Szenario 2030: So könnte eine naturnahe Energiewende aussehen
Unter Solaranlagen wachsen Lebensmittel, Jobs entstehen, um Gebäude zu begrünen. Was passieren kann, wenn die Energiewende gepusht wird wie früher Kernkraft und Erdgas.
Nehmen wir an, es träte ein überraschender Fall ein: Die deutsche Politik setzt ihre Versprechen aus den UN-Gipfeln zu Klima- und Naturschutz bis zum Jahr 2030 konsequent um. Wie würde Deutschland dann aussehen, was wäre anders, wie würde unser neuer Alltag aussehen? In der Reihe „Szenario 2030“ beschreiben wir, was eine ökologische Zukunft konkret bedeuten würde – auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das erste Szenario handelte von der Landwirtschaft. Im zweiten Szenario geht es um die Energieerzeugung. Wie können wir klimafreundlich Energie erzeugen, ohne dabei weiter Flächen zu verbrauchen?
Die Sonne brennt vom Himmel, das Thermometer in der Smartwatch von Minister Karl Malersommer zeigt 32 Grad im Schatten. Es ist der vierte heiße Tag in Folge. Die Hitzewelle, die über dem Land liegt, ist zwar vergleichsweise harmlos, aber Malersommer ist dennoch froh, dass er unter einem der vielen Solarmodule stehen kann. Direkt vor seiner Nase summt eine Biene, rostrot und pelzig. Ihm fällt in der Hitze nicht ein, wie sie heißt – aber er weiß, er hat damit zu tun, dass sie hier rumfliegt. Eine kleine Erfolgsgeschichte. Sein Erfolg.
Hier in Thüringen hatte das Projekt „Grünes Energieband“ seinen Anfang genommen. Die Energiegenossenschaft „Sonnenröschen“ war eine der ersten Versuchsflächen des Biotop-Verbundes gewesen, auf dem seit acht Jahren erforscht wird, welches Getreide und welche Obst- und Gemüsesorten gut im Halbschatten der Solarpanele wachsen – und wie die Flächen für Weidetiere genutzt werden können.
Hervorragend machten sich offenbar Erdbeeren und Himbeeren: Bei starkem Regen oder Hagel, der von Jahr zu Jahr extremer wurde, platzen die Früchte auf freiem Feld und verderben. Zu viel Sonne vertragen sie aber auch nicht gut. Früher hatten viele Bauern deswegen zu Schutzfolien aus Plastik gegriffen. Nun erledigten diesen Job Solarmodule aus hagelfestem Glas.
Hecken als Klimaschützer
Der Bau und Betrieb dieser doppelt genutzten Flächen, egal ob darunter Getreide angebaut wird oder dazwischen Nutztiere weiden, richtet sich nach dem „Leitfaden für naturverträgliche und biodiversitätsfördernde Solarparks", der streng kontrolliert wird. Verstöße gegen Naturschutzvorschriften sind schon lange keine Kavaliersdelikte mehr. Wer von den grünen Rangern mit einem grünen Knöllchen belangt wird, muss Bußgelder in empfindlicher Höhe bezahlen.
Besonders wichtig für den ökologischen Erfolg sind die auf dem Genossenschaftsland angepflanzten Hecken. Hier brüten nicht nur wieder vermehrt Heidelerche, Schwarzkehlchen und Neuntöter. Die neuen Hecken sind auch wichtige Senken für Treibhausgase.
Pro Hektar wird in einer Hecke im langjährigen Mittel fast genauso viel Kohlenstoff gebunden wie in Wäldern", sagt die Landwirtin stolz zum Minister. Es gebe kaum eine andere Klimaschutzmaßnahme im Agrarbereich, mit der auf so wenig Fläche so viel Effekt erzielbar sei. Die Hecken müssten alle acht bis 12 Jahre radikal zurückgeschnitten werden, um weiter CO2 aus der Atmosphäre zu binden: „Den Strauchschnitt nutzen wir als Brennstoff für nahegelegene Wärmekraftwerke.“
Bevölkerung profitiert vom Strukturwandel
Die „Sonnenröschen“-Anlage ist geradezu winzig gegenüber den anderen Anlage, die Karl Malersommer bei seiner Deutschlandreise tags zuvor auf dem MIBRAG-Tagebau „Vereinigte Schleenhain“ in Sachsen besucht hatte. Statt wie ursprünglich für 2035 vorgesehen, war der Tagebau dort bereits 2025 beendet worden, seine Renaturierung hatte zügig begonnen. Auf der ehemals aufgerissenen Kraterlandschaft erstrecken sich dort nun Photovoltaikreihen neben Weinreben.
