Quelle allen Lebens: Warum unsere Zukunft davon abhängt, wie wir mit dem Ozean umgehen
Der Ozean sorgt für Nahrung, Regen, unser Klima und noch viel mehr. Dafür müssen wir ihn besser schützen – nicht nur auf dem Papier. Expertïnnen fordern: 30 Prozent Schutzgebiete bis 2030
Der blaue Ozean mit seinen Korallenriffen, Fischschwärmen und kilometertiefen Abgründen – er spielt im Alltag der meisten Menschen keine große Rolle, sofern sie sich nicht gerade am Strand, auf einem Fischkutter oder einem Kreuzfahrtdampfer befinden. Zumindest scheint es so.
In Wirklichkeit sind die 70 Prozent der Erdoberfläche, die der Ozean bedeckt, die Quelle allen Lebens:
- Über die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre, sozusagen die Luft in jedem zweiten unserer Atemzüge, wird im Ozean freigesetzt – von Algen und Seegräsern, die Photosynthese betreiben.
- Meerwasser und Meeresgrund schützen uns, indem sie riesige Mengen CO2 binden, vor einer noch stärkeren Erderwärmung
- Fische und andere Meerestiere sind für Millionen ärmere Menschen die wichtige Nahrungs- und Proteinquelle, für Wohlhabendere ein gesunder Genuss
- Der Ozean baut Schadstoffe ab, etwa über Plankton
- Gesunde Korallenriffe und Mangrovenwälder schützen vor Fluten und dienen unzähligen Arten als Kinderstube
- Meeresströmungen steuern unser Klima und Wetter. Der Wasserkreislauf, der uns Regen und Trinkwasser bringt, beginnt im Meer.
- Nicht zuletzt lieben die meisten Menschen das Meer: als Wohlfühlort, als Treffpunkt, zum Sport treiben, Angeln, Schnorcheln oder Tauchen. Und als Tourismus-Magnet ist es weltweit eine wichtige Einnahmequelle
All diese sogenannten „Ökosystemleistungen“ erbringt der Ozean kostenlos. Aber nicht bedingungslos.
Es begann mit Tabuzonen im Pazifik
Ihr Funktionieren hängt ab vom Zusammenspiel vieler Arten und Artengruppen, von Organismen im Boden, im Wasser, an der Oberfläche: von minikleinen Zersetzern über Korallen und Algen, Pflanzen- und Fleischfresser bis zu den großen Räubern am Ende der Nahrungskette.
Wir Menschen jedoch bringen dieses Zusammenspiel in Gefahr – und damit uns selbst.
Weil wir den Ozean überfischen, erhitzen und gleichzeitig mit CO2 übersauern, mit Plastik und anderem Dreck vollmüllen und empfindliche Bewohner wie Wale durch Schiffs- und Baulärm stressen. Sogenannte „Todeszonen“, in denen ins Meer geschwemmte Dünger aus der industriellen Landwirtschaft zum Kollaps ganzer Ökosysteme führen, breiten sich aus; ganz aktuell zu beobachten an dem riesigen Schleimteppich, der sich vor der Küste Istanbuls gebildet hat.
Die Folge von alldem: Entsetzlich viele marine Spezies kämpfen ums Überleben.
Das ist, als würde man sagen, wenn wir ein paar Gebäude bauen und Schule drauf schreiben, kümmern wir uns um die Bildungsprobleme! (Bill Ballantine)
Das wichtigste Rezept, um den Ozean zu heilen – zumindest um ihn vor noch mehr Schaden zu bewahren – sind Meeresschutzgebiete.
Schon vor hunderten Jahren richteten pazifische Völker Tabu-Zonen ein, in denen Fischen verboten war, um die Fischbestände stabil zu halten. In den 1920er Jahren übernahmen erste westliche Länder das Konzept, nach dem Zweiten Weltkrieg kam es geradezu in Mode – auch Dank zweier Bücher, die vielen Menschen die Augen in die Unterwasserwelt öffneten: 1951 „Wunder der Meere“ der US-Biologin und Umweltschutz-Pionierin Rachel Carson und 1953 „Die schweigende Welt“ von Tauchlegende Jacques Cousteau.
