Der Amazonas ist in Wahrheit ein Kulturwald

Die Indigenen Südamerikas sehen sich als Hüter des Waldes. Ihnen gelang, woran die meisten anderen scheiterten – die natürliche Vielfalt zu mehren. Können wir von ihnen lernen?

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
17 Minuten
Gegenlichtaufnahme eines Indigenen mit einem geschnitzten Zeremonialstab.

Fast scheint es ein Naturgesetz zu sein, dass aus blühender Vielfalt eine krisenanfällige Monokultur wird, sobald der Mensch auf den Plan tritt. Die Vorfahren der Maori beispielsweise rotteten Neuseelands große Beutetiere aus, kaum dass sie auf den Inseln angelangt waren. Das antike Rom verschlang derart viel Baumaterial, dass der Umkreis bald abgeholzt war. Und heute sind Schlagzeilen vom Niedergang der Biodiversität Alltag. Etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten könnten in diesem Jahrhundert vom Aussterben bedroht sein, warnt der UN-Biodiversitätsrat.

Es ist wie ein Strudel: Innerhalb der letzten 40 Jahre hat der Planet die Hälfte seiner natürlichen Ökosysteme verloren, und gleichzeitig verdoppelte sich der Verbrauch an natürlichen Ressourcen. Geschätzt ein Achtel der Tier- und Pflanzenarten unserer Erde könnte in den nächsten paar Jahrzehnten verschwinden.

Doch es ist kein Naturgesetz, dass wir Menschen den Reichtum der Natur zerstören. Indigene Kulturen zeigen, dass es auch anders geht. Die Bewohner des Amazonasregenwalds – etwa die Canela, die Wayana oder die Sateré-Mawé – machen das vor.

Biodiversität von Menschenhand

Dass am Mythos von der vermeintlich unausweichlichen Zerstörungswirkung des Homo sapiens etwas nicht stimmen kann, zeigte sich bei archäologischen Studien aus dem Amazonasbecken. Die atemberaubende Vielfalt, die wir heute dort vorfinden, so erkannten die Ausgräber, ist auch ein Werk aus Menschenhand.

Wenn wir uns heute Amazonien als den Ort unberührter Natur vorstellen, so entspricht das kaum der Realität. Das Amazonasgebiet bedeckt weite Teile des südamerikanischen Kontinents. Es ist das Synonym für Diversität schlechthin – nicht allein in biologischer Hinsicht, auch die indigenen Völker haben dort ihre kulturellen Besonderheiten zu wahren gewusst. Hier findet man mit die größte Sprachenvielfalt der Erde.

Lange vor der Kolonisierung durch die Europäer haben sich im Amazonasbecken sehr diverse und komplexe Kulturen entwickelt und eng an ihre Umgebung angepasst. Experten schätzen, dass ein beträchtlicher Teil der Regenwälder, zehn bis zwölf Prozent, auf die sorgfältige Bewirtschaftung durch die indigene Bevölkerung zurückzuführen ist. Der Urwald ist in Wahrheit auch Kulturwald.

Urwald, der bei genauerem Hinsehen ein Garten ist mit den verschiedensten Pflanzen und Obstbäumen am Itacoai-Fluss, im indigenen Schutzgebiet Vale do Javari.
Der Urwald als Garten: Die Biodiversität des Amazonasregenwaldes ist zum Teil menschengemacht. Seit Jahrtausenden sorgen seine Bewohner für Vielfalt in ihrem Umfeld.

Archäologische Daten des amazonischen Tieflands reichen über 13.000 Jahre in die Vergangenheit zurück. Sie zeigen, dass dort die Menschen seit mindestens 7000 Jahren Nutzpflanzen domestiziert haben. Die amazonische Anbaupraxis ist das Ergebnis einer langen Geschichte gegenseitiger Anpassung von Mensch und Natur. Die frühen Bewohner kultivierten den Regenwald, griffen also in die Evolution von Pflanzen und Landschaften ein.

Kolonisierung führte zum Wirtschaftskollaps

Im Team mit Biologen wiesen Archäologen nach, dass in der Umgebung menschlicher Siedlungen mehr Pflanzen und auch mehr Pflanzenarten wachsen als in unbewohnten Teilen. „Es gibt einige weit verbreitete Arten wie den Paranussbaum, eine ikonische und wirtschaftlich wertvolle Art, die weite Teile des Amazonasbeckens beherrscht“, sagt die Archäologin Carla Jaimes Betancourt von der Universität Bonn. „Dieser Baum spielt seit Tausenden von Jahren eine wichtige Rolle für den menschlichen Lebensunterhalt. Seine derzeitige Verbreitung könnte ein Erbe früher menschlicher Siedlungen sein.“

Archäologisch-ökologische Studien über die Interaktion von Mensch und Natur zeigen zudem, wie sich die Bewirtschaftung der Amazonaswälder im Lauf der Zeit verändert hat. So unterbrach „die Kolonisierung die indigenen Bewirtschaftungspraktiken“, sagt Jaimes Betancourt. „Das ist wahrscheinlich auf den Zusammenbruch der präkolumbischen Gesellschaften zurückzuführen und hatte Auswirkungen auf die Wälder.“

Die archäologischen Erkenntnissen zeigen demnach, dass die indigenen Kulturen die Vielfalt ihrer Umwelt vermehrten und „sie auf integrierte Weise bewirtschafteten. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur verschwimmen hier“, sagt die Forscherin. Wie genau die Indigenen am Amazonas vorgingen und was dies bewirkte, lohne sich zu erforschen. Davon könne die Naturschutzpolitik lernen.

Frauen ernten Maniokknollen.
Die Bewohner*innen des amazonischen Tieflands sind Weltmeister*innen in der Diversifizierung. Die afroamerikanischen Aluku (Französisch-Guyana) unterscheiden 90 Manioksorten.
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