Schlaue Schnäbel und eisige Welten: Buchtipps der Flugbegleiter – auch für Weihnachten
Leseempfehlungen für alle, die gerne nicht nur draußen der Natur nahe kommen, sondern damit auf dem Sofa nicht aufhören wollen – für große und kleine Leseabenteuer.
Grönlands eisige Welten – Land der Extreme
Tipp von Claudia Ruby
Möchten Sie jemanden beschenken, der die Extreme liebt? Dann ist dieses Buch genau das Richtige. „Greenland Unseen“ beeindruckt nicht nur durch seine Größe (32 mal 25 Zentimeter) und sein Gewicht (2, 9 Kilogramm). Extrem ist auch das Land, das Carsten Egevang portraitiert, und extrem sind vor allem die Fotos, die einzigartige Geschichten über die Natur und Kultur der Arktis erzählen.
Egevang ist Biologe, er hat den Zug der Küstenseeschwalben erforscht und für das grönländische Institut für natürliche Ressourcen gearbeitet. Heute jedoch ist er nur noch selten als Biologe unterwegs, stattdessen begleitet er mehrere Monate im Jahr Inuit bei der Jagd auf Polarfüchse, Robben, Wale und andere Tiere. Mit seiner Kamera portraitiert er einen Lebensstil, der genauso vom Aussterben bedroht ist, wie die eisige Landschaft, in der die Inuit leben. Wer das Buch durchblättert, kann sich vorstellen, welch ungeheurer Aufwand hinter jedem der über 200 Fotos steckt. Mit dem Boot oder dem Hundeschlitten kämpfen sich die Jäger durch eine schier unendliche Eislandschaft. So gelingen Bilder, die eine Welt zeigen, die wir sonst nicht zu Gesicht bekommen: Hunde, die in einer Schneekuhle Schutz vor einem eisigen Sturm suchen, einen Himmel voller arktischer Zugvögel, Inuit, die mit der Harpune einem Walross gegenüberstehen.
Kurze Texte informieren über Eisbären und Robben, Seevögel und den Klimawandel, Schlittenhunde und Jagdmethoden. Immer wieder geht es dabei auch um Konflikte zwischen Natur- und Artenschutz – und der traditionellen Lebensweise der Grönländer. Im Flugbegleiter-Gespräch hat Egevang vor einiger Zeit erzählt, wie er sich vom radikalen Artenschützer zu einer Art Botschafter für den Lebensstil der Arktis-Bewohner entwickelt hat. „Greenland Unseen“ gibt es in einer englischen und einer dänischen Version. Aber auch, wer keine fremdsprachigen Texte lesen mag, wird an dem Buch Freude haben. Das Herzstück sind ohnehin die großformatigen schwarz-weiß-Fotos. Sie entführen die Leser in eine fremde und faszinierende Welt: genau das Richtige also für kalte Wintertage.
Carsten Egevang: Greenland Unseen, Alle Alle Publishing, 2021, 360 Seiten, 204 s/w-Fotos, 80 Euro + Versand.
Seltsame Geschöpfe in neuem Gewand
Tipp von Carmela Thiele
Nature Writing hat viele Facetten, und nicht immer beschränkt es sich auf das reine Beschreiben von Natur. Das Buch „Curious Creatures“ von Erna Pinner – eine Neuauflage des 1951 erschienenen Originals – besticht durch die besondere Kombination von Text und Bild. Die Autorin, die sowohl Zeichnerin als auch Schriftstellerin war, öffnet die Augen für die Vielfalt der Tiere und deren beneidenswerte Fähigkeit, sich an unterschiedlichste Lebensräume anzupassen. Sie veranschaulicht das technische Geschick der Orientalischen Falltürspinne, die ihre Röhrenfallen mit aufklappbaren, aus Lehm und Spinnfaden gefertigten Deckeln versieht. Den dehnbaren Magen des Chiasmodon, eines schmalen Tiefseefischs, der dreimal größere Beutetiere verschlingen kann. Oder die riesigen Augen der winzigen, nachtaktiven Koboldmakis.