Schutzgebiete ohne echten Schutz
Mitte der 1970er Jahre gab es bereits über 130 staatliche Meeresschutzgebiete, darunter den Great Barrier Reef Marine Park mit seinen bunten Korallengärten, den Galapagos Nationalpark, Heimat der gleichnamigen Riesenschildkröte sowie unzähliger Hai- und Walarten, oder die Leigh Marine Reserve in Neuseeland, die als Vorreiterin für „no-take“-Zonen gilt: Zonen, in denen absolut nichts aus dem Wasser geholt werden darf; weder Fisch noch Sand noch andere natürliche Ressourcen.
Heute – Stand Mai 2021 – zählt die Datenbank der Weltnaturschutzunion IUCN 18.584 marine Schutzgebiete. Ihre Gesamtfläche übertrifft die der Schutzgebiete an Land. Weltweit sind damit knapp acht Prozent der Meeresflächen geschützt.
Menschen und Wirtschaft profitieren von einem gesünderen Ozean. (Eric Sala)
Diese Zahlen klingen beeindruckend – zeigen allerdings nur einen Teil der Wahrheit. Denn was es nicht gab und bis heute nicht gibt, sind international gültige Standards, die ein Meeresschutzgebiet als solches ausmachen.
„Nahezu jedes Stück Meer, für das eine oder mehrere Sonderregelungen gelten, kann als marines Schutzgebiet bezeichnet werden“, kritisierte bereits 2014 Bill Ballantine, Biologe und erster Direktor der Leigh Marine Reserve in einem Rückblick auf 50 Jahre Meeresschutz.
Das Label sei „attraktiv für Politiker und Behörden. Sie können sich dann einbilden, dass sie sich mit den Problemen der Meeresplanung und des Managements befassen. Das ist jedoch, als würde man sagen, wenn wir ein paar Gebäude bauen und Schule drauf schreiben, kümmern wir uns um die Bildungsprobleme!“
Dreifachgewinn für Natur, Nahrung und Klima
Tatsächlich ist es bisher jedem Land weitgehend selbst überlassen, wie es sich um seine Schutzgebiete kümmert. Welche ökologischen Ziele es formuliert, wie es sie rechtlich absichert, die Bevölkerung einbezieht. Ob kommerzielle Fischerei verboten oder erlaubt ist – wie etwa in deutschen Meeresschutzgebieten – und falls letzteres, unbeschränkt oder beschränkt auf gewissen Fangmethoden oder -zeiten. In manchen Schutzgebieten wird sogar nach Öl oder Gas gebohrt, selbst wenn sie mit Titeln wie „Nationalpark“ oder „Marine Reserve“ deklariert sind.
Wirklich ungestört, von sanftem Tourismus einmal abgesehen, bleibt die Natur in den wenigsten. Genau solche Meeresschutzgebiete bieten aber die Chance, drei der wohl größten Probleme unserer Zeit in den Griff zu bekommen.
- Schutzgebiete sind die Gärten der Biodiversität, bedrohte Arten können sich in ihnen erholen
- Sie helfen, die Fischressourcen und damit die Nahrungsgrundlage von Millionen Menschen zu sichern.
- Sie tragen zum Klimaschutz bei. Denn sie verhindern, dass riesige Mengen CO2 aus dem Meeresboden freigesetzt werden.
Dieser „Triple Win“, also Dreifach-Gewinn, ist kein Wunschdenken, sondern das Ergebnis einer mit harten Zahlen belegten Studie, die 26 internationale Forscherïnnen Mitte März im Fachmagazin Nature veröffentlichten.