Zudem gibt es vereinzelte Windkrafträder und einen äußerst beliebten Badesee. Realisiert wurden die Energieprojekte im ehemaligen Kohlerevier Leipziger Land durch zahlreiche bürgerlich organisierte Energiegenossenschaften. Auf diese Weise profitieren Menschen von diesem Strukturwandel, die einige Jahre zuvor noch fest damit gerechnet hatten, dass ihre Dörfer abgebaggert würden oder sie ihre Jobs verlören.
Für einen Moment denkt Malersommer daran, in seinem Handy die Bestimmungs-App zu öffnen, um die Biene mit dem rötlich schimmernden flauschigen Pelz zu fotografieren. Die Datenbank hätte ihm sofort mitgeteilt, was hier krabbelt und summt. Die App war Teil der Biodiversitäts-Kampagne der Regierung. Immer wenn jemand eine seltene Insektenart erfasste, wurden Punkte gutgeschrieben, die man später für Mobilität, Computer-Games oder zum Einkaufen einlösen konnte. Seine Kinder liebten dieses Spiel. Aber er lässt das Handy stecken und bemüht sich, der Landwirtin zuzuhören, die akribisch aufzählt, welche Pflanzen hier angebaut werden.
Es ist das dritte Mal, dass er für fünf Wochen im Sommer durch das Land tourt: Diese Sommertouren sind anstrengend, aber wichtiger Teil seiner Öffentlichkeitskampagne. Er würde wie jedes Jahr die wichtigsten Energie-Projekte besuchen, mit großem Medien-Tamtam. Reden halten, für Fotos posieren, Interviews von Journalisten zur Primetime über sich ergehen lassen, TikTok-Lives mit den Klimafluencern, Ehrungen für besonders erfolgreiche Energiesparer.
„Freiheit statt Klima-Marxisten", rufen die früheren Coronaleugner
„Zeigen, was geht“ war schon sein Credo gewesen, als Mitte des Jahrzehnts die Stimmung in der Bevölkerung zunehmend polarisiert geworden war. Ein Teil der Menschen wirkte wegen der immer schneller aufeinanderfolgenden Katastrophenmeldungen immer apathischer: Hier eine Überflutung, dort ein Waldbrand nie gekannten Ausmaßes. Nachrichten über Klimaflüchtlinge waren praktisch täglich in den Schlagzeilen. Die Therapeutenpraxen wurden überrannt von Klimadepressiven.
Andere verharrten in Realitätsverweigerung, hielten an Wirtschaftslehren aus den 1980er-Jahren von unbegrenztem Wachstum fest, pflegten die Hoffnung, dass Wundertechnologien unbegrenzt Energie und Ressourcen zur Verfügung stellen könnten. Hatte er einen schlechten Tag, nannte er sie gegenüber seinen engsten Vertrauten die „Erdöl-Fetischisten“.
Aus der Corona-Querdenker-Bewegung hatte sich eine kleine, aber äußert radikalisierte und gewaltbereite Gruppe herausgebildet, die mehrfach versuchte, den Bundestag zu stürmen, um Beschlüsse für den Klimaschutz abzuwenden. Ihr Kampfruf „Freiheit statt Klima-Marxisten“ ließ ihn schaudern. Doch auch Teile der Gegenproteste waren immer aggressiver geworden: Öko-Proteste, bei denen Molotow-Cocktails auf geparkte SUV flogen, kamen immer häufiger vor.
Als die Gaspreise in einem sehr kalten und langen Winter stark stiegen, explodierte die Stimmung endgültig. Im wahrsten Sinne des Wortes; es hatte mehrere Anschläge auf Politiker:innen gegeben. Bei Massenprotesten gegen die steigenden Kosten für Heizung, Sprit und Lebensmittel waren mehrere Menschen ums Leben gekommen.
Vom Forscher zum Minister
In dieser Atmosphäre waren mehrere Koalitionen geplatzt, bis nachts sein Handy geklingelt hatte und die neue Kanzlerin ihn fragte, ob er das neue Ressort übernehmen wolle: Das Ministerium für Naturnahe Energiewende, Energieverbrauchsreduktion und negative Emissionen.
Ja, er, der parteilose Karl Malersommer, einst Leiter eines Forschungsinstituts für Energieeffizienz, später Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt – wollte.