Gegliedert ist das handliche Hardcover thematisch. Die 14 Kapitel handeln etwa vom Kampf um Nahrung, väterlicher Brutpflege oder flugunfähigen Vögeln. In leichtem Ton erzählt, lenken sie den Blick auf Besonderes, bieten aber auch Basisinfos wie die, dass Spinnen keine Insekten sind und Seepferdchen erstaunlicherweise Fische. Die Zeichnungen lassen subtile Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen – etwa zwischen Skorpion und Skorpionfliege oder den Körperhaltungen der gewöhnlichen Stech- und der krankheitsübertragenden Anophelesmücke.
Erna Pinner, 1890 in Frankfurt am Main geboren, zeichnete als junge Künstlerin im Zoo Tiere, damals mit dem reduzierten Strich der Moderne. In den 1920er Jahren hatte sie als Illustratorin und Reiseschriftstellerin Erfolg. Aus jüdischer Familie stammend emigrierte sie 1935 nach London, wo sie unter anderem mit Tierillustrationen ihren Unterhalt verdiente. Durch die Bekanntschaft mit dem Direktor der London Zoological Society fand sie Zugang zu Experten und damit zu neueren Erkenntnissen der Zoologie. „Curious Creatures“ erschien zunächst auf Englisch und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Der Weidle-Verlag machte die deutsche, ebenfalls von Erna Pinner verfasste Ausgabe in neuem Gewand zugänglich.
Erna Pinner: Curious Creatures. Seltsame Geschöpfe der Tierwelt, mit 150 Illustrationen der Autorin und einem Nachwort von Barbara Weidle, Weidle Verlag 2022, 300 Seiten, 30 Euro.
Gemüsevögel-Kalender für gute Laune in der Küche
Tipp von Anne Preger
Durch unsere Geschenktipps flattern in diesem Jahr auch noch ganz andere seltsame Geschöpfe! Haben Sie schon mal einen Zwiebitz oder eine Taubergine gesehen, einen Spinecht oder einen Radiestelfink? Die ersten dieser Zwitterwesen aus Gemüse- und Vögeln haben im März 2020 das Licht der Welt erblickt. Alles begann mit einem Wellenrettich. Den skizzierte die Hamburger Grafikerin Sarah Heuzeroth nach einem Gespräch am Frühstückstisch in einer pandemiebedingten Arbeitspause. Sarah Heuzeroth erstellt Illustrationen vor allem zu Themen aus Natur, Klima und Wissenschaft, unter anderem auch für die Riffreporter.
Seit der Wellenrettich erstmals auf dem Papier Gestalt angenommen hat, wächst der Schwarm an Gemüsevogelarten von Jahr zu Jahr. Inzwischen gibt es einige der schönsten Exemplare unter anderem als handlichen Kalender für die Küche zu Hause – oder vielleicht die Teeküche im Job?
Die Gemüsevögel der Kalenderblätter passen immer zu dem regionalen Gemüse, das im jeweiligen Monat Saison hat. Die Sperbse beispielsweise bevölkert den Juli, und das Rotköhlchen, das es mir besonders angetan hat, bereichert den Dezember. Weiteres saisonales Gemüse ist als Inspiration fürs Einkaufen und Kochen unterm Bild vermerkt. Ein Geschenk für alle, die sich gern vegetarisch oder vegan ernähren oder mehr Freude an Grünzeug entwickeln wollen. Aber nicht nur die: Wer einen Kalender erwirbt, trägt gleichzeitig auch zum Naturschutz bei. Pro Kalender stiftet die Grafikerin zwei Euro an ein NABU-Feuchtwiesen-Projekt zum Schutz des Großen Brachvogels.
Sarah Heuzeroth: Gemüsevögel 2023, DIN A5 Wandkalender, 12, 50 Euro, erhältlich auf Etsy oder in weiteren Läden.