Ihr Leitautor Enric Sala, Ozeanologe und „Explorer in Residence“ der National Geographic Society, sagt: „Die Studie macht klar, dass Menschen und Wirtschaft von einem gesünderen Ozean profitieren. Und wenn die Staaten zusammenarbeiten und bis zum Jahr 2030 mindestens 30 Prozent des Ozeans unter Schutz stellen, können wir schnelle Erfolge erreichen.“
Dass 30 Prozent des Ozeans bis 2030 Schutzgebiet werden soll, ist auch keine Träumerei, sondern das Ziel, das sich die „High Ambition Coalition“ – 60 „hochambitionierte“ Staaten angeführt von Frankreich und Costa Rica und unter Mitwirkung von Deutschland – im Januar 2021 selbst gesetzt haben.
Das Ziel: Bis 2030 mindestens 30 Prozent der Erde schützen
Mit diesem Ziel wollen sie auch in den UN-Weltnaturschutzgipfel im Herbst ziehen. Die sogenannte „COP15“, also die 15. Konferenz der Staaten, die sich zur Konvention für biologische Vielfalt zusammengeschlossen haben, findet im Oktober in China statt. Verbindliche Beschlüsse wie „30×30“, also mindestens 30 Prozent der Erdoberfläche als Schutzgebiet bis 2030, gelten als ebenso entscheidend für unser künftiges Wohlergehen auf dem Planeten Erde wie der Weltklimavertrag, der 2015 in Paris beschlossen wurde.
Grundsätzlich sind sich Wissenschaft und ambitionierte Regierungen über das 30×30-Ziel also einig – das ist schon mal viel wert.
Im Detail wird es aber schwierig. Denn 30×30 wird nur dann den erwünschten Effekt haben, wenn der Schutzgedanke kein schöner Gedanke bleibt, sondern auch durchgezogen wird. Dass es also anders läuft als mit den Zielen, die die COP-Staaten für den Zeitraum 2010 bis 2020 vereinbart hatten, um das Artensterben zu stoppen: Kein einziges von 20 wurde erfüllt.
Was wirklich zählt, ist der Anteil der streng geschützten Gewässer. (Joachim Claudet)
Klar ist: Um die heutigen Schutzgebiete zu echten Schutzgebieten zu machen, bleibt noch viel zu tun.
„Die meisten schützen sehr wenig und existieren nur auf dem Papier“, fasst auch Joachim Claudet die Lage zusammen. „Ich sage trotzdem, wir sind heute weiter als vor acht Jahren.“
Marine Weltmacht Frankreich mit riesigen Korallenriffen
Der international anerkannte Meeresschutzexperte arbeitet am französischen Forschungszentrum CNRS und für das Institut für Insel- und Umweltforschung (CRIOBE). Beide haben ihren Sitz im „Maison des Océans“ – einem 1911 von Prince Albert I von Monaco eingeweihtem Gebäude im Pariser Univiertel Quartier Latin, fast so prachtvoll ausgestattet wie der Élysée-Palast, in dem Staatspräsident Emmanuel Macron Anfang 2021 die „Hochambitionierten“ um sich versammelte.
Über dem Eingangstor wacht ein bronzefarbener Riesenkrake, Hörsäle wie Flure, sogar die Aquarien-Räume sind geschmückt mit marinen Fresken, Decken-Ornamenten, Kronleuchtern. In Claudets Büro fällt das Licht durch eine runde Luke, wie in einem Schiff.
Alles im „Haus der Ozeane“ drückt Frankreichs Selbstverständnis als Seemacht aus – mit 10 Millionen Quadratkilometern Ausschließlicher Wirtschaftszone (AWZ, das ist der Bereich bis zu 200 Seemeilen hinter der Küste) steht das Land dank seiner weltweit verstreuten Überseegebieten auf Platz zwei nach den USA, vor Australien, Russland, Neuseeland und Großbritannien.
