen. Viele Fahrer waren daher dem Verbrennungsmotor treu geblieben. Sie kamen mit der geringen Reichweite der Elektroautos nicht zurecht. In den Wohngebieten mit den Hochhäusern gab es noch immer nicht genug Ladestationen.

Dabei hatten die Besitzer von Elektroautos große Vorteile, wenn die Schranken sich senkten. Die Stadt hatte Signalgeber verteilt, mit denen die Fahrer die Ampeln auf grün schalten konnten. Saskia weiß, dass Nico für den Heimweg wohl zwei Stunden länger benötigen würde, wenn er den Wagen außerhalb der Stadt abstellte und den Rest der Strecke mit dem Bus fahren musste. Sie bewundert ihren Sohn für die Gelassenheit, mit der er diese Strapaze auf sich nimmt. „An 20 Tagen im Jahr kann ich das wohl machen“, erklärte Nico. Ein Elektroauto mit der gleichen Ausstattung wie sein Diesel war einfach noch zu teuer für einen Berufsanfänger. Pendlerschicksal.

Peter Gesslick hatte sein Auto unmittelbar nach dem Tod seiner Frau verkauft. Renate war an einem Asthmaanfall gestorben. Er machte sich noch immer Vorwürfe, dass sie nicht aufs Land gezogen waren, wo die Luft noch sauberer war. Er erinnerte sich, wie oft sie gemeinsam auf dem Balkon gesessen hatten, bis Renate von Hustenanfällen geplagt wurde. Sie reagierte empfindlich auf die dreckige Luft. Viele Menschen in der Stadt hatten dieses Problem. Peter Gesslick hatte das viele Jahre als gottgegeben hingenommen. Er hatte gehofft, dass es Fahrverbote geben würde. Er hatte den Versprechungen der Automobilindustrie und der Politiker geglaubt.

Doch dann hatte er das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik verloren. An einem heißen Tag, als die Grenzwerte wieder einmal übertroffen wurden, hatte er sich einfach auf die Straße gesetzt. Mitten in den Verkehr. Die Autofahrer drohten ihm Prügel an. Die Polizisten trugen ihn weg. Gesslick hatte das Ordnungsgeld gezahlt und sich am nächsten Tag wieder auf die Straße gesetzt. „Die Luft gehört den Menschen, die hier leben“, stand auf seinem Plakat. Plötzlich waren sie mehr geworden, erst die Angehörigen von Freunden, die die Gesslicks im Krankenhaus kennengelernt hatten. Dann die Eltern von einem Kindergarten direkt an der Straße. Der Verkehr in der Stadt war zusammengebrochen. Dann kamen die Medien, die über die ungewöhnliche Aktion berichteten. Und mit ihnen die Touristen, die sich ebenfalls auf die Straße setzten. Überall in Deutschland wurden plötzlich Straßen besetzt.

Die Verantwortlichen der Stadt versuchten zu beschwichtigen. Sie wollten die Autofahrer schützen. Damit verloren sie mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Die Bürger zweifelten sogar die Messwerte der offiziellen Stationen an. Dann kam der Tag, an dem Gesslick einen Chemie-Professor kennenlernte, der ihm erklärte, dass die Messtechnik gar nicht so teuer sei. Ein Startup der Universität hatte diese Chance erkannt und entwickelte ein Gerät, das zuverlässig war und von Laien bedient werden konnte. Der Professor hatte die Messungen mit einer wissenschaftlichen Studie begleitet. Die Geräte überprüfen ihre Genauigkeit selbst. Bei jeder tausendsten Messung benutzen sie ein exakt definiertes Gasgemisch. Wenn diese Messung ein falsches Ergebnis liefert, alarmiert das Gerät einen Techniker.

Der Preis für den kleinen Kasten, der 20 Schadstoffe messen kann, sank auf 189 Euro, seitdem das Produkt in großen Mengen hergestellt werden konnte. Die Geräte melden sich selbstständig beim zentralen Server der Stadt an. Lange Zeit hatte die Bürgerbewegung gestritten, ob sie die Hoheit über die saubere Luft wieder an die Stadt übertragen will. Aber die Erfahrung zeigte, dass man ohne Polizei und Ordnungsamt kein Fahrverbot durchsetzen konnte. Das Netzwerk der Bürgermessungen achtete noch immer auf seine Unabhängigkeit, damit die Messwerte nicht manipuliert werden konnten. Die Stadt hatte die Kosten für die Schranken und die Ampelschaltung übernommen, weil der regelmäßige Polizeieinsatz zur Abriegelung der Straßen zu teuer war.

Die ständigen Messungen haben die Stadt verändert. 6000 Messgeräte auf Balkonen, in Vorgärten, auf dem Dach, im Wald und in Parks liefern ein ziemlich genaues Bild der Luftverschmutzung. Nach dem Tod seiner Frau hatte Gesslick viel Zeit, er arbeitete sich in das Thema Stadtklima ein. Ganz praxisnah, in dem er die Messwerte Tag für Tag verfolgte. Er lernte, dass die Luftqualität in den Straßen nicht nur vom Verkehr und vom Wetter abhängt, sondern auch von den Bäumen, den Fassaden, der Straßenbreite und von der Topologie des Geländes.

In seiner Stadt ist sogar ein Hochhaus gesprengt worden, weil das große Gebäude Frischluftzufuhr für ein Wohngebiet behinderte. Im Nachhinein betrachtet, war das vielleicht eine zu radikale Maßnahme gewesen, aber die Stimmung in der Stadt hatte sich aufgeheizt und der Bürgermeister wollte sich die Wiederwahl sichern. Unter dem Druck der Bevölkerung wurden die Grenzwerte stufenweise gesenkt. Gesslick war froh, dass sich die Idee der Schadstoffpolizei nicht durchgesetzt hatte. Ein paar Aktivisten hatten die Messgeräte auf ein Elektromobil montiert und fuhren damit durch die Stadt. Wenn sie ein Auto mit hohem Schadstoffausstoß entdeckten, stellten sie den Fahrer zur Rede. Es war zu Prügeleien gekommen. Der Fahrer eines alten Geländewagens wollte einfach weiterfahren und war von den Aktivisten krankenhausreif geschlagen worden. Der Bürgermeister musste klarstellen, dass das Gewaltmonopol trotz aller Bürgerbeteiligung noch immer beim Staat liegt.

Foto aus Kopenhagen: Viele Radfahrer sammeln sich vor einer Ampel
Fahrradstadt Kopenhagen: Für Fahrten von weniger als zehn Kilometern steigen in der Hauptstadt die meisten Dänen aufs Rad.