Fast auf Du mit wilden Kolkraben
Tipp von Markus Hofmann
Glück hat, wer beruflich so nebenbei Vögel beobachten kann, die zu den faszinierendsten unserer Breitengrade gehören. Ein solcher Glückspilz ist Heinrich Haller, Biologe und ehemaliger Direktor des Schweizerischen Nationalparks. Im Zuge seiner Arbeit im Nationalpark ist er immer wieder Kolkraben begegnet, den grössten – und manche sagen auch: den klügsten – Singvögeln der Welt. Die Kolkraben wurden mit der Zeit zu seinen Wegbegleitern. Allerdings gehen diese Wegbegleiter in der Regel auf Distanz zum Menschen. Kolkraben wurden in Europa während Jahrhunderten gejagt, mancherorts fast bis zur Ausrottung. Das hat die schlauen Vögel gelehrt, wenn möglich den Menschen aus dem Weg zu fliegen. Heute haben sich die Bestände dank Schutzbemühungen wieder erholt.
Doch Haller hatte einmal mehr Glück. Ein Kolkrabenpaar gewöhnte sich mit der Zeit an den Nationalpark-Direktor, der regelmässig ihr Revier aufsuchte, und liess sich aus nächster Nähe beobachten und fotografieren. Seine Erfahrungen hat Haller in einem persönlichen Porträt über die Kolkraben festgehalten, angereichert mit viel Wissenswertem über Biologie und Kulturgeschichte der Raben. Den Schwerpunkt des Buches machen aber die Fotografien aus. Hier zeigt Haller die Kolkraben in ihrer ganzen Schönheit – und wirbt damit für ein besseres Verständnis dieser schwarzen Vögel, denen teilweise noch immer mit Ablehnung begegnet wird.
Heinrich Haller: Der Kolkrabe. Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie. Haupt Verlag, 2022. 216 Seiten, viele Fotografien. 49 Euro.
Glücksklee, Vogelschiet und dicke Luft
Tipp von Joachim Budde
Eigentlich müsste man Stickstoff umbenennen. Ihm einen Namen geben, der ein bisschen mehr Interesse weckt. Denn eigentlich ist Stickstoff eines der wichtigsten Elemente auf unserem Planeten: Allgegenwärtig in der Luft, Treibstoff für sämtliche Lebewesen, im Überfluss und in der falschen Gesellschaft wiederum ein Umweltgift.
Wer bei Stickstoff an dröge Chemie denkt, denen zeigt meine Flugbegleiter-Kollegin Anne Preger in ihrem Buch „Globale Überdosis“, dass diese Assoziation völlig falsch ist. Denn sie leuchtet spannend, anschaulich, verständlich und witzig all die Aspekte aus, die jede/r über eines der drängendsten Umweltprobleme unserer Zeit wissen sollte. Einen Vorgeschmack gibt es übrigens in meinem Interview mit Anne.
Anne Preger: Globale Überdosis. Stickstoff – die unterschätzte Gefahr für Umwelt und Gesundheit, Quadriga Verlag, 2022. 413 Seiten. 22 Euro.
Weinhähnchen und Wölfe: ein Führer zur reichhaltigen Zürcher Stadtfauna
Tipp von Markus Hofmann
Handliche Führer, die die städtische Fauna vorstellen, sind Mangelware. Fast schon pionierhaft gaben Zürcher Biologen vor zwölf Jahren ein Buch heraus, in dem sie 600 Tierarten der grössten Schweizer Stadt in Text, Bild und Verbreitungskarte vorstellten. Das Buch war ein Volltreffer. Nun legen Stefan Ineichen, Max Ruckstuhl und Stefan Hose einen neuen Band vor – dieses Mal mit 700 Tierarten. Auch diese machen lediglich einen Bruchteil der geschätzten 12.000 bis 16.000 Tierarten Zürichs aus. Doch bei den Vögeln, Säugetieren, Libellen, Heuschrecken, Tagfalter, Amphibien und Reptilien decken sie beinahe alle Arten ab.
In den letzten Jahren hat sich einiges getan in der Stadtfauna, die sich vor allem wegen der Klimaerhitzung sowie eingeschleppten Arten rasch verändert. So ist nun in Zürich an Sommerabenden das Weinhähnchen zu hören, eine Grillenart, die aus dem Mittelmeerraum stammt. Andere Tiere schaffen es alleine in die Stadt wie zum Beispiel der Wolf. Aber es gibt auch Verlierer: Quartiere werden zulasten der Gärten baulich verdichtet, was Igel und Blindschleichen zu spüren bekommen. Und der Brutbestand der Feldlerchen ist praktisch erloschen.