„Im Vergleich der Anteile an geschützten Gewässern liegen wir international mit rund 33 Prozent auch recht weit vorne“, weiß der französische Experte. Diese Zahl nenne die Regierung auch gerne, um zu demonstrieren, dass sie ihr Ziel bereits erreicht habe. Doch sie zeige nur die Fassade. „Was wirklich zählt, ist der Anteil der streng geschützten Gewässer“, so Claudet, “denn nur sie können tatsächliche Schutzerfolge garantieren.“
Weltmeister beim strengen Meeresschutz ist der Pazifikstaat Palau
Und da sieht die Rangfolge ganz anders aus. Claudet verweist auf den MPA-Atlas. Ein internationales Expertïnnenteam unterzog dafür die IUCN-Zahlen einem Qualitätscheck, trennte quasi die Streu vom Weizen. Ein Klick und für jedes Land poppt nicht nur der Anteil der geschützten Gewässer in dessen AWZ auf, sondern auch der Anteil des streng geschützten Bereichs.
Spitzenreiter beim konsequenten Schutz ist der Pazifikstaat Palau mit 78 Prozent (500.000 Quadratkilometer) streng geschützter Meeresfläche, das entspricht einer Fläche zweimal so groß wie Mexiko. Der Archipel gilt als einer der reichsten Hotspots der Biodiversität weltweit, das Schutzgebiet soll ihn vor zunehmender Überfischung bewahren.
Wer hier ins Wasser taucht, schwimmt inmitten einer schier unglaublichen – und selbst in tropischen Gefilden rar gewordene – Vielfalt an intakten Korallen, kleinen und großen Riff-Fischen, Oktopussen, Seesternen, Riffhaien, Rochen sowie riesige Schulen verschiedener Barrakudaarten und, seit industrielle Trawler draußen bleiben müssen, sind auch wieder große Thunfischschwärme unterwegs.
Vom Schutzziel noch weit entfernt
„An solchen Orten versteht man erst, wie der Normalzustand eigentlich aussehen sollte“, sagt Joachim Claudet, „und wieviel wir bereits verloren haben. Aber auch, was wir wieder erreichen können.“
Nach Palau folgt auf der Liste lange nichts. Dann Großbritannien mit 34 Prozent streng geschützter Meeresfläche (die meisten auch Übersee), Mauritius (29 Prozent) und die USA (23 Prozent). Frankreich bleibt mit 1,6 Prozent weit abgeschlagen.
„Damit sind wir vom Ziel der 30 Prozent weit entfernt“, kommentiert Claudet nüchtern. Zumal vier Fünftel dieser Flächen fern von menschlichen Begehrlichkeiten nach Fisch oder anderen marinen Ressourcen liegen: rund um sechs einsame Inselchen der Französischen Süd- und Antarktisgebiete ganz im Süden des Indischen Ozeans. Statt fair verteilt in allen französischen Meeresgebieten.
Im Mittelmeer, das immerhin zur Hälfte von der EU kontrolliert wird, ist die Lage noch ernüchternder. Claudet und Kollegïnnen haben sämtliche 1063 Gebiete analysiert, die irgendeinen Schutzstatus besitzen, von den Balearen bis nach Syrien. Ergebnis: Zusammen bedecken sie gut 6 Prozent der Meeresfläche.
Doch in 95 Prozent davon existieren keinerlei Regeln, die sie von ungeschützten Gebieten unterscheidet. Nur in 0,23 Prozent hat die Natur wirklich ihre Ruhe, kann sich in „no-take-Zonen“ erholen von Fischereidruck, Verschmutzung und Schiffsverkehr des übrigen Mittelmeers.
Europas Meeresgebiete in schlechtem Zustand
Auch in den übrigen europäischen Meeresgebieten – von den Schelfgebieten in Nord- und Ostsee bis zum Schwarzen Meer – sind laut Daten der Europäischen Umweltagentur 93 Prozent schädlichen menschlichen Belastungen ausgesetzt; genannt wird etwa der übermäßige Zufluss von Schadstoffen, Müll oder Düngemitteln, die Einschleppung gebietsfremde Arten sowie die kommerziellen Fischerei, vor allem die mit bodenschädigenden Grundschleppnetzen.