„Die große Transformation zur Nachhaltigkeit kann mit viel positiver Energie und einer guten Choreografie gelingen.“ Mit diesem Satz war er als Bürgermeister angetreten und dieses Motto treibt ihn auch heute noch an. Auch wenn ihm klar war, dass sein Leben nicht mehr wie früher sein würde. Personenschutz war seit Antritt seines Amtes sein Begleiter. Auch beim Besuch der Energiegenossenschaft „Sonnenröschen“ steht der Leibwächter nur wenige Meter von ihm entfernt und schwitzt in der schwarzen schussfesten Montur mitten in der Agri-PV-Anlage, um das Gespräch von Malersommer mit der Landwirtin zu sichern.
Harter Konflikt zwischen Natur- und Klimaschützern
„Agri-PV“ seufzt er innerlich, er lehnte diesen technokratischen Begriff für Agrikultur und Photovoltaik ab. Ging es noch scheußlicher? Aber mit der Zeit würde sich die Art Energieerzeugung, die ihm vorschwebte, und für die seiner Meinung nach diese Versuchsfläche stand, auch in der Sprache abbilden: Energie, die in bestmöglicher Symbiose mit Flora und Fauna erzeugt wird und nicht gegen sie.
Mit dem Argument des Klimaschutzes war eine Zeitlang versucht worden, alles Mögliche zu legitimieren: Die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, um den Strombedarf für die Wasserstoffelektrolyse zu decken, reduzierte Naturschutzauflagen für E-Auto-Fabriken oder die Ausbeutung von hochsensiblen Ökosysteme wie der Tiefsee als neue Rohstoffquelle. Wie einst für Braun- und Steinkohle, Erdöl und Erdgas wurde die Erde nun für Lithium, Zink, Chrom, Nickel, Zirkonium, Platin, Palladium, Rhodium und allerlei weitere seltene Erden aufgerissen. Nicht nur im Amazonas, sondern auch in Europa führte dies immer öfter zu Protesten der lokalen Bevölkerung.
Auch der Ausbau der Erneuerbaren war viel zu lange nur unter dem Gesichtspunkt „CO2-neutrale Energie“ betrachtet, Argumente von Naturschützern als lästig empfunden worden. Der notwendige Stromnetz- und Windkraftausbau war lange vehement von verschiedenen Gruppen blockiert worden: Betroffene Anwohner, Natur- und Vogelschützer, Atomlobby sowie Klimawandelleugner hatten merkwürdige Allianzen gebildet.
Der Konflikt zwischen Windindustrie und Naturschutzverbänden war insbesondere beim Vogelschutz immer mehr eskaliert. Es gab Demos von Aktivisten gegen Windkraftanlagen, Demos von Industrievertretern gegen Naturschützer.
Ein Bürgerrat für die Energiewende
Natürlich, Strom aus erneuerbaren Energien war die Lösung. Aber die Rücksichtslosigkeit, mit der Energiepflanzen angebaut, Windkraftwerke in Wälder gestellt wurden und Großinvestoren Ackerfläche aufkauften, um riesige Solarparks zu bauen – ohne gleichzeitig Landwirtschaft zu ermöglichen oder Biotope zu schützen – war ihm schon immer ein Dorn im Auge. Das würde unter ihm endgültig ein Ende finden.
In dieser verfahrenen Situation hatte das Ministerium für Naturnahe Energiewende einen Bürgerrat organisiert, der sich mit einer fairen Lösung der diversen Energiewende-Problematiken auseinandersetzen sollte. Mit Hilfe von wissenschaftlichem Input hatten die repräsentativ ausgewählten Bürger:innen zahlreiche Ideen entwickelt. Die finalen Vorschläge hatten ihn verblüfft, gingen sie doch nicht zuletzt an Deutschlands einst liebstes Kind: Billigflüge und Autos.
Im Wesentlichen hatte der Rat sich hinter die Idee gestellt, die Energieerzeugung innerhalb der planetaren Grenzen zu denken. Das stellte einen Bruch dar mit den Entwürfen der technokratischen Think-Tanks, die davon ausgingen, der Energieverbrauch durch Digitalisierung und Strom für E-Autos könnte fortlaufend weiter steigen.