Das Buch fokussiert auf die Stadtfauna Zürichs. Doch viele der Arten kommen auch in anderen mitteleuropäischen Städten vor, weshalb die neue Stadtfauna auch ausserhalb Zürich dienlich sein kann. Zudem ist der nicht auf Zürich konzentrierte Band „Stadtfauna. 600 Tierarten unserer Städte“ weiterhin erhältlich.
Stefan Ineichen, Max Ruckstuhl, Stefan Hose (Hg.): Neue Stadtfauna. 700 Tierarten der Stadt Zürich. Haupt Verlag, 2022. 495 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Karten. 52 Euro.
Geschichten von Vögeln in unseren Städten
Tipp von Johanna Romberg
Wer sich der Stadtnatur lieber über Geschichten nähert als über einen Artenführer, wird vielleicht hier fündig: Es kommt selten vor, dass Ornithologen heute noch neue Vogelarten entdecken, und wenn, dann meist auf abgelegenen Inseln. Aber es gibt Ausnahmen. Vor vier Jahren meldete der niederländische Biologe Menno Schilthuizen, dass die Evolution direkt vor unseren Haustüren eine neue Spezies hervorgebracht habe: Turdus urbanicus, die Stadtamsel. Diese habe sich, so sein Befund, im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in Verhalten und Stimme so weit von ihren scheuen, waldbewohnenden Verwandten entfernt, dass sie einen eigenen Namen verdient hätte.
Ob der demnächst Eingang in Bestimmungsbücher findet, ist noch fraglich. Eines aber zeigt das Beispiel der Stadtamsel auf jeden Fall: Vögel in der Stadt, oft abfällig als Allerweltsarten bezeichnet oder gar als Invasoren bekämpft, verdienen mehr Beachtung – von Forschenden wie Beobachterïnnen. Wegen der erstaunlichen Flexibilität, mit der sie sich in unserer lauten, hektischen und oft gefährlichen Nachbarschaft behaupten; aber auch, weil ihre Geschichten eng mit unserer eigenen verbunden sind – unseren Eingriffen in die Natur und deren oft unvorhergesehenen Folgen.
Zwölf dieser Geschichten hat die Autorin und Biologin Caroline Ring aufgeschrieben; zwölf Vogelporträts, die eigene Beobachtungen mit wissenschaftlichen Infos aus erster Hand kombinieren. Ring erzählt von Halsbandsittichen, die sich mit Vorliebe in frisch gedämmten Fassaden einnisten – mit freundlicher Starthilfe von Spechten, die Dämmschichten so lustvoll perforieren wie morsche Bäume. Sie schildert, wie Uhus die Stadtbiotope zurückerobern, aus denen sie seit dem Mittelalter als „Unglücksvögel“ vertrieben wurden. Sie berichtet aber auch, wie bedenkenlos naturferne Stadtplaner und Bauherren alteingesessene Kulturfolger wie Hausspatz, Mauersegler und Haubenlerche verdrängen – und wie sehr deren Überleben mittlerweile vom Engagement ehrenamtlicher Naturschützerïnnen abhängt. All das ist so spannend, anschaulich und im besten Sinne federleicht erzählt, dass man es wie im Fluge durchliest.
Caroline Ring, Wanderer zwischen den Welten. Was Vögel in Städten erzählen, berlin Verlag, 285 Seiten, 24 Euro.
Vogelwelten: Die unfassbare Schönheit hinter Glas und Schranktüren
Tipp von Christian Schwägerl
Der Gedanke, einen wildlebenden Vogel zu töten, gar den Vertreter einer seltenen Art, ist für Vogelfreunde schwer erträglich. Doch für wissenschaftlich arbeitende Ornithologinnen und Ornithologen ist dies ein professioneller Akt, ja eine Notwendigkeit. Von jeder Vogelart, die taxonomisch neu beschrieben wird, braucht es nach den Regeln der Biologie ein sogenanntes „Typusexemplar“, das Gegenstück zum Urmeter. Als der Ornithologe Martim Melo jüngst auf einer kleinen Tropeninsel eine neue Eulenart in Händen hielt, war kurz darauf ein Exemplar der Neuentdeckung tot – und wenig später ging der Vogel nach allen Regeln der Kunst präpariert auf Reisen durch Naturkundemuseen. Wenn die Tiere einmal dort angelangt sind, ändert sich auch der Blick von Vogelfreunden auf sie. Kunstvoll präparierte Vögel sind dann doch eine Augenweide.