Weltweit sind etwa 7,8 Prozent der Meeresflächen geschützt, aber nur 2,7 Prozent der Gesamtfläche unterliegt strengem Schutz. Legt man diese Zahl als Maßstab an, wie es mit Claudet viele Expertïnnen fordern, muss die Staatengemeinschaft diese Fläche bis 2030 mehr als verzehnfachen, um 30×30 zu erreichen.
Und dennoch erkennt Monsieur Claudet Fortschritte.
„Der MPA-Atlas sorgt für mehr Transparenz“, sagt der Franzose. Zusätzlich zum Atlas entstand als Gemeinschaftsprojekt von über 100 Meeresschutz-Expertïnnen der MPA-Guide. Das ist ein Wegweiser, der Naturschutzbehörden, -verbänden oder privaten Interessierten ermöglicht, den Schutzwert einzelner Gebiete realistisch einzuordnen – in vier Stufen von minimal bis streng geschützt. Maßstab ist dabei nicht, was „draufsteht“, wie bei der IUCN, sondern was bei den vorhandenen Schutzbemühungen „raus kommt“: der Effekt auf die Biodiversität.
„Überall auf der Welt zeigen unzählige Studien dasselbe“, erklärt Claudet. „Fauna und Flora in einem Schutzgebiet profitieren am meisten, wenn es rechtlich voll implementiert ist und mögliche schädliche Nutzungen minimiert werden.“
Der positive Effekt ist garantiert
Ein Schutzgebiet wirkt also nur dann positiv auf die Biodiversität und die Biomasse, auf die Fischbestände, den Zustand der Riffe, der Kelp- und Mangrovenwälder oder Seegraswiesen, wenn Gesetze ein umfangreiches Management garantieren – gut ausgestattete Behörden und wissenschaftliche Evaluierungen etwa – und potentiellen Störungen untersagt werden – vor allem das Fischen. „Dann aber ist der Effekt quasi garantiert, schon nach wenigen Jahren“, versichert Claudet.
Ein weiterer Aspirant, die „Jardines del Reina“ westlich von Kuba mit ihren über 660 unbewohnten Korallenriffen, sandigen Canyons und Mangroveninseln sind bereits „Hope Spot“: Teil eines globalen Schutzgebiet-Verbunds, den die US-Ozeanologin Sylvie Earle, eine lebende Legende der Meeresforschung, mit ihrer Organisation „Mission Blue“ aufbaut. Ihr Motto: Alles was möglich ist tun, um den Ozean zu erhalten. Tauch – und Naturtouristïnnen lieben Blue Parks oder Hope Spots, daher funktionieren die Hope Spots zur Not auch ohne staatliche Unterstützung.
Als „streng geschützt“ – auf Englisch „fully protected“ oder „highly protected“ – gelten laut MPA-Guide daher nur Gebiete, die in beiden Kategorien hohen Ansprüchen genügen. Minimal geschützte Gebiete, auch das belegt die Studienlage, ziehen vielleicht Touristen an oder fördern das Öko-Image einer Region, erwirken aber keinen positiven ökologischen Effekt, sind naturschutztechnisch also reine Show.
Schwach geschützte Gebiete, die an eine no-take-Zone anschließen, können als Pufferzone wirken. Indem sie etwa verhindern, dass Fangflotten sich direkt am Rand der Verbotszone versammeln, weil auch Fischer natürlich wissen, dass die Fischbestände dort deutlich höher sind.
Was bringt der MPA-Guide praktisch? Engagierte Nationen können ihre Bemühungen mit seiner Hilfe realistisch einschätzen. Die anderen können ihn ignorieren, da die IUCN ihn zwar wissenschaftlich, aber bislang nicht offiziell anerkannt. Ob er bei der COP15 als Standard betrachtet wird oder nur als Ratgeber, ist wiederum fast nebensächlich – Hauptsache die beteiligten Staaten legen einen Zahn zu bei ihren Schutzbemühungen. Der Marathon an Verhandlungen hat bereits begonnen.