Sein Ministerium hatte als erstes einen Kriterienkatalog in Anlehnung an die wirtschaftswissenschaftliche Theorie der Donut-Ökonomie entwickelt. Mit dem Donut, einem süßen Kringel, hatte die Ökonomin Kate Raworth einen Handlungsspielraum für wirtschaftliches Handeln innerhalb dieser Grenzen visualisiert. Kern der deutschen Umsetzung war es, den Verbrauch von Primärressourcen, also nicht nur der fossilen Brennstoffe, sondern auch von Mineralien und Metallen, zu begrenzen. Dazu hatten die Verwendungszwecke priorisiert werden müssen. Das war zuallererst die zuverlässige Energieproduktion für Strom, Wärme und Kühlung und die Lebensmittelversorgung, gefolgt von Digitalisierung, sofern sie die Energie- und Verkehrswende stützte, sowie die öffentliche Nah- und Fernmobilität.
Verabschiedet war das Ziel schnell, doch ernst genommen hatte es anfangs kaum jemand. Dabei half dann die Gaskrise und die Lieferschwierigkeiten bei Halbleitern und anderen Ressourcen, da Lieferketten während der Corona-Pandemie löchrig geworden waren und insbesondere China weltweit immer mehr Rohstoff-Abbaugebiete unter seine Kontrolle gebracht hatte. Die immer häufiger auftretenden Wetterextreme belasteten die globalen Lieferketten immer mehr. Das Priorisierungsziel wurde zum Gesetz.
Vom Flughafen zum Windpark
Malersommer schreckt auf. Er hatte sich in Erinnerungen verloren und verpasst, was die Energie-Landwirtin zuletzt gesagt hatte. Er sagt ein paar unverbindliche Worte in die Kamera, nickt freundlich und schreitet entlang der Obstbäume Richtung Auto. Sein Personal hat per App eines der elektrischen On-Demand-Shuttle gerufen.
In den Städten war sehr schnell und sehr rigoros der individuelle motorisierte Verkehr zugunsten mehr Platz für Fußgänger, Radwegen und Bussen gedrosselt worden, um Energie zu sparen. Doch hier auf dem Land gab es noch immer sehr viele der konventionellen Fahrzeuge. Das würde sich bald ändern.
Der Minister blickt auf seinem Tablet in den Kalender: Der nächste Stopp der Sommertour ist der ehemalige Frankfurter Flughafen. Der Betreiber hatte Insolvenz angemeldet und der Staat war nicht mehr mit Finanzhilfen eingesprungen. Den Flugverkehr zu schrumpfen, war ohnehin Teil der deutschen Klimastrategie.
Wenig später taten sich Investoren aus dem Industrie- und Chemiepark Höchst zusammen und kauften das Gelände. Seither war dort ein Windpark mit inzwischen mehreren Hundert besonders leistungsstarken Windkraftanlage entstanden. Der Windstrom versorgte Anlagen der BASF zur Wasserstoffelektrolyse mit grünem Strom; die Stadt Frankfurt freute sich über die Gewerbesteuereinnahmen aus dem Energiezentrum.
Vor allem aber hatte der Frankfurter Windpark eine Wendung in dem Konflikt zwischen Windindustrie und Naturschutzverbänden bedeutet. Der Windkraft-Ausbauplan sah vor, die Anlagen in bestimmten Regionen zu konzentrieren, und zwar bevorzugt in solchen, die ohnehin schon industriell genutzt wurden. Auch dies war ein Konsens aus dem Bürgerrat.
Windräder, die anfliegende Vögel erkennen
In Frankfurt standen seither auch einige der ersten Windräder, deren Rotoren und Türme nicht mehr nur aus Stahl und Beton bestanden, sondern zu großen Teilen auch aus Holz. Damit wurde die Fertigung der Energieanlagen deutlich klimafreundlicher als zuvor.
Heute war das ehemalige Flugfeld immer noch der größte innerdeutsche Windpark. Aber das Beispiel hatte auf vielen anderen Industriebrachen des Landes Schule gemacht: Ehemalige zubetonierte Parkplätze und Tankstellen sowie stillgelegte Regionalflughäfen waren heute Windzentren. Windräder stehen inzwischen selbstverständlich in Gewerbegebieten und nicht mehr mitten in Wäldern.
Obwohl vorab genutzt, muss natürlich wie bei jeder anderen Windpark-Planung auch bei den Industrieflächen der Standort vorab fachlich begutachtet und ausgeschlossen werden, dass die Rotoren nicht in einer Vogel-Flugschneise stehen würden. Gebiete mit besonders schützenswerten Arten, wie etwa dem Rotmilan, sind inzwischen ohnehin tabu. Antikollisionssysteme sind seit Jahren bundesweit Pflicht. Diese Verschärfung des Naturschutzrechts hatte die Forschung an Detektionssystemen deutlich beschleunigt.