Der Schönheit der Museumsvögel und der ornithologischen Forschung hinter den Kulissen der Naturkundemuseen ist ein wunderbarer neuer Bildband gewidmet. Hochwertige Fotos des Tierfotografen Klaus Nigge sowie Texte des Biologen Karl-Schulze Hagen und des Tierpräparators Jürgen Fiebig ergeben zusammen ein rundes, gelungenes Werk. Unter den Fotos finden sich einige Meisterwerke wie etwa die Aufnahme eines Feuerhornvogels, der im Senckenberg-Museum rücklings auf einem Tisch liegt wie ein frisch verstorbener ägyptischer Pharao. Ebenso beeindruckend: das Panorama zahlreicher Vögel hinter einer Schranktür, die wie lebendig aussehen – als wären sie gerade überrascht worden und hielten kurz inne, um nicht entdeckt zu werden.
Die eingestreuten Texte, ebenso kompetent wie kurzweilig verfasst, handeln vom Forschen, von der Arbeit der Präparatoren und von spannenden historischen Begebenheiten rund um das Entdecken und Sammeln neuer Vogelarten. Dabei kann man etwa die viel zu wenig bekannte Ornithologin Emilie Snethlage kennenlernen, die Anfang des 20. Jahrhunderts am Amazonas geforscht hat, oder die wahre Geschichte des Papageis von Alexander von Humboldt erfahren. Alles in allem ein Werk, das jeden erfreuen wird, der sich für die Vogelwelt und ihre Erforschung interessiert.
Klaus Nigge, Karl Schulze-Hagen, Jürgen Fiebig: Vogelwelten – Expeditionen ins Museum, Knesebeck Verlag, 2022, 40 Euro.
Moose: Weit mehr als fluffige Unterlage in Vogelnestern
Tipp von Christian Schwägerl
Von allen Pflanzen, die uns im Alltag umgeben, werden Moose am wenigsten beachtet und geschätzt. Wir pflanzen und schützen Bäume, bewundern Wildblumen, weil sie so schön bunt und gut für die Bienen sind. Bilder von Farnen mit ihren eingerollten Blättern zieren viele Wände, Gräser bilden den Untergrund für Gartenpartys und Fussballspiele. Einige Arten werden, nicht ganz unerheblich, auch als Lieferanten von Getreidekörnern für Brot und Mehlspeisen geschätzt.
Aber Moose? Für was sind die eigentlich gut? Ja, viele Vögel nutzen sie zum Auskleiden ihrer Nester, das ist ein Pluspunkt. Aber wer kennt auch nur eine Moosart beim Namen? Jeden Samstag knien in Deutschland ungezählte Hausbesitzer in ihren Einfahrten und schaben Moos aus den Ritzen – sofern sie dafür nicht gleich zu Chemiekeule oder Flammenwerfer greifen. Selbst passionierte Pflanzenfreunde schauen bei ihren Exkursionen meistens über die grünen Moospolster auf Steinen, Rinden und dem Waldboden hinweg.
Die kanadische Biologin Robin Wall Kimmerer will sie und alle anderen Naturinteressierten ermuntern, künftig genauer hinzuschauen. Als Schriftstellerin ist sie durch ihren Bestseller „Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen“ weltweit bekannt geworden. Jetzt nutzt sie ihre Popularität, um einer weiteren, noch stärker verkannten Gruppe von Gewächsen zu mehr Wertschätzung zu verhelfen. „Das Sammeln von Moos“ heißt ihr neues Buch. Den Text hat der Verlag Matthes & Seitz programmatisch in moosgrüner Farbe gedruckt. Er lockt seine Leser auf dschungelartig verschlungene Erzählpfade – bis sie sich schließlich fragen, wie um alles in der Welt sie diese Pflanzen bislang so konsequent übersehen konnten.