Regierungen bremsen, Initiativen machen Tempo
Wie beim Klimaschutz überholen erfreulicherweise auch beim Artenschutz zahlreiche andere Initiativen die zögernden Regierungen.
Dieses Gegeneinander von Fischerei und Meeresschutz muss aufhören. (Boris Worm)
Goldstandard ist eine Auszeichnung als „Blue Park“ oder „Blue Sparks“ für Aspiranten. Um die 30 gibt es mittlerweile, darunter das mittlerweile 138.000 Quadratkilometer große Galapagos Marine Reserve. Neu bewirbt sich der kroatische Nationalpark Brijuni in der nördlichen Adria. 25 seiner 26,5 Quadratkilometer sind für Fischerei tabu, dafür bieten ausgedehnten Seegraswiesen bedrohten Arten wie dem Europäischen Hummer Zuflucht und raren wandernde Arten wie dem Großen Tümmler und der Unechten Karettschildkröte eine sichere Raststätte.
Warum fehlt diese Unterstützung so häufig? Weil sich in den meisten Schutzgebieten, ob schon installiert oder erst geplant, vor allem die Fischerei gegen stärkere Einschränkungen wehrt. Und damit wiederum großen Zorn bei Naturschutzinitiativen auslöst.
Der Streit um Fangquoten, Fischereitechniken, Schonzeiten, no-take-Zonen, Subventionen, nachhaltige Fischerei und den Zustand einzelner Fischbestände wird seit Jahrzehnten heftig geführt (nicht erst seit der umstrittenen Netflix-Doku Seaspiracy), fast überall auf der Welt.
„Dieses Gegeneinander von Fischerei und Meeresschutz muss aufhören, mehr Austausch bringt uns viel weiter“, sagt hingegen Boris Worm, aus Deutschland stammender Experte für Fischressourcen an der Dalhousie University in Kanada und Mitautor der „Nature“-Studie. „Es gibt inzwischen genügend Belege, dass nachhaltige Fischerei möglich ist und beide Seiten langfristig von strengerem Meeresschutz profitieren.“
Fische kennen keine Grenzen
Was die Fischressourcen angeht, spricht Worm vom „Spill-over-Effekt“, und nennt zahlreiche Beispiele, wo diese aus streng geschützten Bereichen in Nachbarzonen „überschwappen“. „Weil Fische keine Grenzen kennen, weder als Larven noch als adulte Tiere.“
- Die Galapagos Marine Reserve etwa hat sich nicht nicht nur die ohnehin reiche Artenvielfalt verbessert, sondern in angrenzenden Gebieten auch die Fischerei, insbesondere die nach heiß begehrten Thunfischen.
- An der Georges Bank an der Südostküste Kanadas haben sich die dramatisch überfischten Bestände von Jakobsmuscheln und Schellfisch „spektakulär erholt“, seit die Hälfte des Gebiets 1994 für die Fischerei gesperrt wurde.
- Im indonesischenn Raja Ampat (Indonesien), wo bis zum Jahr 2000 intensive Hochseefischerei und Wilderei grassierten, sind die Riffe samt ihrer Fisch-, Hai- und Schildkrötenarten, und dank eines gemeindebasierten Meeresschutzgebiets nebst eines Fischereiprogramms „geradezu erstaunlich“ gesundet.
Auch in Australien wiesen Forschungsteams jüngst durch kamera-basierte Studien in 91 Schutzgebieten vor den australischen Küsten nach, dass in Gebieten ohne Fischerei die Anzahl der Fische im Schnitt 28 Prozent höher ist als in fischbaren Gewässern und die Biomasse sogar 53 Prozent höher – und diese Effekte erheblich auf benachbarte Gebiete abstrahlen – je mehr, umso größer und älter die no-take-Zonen sind und wenn sie sich von der Küste bis in tiefe Gewässer erstrecken.
Thünen-Institut fordert stärkere Koordination
Selbst im erst 2012 eröffneten Nationalpark Calanques bei Marseille, im Mittelmeer, hat sich die Biomasse vom Aussterben bedrohter Fischarten wie etwa des Braunen Zackenbarschs in wie jenseits der kleinen no-take-Zone bereits erhöht – so sehr sogar, dass die Behörden organisierte Wilderer bekämpfen müssen.