Solche Systeme erkennen heranfliegende Vögel und Fledermäuse automatisch und schalten ein Windrad rechtzeitig ab, bevor es zu einer tödlichen Begegnung kommt. Anfangs hatten einige Betreiber versucht, die Abschaltungen auszutricksen. Doch jeder von den grünen Rangern nachgewiesene tote Vogel und jede tote Fledermaus zieht hohe Bußgelder nach sich. Die Systeme sind zwar nicht zu 100 Prozent perfekt. Aber die Vogelbestände haben sich insgesamt erholt, weil im ganzen Land Lebensräume renaturiert und Gebäude vogelsicher gebaut werden, der Autoverkehr reduziert ist und die ökologischere Landwirtschaft das Futterangebot für Tiere vergrößert.
Stromtrassen und Windkrafträder auf Autobahnen
Um den Strom aus den Windzentren, von den Meeresanlagen sowie aus dem Ausland zu den Industrie- und Wasserstoffzentren zu transportieren, war ein sehr schneller Stromnetzausbau nötig. Doch den Leitungen stand die Bevölkerung lange ähnlich kritisch gegenüber wie den Windkrafträdern selbst.
Die Idee, die im Bürgerrat präferiert wurde, stammte ursprünglich von einem der federführenden Wissenschaftler:innen aus dem Projekt Elia. Ziel des europäischen Vorhaben war es gewesen, grüne Korridore unter Freileitungen in bewaldeten Gebieten in Belgien und Frankreich zu schaffen. Sie hatten in diesen Zonen, für die Bäume gefällt und Sträucher gestutzt worden waren und kaum noch etwas blühte und krabbelte, angefangen, Feuchtbiotope anzulegen oder Weidelandwirtschaft mit Ziegen und Schafen einzuführen.
Das deutsche Vorhaben ging nun einen deutlichen Schritt weiter: Statt den umstrittenen Ausbau auf neuen Trassen weiter zu forcieren, sollte die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung weitestgehend auf den bestehenden Autobahnstrecken entstehen. Nicht neben ihnen, sondern darauf.
Vorher sechs- bis achtspurige Strecken würden halbiert werden. Der Individualverkehr hatte sich ohnehin bereits reduziert, überholen musste schon lange niemand mehr: Ein digital kontrolliertes Tempolimit war als Klimaschutz- und Energiesparmaßnahme schon vor Jahren eingeführt worden.
Auf einigen Strecken war bereits damit begonnen worden, den Asphalt zu entfernen und das Bodenleben zu renaturieren. Einfach war das nicht, denn das Abreißen der Asphaltdecke war nur der allererste Schritt. In vielen Fällen war die naturgetreue Wiederherstellung des Bodens nicht mehr möglich, aber wenigstens einzelne Bodenfunktionen konnten wiederbelebt werden.
Begonnen wurde meist mit Bodenlockerung und einer Zwischenbegrünung mit Leguminosen – bis dann die ersten Pionierarten folgten. Tausende Biologen, Ökologen und Bodenkundler auf Landes- und kommunaler Ebene würden noch Jahre mit dieser anspruchsvollen und langwierigen Aufgabe betraut sein. Dort, wo der Boden nicht zu retten schien, aber die Windbedingungen günstig, werden weitere Windkrafträder gebaut.
Autobahn-Rückbau schafft Platz für Naturräume
Einige deutsche Autobahnen wie die A20 führen durch stark bedrohte Lebensräume wie Moore und Torfgebiete. Der weitere Rückbau wird nicht nur Schutz für klimabedeutsame Pilznetzwerke, Pflanzen- und Tierarten bedeuten, deren Populationen zuvor stark dezimiert wurde, sondern reduziert auch den noch vorhandenen Individualverkehr weiter, der Feinstaub, Abgase und Lärmbelästigung verursacht.
Auf den noch verbleibenden Autobahn-Strecken werden zunehmend elektrisch betriebene Straßenbahnen eingesetzt, die sich auf virtuellen Schienen bewegen. Die Waggons werden über Sensoren sowie das globale Navigationssystem gesteuert. Weil keine Schienen gelegt werden müssen, sind die Investitionskosten deutlich niedriger als bei herkömmlichen Zügen.