Kimmerer nimmt im Verlauf ihrer naturkundlichen Erzählung verschiedene Rollen ein. Zum einen tritt sie als Moosexpertin auf. Als solche lehrt und forscht sie an der State University of New York. Leicht verständlich erklärt sie, was Moose auszeichnet, wie sie aufgebaut sind, sich fortpflanzen, und welche zentrale Rolle sie in vielen Ökosystemen einnehmen. Weil sie Forschungsfragen und Forschungsprojekte geschickt in persönliche Geschichten einbettet, registriert man als Leser kaum, dass man ganz nebenbei etwas über Wissenschaft lernt.
Moose sind Pioniere
Moose, so erfahren wir, zählten vor 350 Millionen Jahren zu den ersten echten Landpflanzen – und sind seither Pioniere geblieben. Als erste Gewächse überhaupt haben sie eine Fortpflanzungstechnik entwickelt, der sich heute alle anderen Pflanzen von Farnen bis zu Tannen bedienen: „Das Ei bleibt geschützt im weiblichen Teil, anstatt im Wasser ausgesetzt zu werden.“ Während andere Pflanzen auf Wasser im Boden angewiesen sind, das sie mit ihren Wurzeln aufnehmen, sammeln die Moose lebensspendende Feuchtigkeit aus Luft und Regen ein – was sie zugleich zu Wasserspeichern vieler Lebensräume macht.
Diese besondere Fähigkeit sollte gerade nach dem vergangenen Hitzesommer gefragter sein denn je. Und die Moose können noch mehr: Als Torfmoose bilden sie Moore, die neben Wasser auch Kohlendioxid speichern – und zwar mehr als Wälder. Damit kommt ihnen auch im weltweiten Maßstab eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Erderwärmung zu.. Aus gutem Grund rückt der Schutz der verbliebenen Moore und die Wiedervernässung entwässerter Moorflächen seit einer Weile ins Zentrum der Klimadebatte.
Die Erzählungen aus der Wissenschaft sind kontinuierlich verwoben mit jenen, in denen Kimmerer in ihrer zweiten Erzähl-Persona auftritt: als Angehörige der Citizen Potawatomi Nation auf, einem indigenen Stamm Nordamerikas. „Indigenes Wissen beruht auf dem Grundsatz, dass man etwas erst versteht, wenn man es mit allen vier Aspekten seiner Existenz erfasst hat: Verstand, Körper, Gefühl und Geist“, schreibt sie über diese alternative Perspektive. Kimmerer nimmt ihre Leser zu Exkursionen mit, bei denen sie Moose betastet und deren Präsenz auf sich wirken lässt. In dieser Rolle der sinnlich wahrnehmenden Erzählerin verwandelt sie sich immer wieder in ein mikroskopisch kleines Wesen, so dass man als Leser die Moospolster zugleich als ausgedehnte, hoch aufragende Wälder erleben kann.
Die Autorin schreckt auch nicht davor zurück, menschliche Gefühle in ihre Subjekte zu projizieren. „Welche Kunst des Wartens praktizieren die Moose, während sie da ganz zerknittert auf den sommerlichen Eichen rösten?“, schreibt sie etwa. „Sie rollen sich ein, als würden sie Tagträumen nachhängen. Und sollten Moose tatsächlich träumen, dann vermutlich von Regen.“
„Das Sammeln von Moos“ ist ein gelungener Wurf in der Disziplin des sogenannten Nature Writing. Es kombiniert eine sehr subjektive Perspektive mit profundem Fachwissen über einen Teil der Pflanzenwelt, der gerade wegen seiner Allgegenwart häufig übersehen wird.
So viel sei verraten: Der Griff zum Schaber oder Spritzgeräten, die Moose aus Ritzen verschwinden lassen, ist nach der Lektüre fast unmöglich. Unnötig ist er ohnehin: Kimmerer legt überzeugend dar, dass Moose auf Steinen, Dächern und Fassaden gar nicht die befürchtete zersetzende Wirkung haben. In Zeiten des Klimawandels können sie für Gebäude vielmehr als willkommene Wasserspeicher und Kühlanlagen wirken.
Robin Wall Kimmerer: Das Sammeln von Moos, Matthes & Seitz, 2022, 32 Euro.