„Die Widerstandsfähigkeit, die vielen Meeresökosystemen auch heute noch besitzen, trotz Plastik, trotz Klimaerwärmung, beeindruckt mich immer wieder“, sagt Worm.
Weniger überzeugt vom „Spill-over-Effekt“ zeigt sich hingegen Christof Zimmermann, Direktor des Thünen-Instituts für Ostseefischerei. „Dem größeren Gesamtgebiet ist mit no-take-Zonen nicht geholfen“, sagt er. “Denn oft hängen die Flotten an den Grenzen herum und holen dort alles raus. Es braucht ein koordiniertes Fischerei-Management in den angrenzenden Zonen, sonst machen strenge Schutzgebiete keinen Sinn.“
Für Worm ist das kein Widerspruch, im Gegenteil. „Die Suche nach den besten Managementinstrumenten hängt immer vom lokalen Kontext ab.“ Meist jedoch sei eine Kombination aus strategisch platzierten no-take-Zonen, Fangquoten und selektiveren Fischmethoden am vielversprechendsten, um die Meeresfischerei und die Ökosysteme gemeinsam wiederherzustellen. „Am besten findet man diese, wenn Leute aus Fischereiwissenschaft und Naturschutz ihre Unterschiede überbrücken und Daten austauschen, statt die der anderen in Frage zu stellen.“
Der Ozean schluckt bis zu einem Drittel der CO2-Emissionen
Neu in der Nature-Studie ist die Erkenntnis, dass Meeresschutzgebiete auch als effiziente Kohlenstoffsenken wirken, unter der Bedingung dass die Fischerei mit Grundschleppnetzen darin unterbleibt.
Bis zu ein Drittel der globalen CO2-Emissionen werden vom Meer geschluckt und über den Umweg von Mangrovenwäldern oder Seegraswiesen dauerhaft im Meeresgrund gebunden. Netze, die dort entlangrumpeln, um Bodenfische zu fangen, wühlen das gespeicherte CO2 jedoch auf. Es wird remineralisiert und kann wieder in die Atmosphäre gelangen. Damit besteht die Gefahr, dass sich der Ozean im 21. Jahrhundert von der Kohlendioxid-Senke zur Quelle wandelt.
Für ihre Studie haben die Nature-Autorïnnen die größten Kohlenstoffsenken im Ozean kartiert. „Wenn man nur 3,6 Prozent dieser Gebiete streng schützen würde, könnte dadurch ungefähr so viel CO2 versenkt bleiben wie der internationale Flugverkehr emittiert“, sagt Worm.
Die Einsparung kann freilich nur funktionieren, wenn die Grundschleppnetzfischerei nicht einfach ausweicht und sich woanders hinverlagert. Darauf weist Ray Hilborn hin, Professor für Fischereiwissenschaft an der University of Washington und Kritiker der Nature-Studie. Seiner Meinung nach überschätzen ihre Autorïnnen den Nutzen von Fischereiverboten. „Wenn man sich anschaut, was die Bedrohungen für die Ozeane sind, dann sind das die Versauerung der Ozeane, der Klimawandel, invasive Arten, verschiedene Arten der Verschmutzung, Landabfluss, und nichts davon wird durch Schutzgebiete beeinflusst“, sagt Hilborn.