Allerdings werden der knappe Stahl und die regelmäßig auftretenden Lieferschwierigkeiten bei anderen Rohstoffen zunehmend zum Problem. Daher die Idee mit der Umweltprämie: Alle Bürger:innen, die ihre Autos in den nächsten zwölf Monaten zur Kreislauf-Verschrottung geben würden, sollten die nächsten fünf Jahre mit allen Bahnen kostenfrei fahren dürfen.
Biotope auf den Dächern
Obwohl die Autoindustrie längst keine Schlüsselindustrie mehr in Deutschland ist, prägen die nostalgischen Gedanken daran immer noch das öffentliche Meinungsbild. Ohne Zweifel würde diese Idee daher erneut auf enormen Widerstand stoßen, wenngleich er bereits mit seiner allerersten Amtshandlung bewiesen hatte, welche lokale Wertschöpfung beherzte Maßnahmen nach sich ziehen: Er hatte die Umsetzung der Solaroffensive im Gebäudebereich massiv beschleunigt. Denn die Hauswände, Fassaden und Balkone zu nutzen, kann ein Viertel des Stromverbrauches in Deutschland decken – ganz ohne weitere Flächenversiegelung. Der direkte Verbrauch des Solarstroms entlastet zudem die Stromnetze.
Gleichzeitig war der Einbau von Gas- und Ölheizungen sofort verboten worden. Gebäudeintegrierte Photovoltaik und Wärmepumpen werden seither finanziell gefördert wie einst die Kernenergie, Flugbenzin oder Pendlerverkehre. Es war ein harter Kampf mit den Vertreter:innen der „schwarzen Null“ gewesen. Aber auch hier hatte die Gasrevolte geholfen.
„Kein Haus ohne“ lautete sein Ziel. Ganz so weit war es zwar noch nicht, aber Deutschland hatte sich bereits sichtbar verändert. Die Dachflächen werden bei der Solaroffensive zugleich begrünt – auch um das Insektensterben zu stoppen. Als Neubauten sind ohnehin fast nur noch mehrstöckige Energieplushäuser genehmigungsfähig.
Die zunehmend begrünten Dächer der sanierten Gebäude sind zu Oasen für Wildbienen, Käfer, Schmetterlinge, Ameisen und Wanzen geworden. Die Verdunstung der Pflanzen schafft auch bei den immer häufigeren Hitzetagen Erleichterung. Auf dem Gebäude des Ministeriums für Naturnahe Energiewende in Berlin wurde sogar ein kleiner Teich angelegt. Manchmal sitzt der Minister dort, um Manuskripte vorzubereiten. Das Vogelzwitschern beruhigt ihn dann. Der letzte Starkregen hatte die Fläche zwar in Mitleidenschaft gezogen, aber wer weiß, wie sehr die Kanalisation ohne die vielen grünen Dächer überlastet gewesen wäre.
Arbeitsplatzboom durch Energiewende
Zum grünen Kurs der Regierung gehörte es ganz zentral, den vielen arbeitslosen Ingenieur:innen aus der Autoindustrie eine Perspektive zu geben, nachdem die deutschen Hersteller endgültig das Rennen gegen die Chinesen verloren hatten.
Die Offensive hatte für einen Arbeitsplatzboom gesorgt, der ihn sogar selbst überrascht hatte. Die komplexen Energielösungen im Gebäudebereich erforderten Spezialwissen von Ingenieur:innen, stellten die zahlreichen Unternehmen, die sich mit Batterietechnologien und Energiewende-Dienstleistungen beschäftigten, immer neue Mitarbeiter:innen ein.
Solarteure und Landschaftsgärtner wurden händeringend gesucht. Auch die kleinteiligere ökologische Land und -forstwirtschaft, bei der eine Kombination aus altbewährten Methoden wie Rückpferde und neue Technologien, darunter Drohnen und leichtere, wendigere Geräte, zum Einsatz kamen, hatte Arbeitsplätze geschaffen.
Auf dem Tablet erzeugt eine Hitze-Warnmeldung für die kommenden drei Tage einen lauten Alarmton und reißt den Minister aus seinen Gedanken. Das heißt, seufzt Malersommer still in sich hinein, die nächsten Stationen der Sommertour werden noch etwas anstrengender. Aber auch etwas gemächlicher. Denn wenn die Klimaanlagen großflächig anspringen, fahren die On-Demand-Shuttle und Straßenbahnen langsamer, um Strom zu sparen.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.