Worm hingegen verweist auf die Karten, die das Team der Nature-Studie erstellt hat. „Praktischerweise überlappen die Kohlenstoffsenken häufig mit den Hotspots der Biodiversität – aber auch mit überfischten Gebieten. Betreiben wir dort strengen Meeresschutz, können wir drei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, so der Ozeanologe. „Gerade in überfischten Gebieten bieten no-take-Zonen die Chancen, die Bestände wieder aufzubauen und um das Gebiet herum eine nachhaltige Fischerei aufzubauen.“
In EU-Schutzgebieten mehr schädliche Fischerei als außerhalb
Diese Gebiete liegen überwiegend in Küstennähe, also nicht in der Hohen See, sondern im unmittelbaren Einflussbereich von Staaten, zeigt die Nature-Studie. In der EU beispielsweise in der Nordsee, in der Ostsee, in der Adria. „Wir fanden heraus, dass es genau dort häufig schon Schutzgebiete gibt. Doch sie werden derzeit noch von Grundschleppnetzen zerpflügt“, kritisiert Worm. „In einer früheren Studie haben wir herausgefunden, dass sogar mehr Grundschleppnetzfischerei läuft als außerhalb. Das ist paradox. Verglichen mit Schutzgebieten an Land würde das bedeuten, dass in ihnen mehr Bäume abgeholzt werden als außerhalb. Das muss sich wirklich ändern.“
Die Rechnung ist einfach: 7,6 Prozent marine Schutzfläche in den Weltmeeren haben wir theoretisch schon – nun muss „nur noch“ der Großteil davon unter strengen, mindestens starken Schutz gestellt werden. Mit Schutzgebieten, die bereits gut wirken, auch wenn sie keine staatliche Anerkennung haben, wie etwa die „Hope Spots“, erreichen wir knappe acht Prozent.
Woher kommt der Rest, der zum Ziel von 30 Prozent bis 2030 fehlt? „Vor allem aus Gebieten in der Hohen See“, sagt Henning von Nordheim, Honorarprofessor für Meeresschutz an der Uni Rostock, davor hat er viele Jahre beim deutschen Bundesamt für Naturschutz internationalen Meeresschutz mitverhandelt.
Das 30×30-Ziel ist zu schaffen
Die Hohe See gehört laut Internationalem Seerecht niemandem oder der gesamten Menschheit, je nach Betrachtungsweise. 2017 erteilte die UN den Auftrag, bis Ende 2021 einen Vertrag zum Schutz der Hohen See zu verhandeln. „Zusätzlich haben in jahrelanger Arbeit regionale Komitees im Rahmen der Biodiversitätskonvention für fast alle globalen Meeresregionen die Artenvielfalts-Hotspots jenseits der AWZs analysiert, gelistet und auf einer Karte zusammengetragen“, berichtet Henning von Nordheim. Ihr Titel: Ökologisch und biologisch bedeutsame Gebiete, kurz EBSAS. „Diese zur Zeit rund 320 Gebiete machen ungefähr 20 Prozent der Ozeanfläche aus und wären wichtige Schutzkandidaten.“
Zwar gibt es noch keine UN-Institution, die sie verwaltet und auch keine Regelwerke, wie sie zu managen sind. Aber die Karten liegen auf dem Tisch der Staatengemeinschaft.
8 + 20 macht 28, fehlen zwei Prozent. Da kommt die Antarktis ins Spiel. „Sie ist derzeit noch wenig geschützt“, weiß David Mouillot, Meeresbiologe an der Université de Montpellier und ebenfalls Mitautor der Nature-Studie. „Aber wenn wir die Standorte für streng geschützte Meeresgebiete sorgfältig auswählen, kann der Gewinn für die Artenvielfalt enorm sein. Gerade die Antarktis wird in naher Zukunft aufgrund des Klimawandels viele gefährdete Arten beherbergen.“
Verwaltet wird das Gebiet rund um den Südpol von den 25 Mitgliedsstaaten der CCAMLR, der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis. Die wiederum diskutiert seit langem Pläne, unter anderem die Ost-Antarktis und die Weddell Sea unter Schutz zu stellen. Zusammen wäre das Gebiet über drei Millionen Quadratkilometer groß.
„Rein numerisch ist es zu schaffen“, sagen die Experten Claudet, Worm und von Nordheim unisono. Bis zum Weltnaturschutzgipfel im Oktober haben die verantwortlichen Regierungen noch Zeit, sich für einen effektiven Meeresschutz zu entscheiden.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.