„Eine Chance für die Geburt neuer Wälder“
Franz Leibl, Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, über Borkenkäfer, zurückkehrende Auerhühner und den Waldgipfel der Bundesregierung
Am 25. September richtet die Bundesregierung einen „Waldgipfel“ aus. Anlass sind Schäden, die durch zwei Dürrejahre entstanden sind. Doch es geht um mehr: Die Erderhitzung verändert unseren Wald massiv. Für Unruhe sorgt die Ausbreitung des Borkenkäfers. Franz Leibl ist seit 2011 Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald – und damit des ersten Nationalparks Deutschlands im größten zusammenhängen Waldgebiet Mitteleuropas. Er blickt ganz anders auf die Situation: als eine Chance dafür, dass sich wieder naturnähere Wälder entwickeln und die Bestände seltener Waldvogelarten sich erholen.
Herr Leibl, wie besorgt sind Sie über die aktuelle Situation des deutschen Waldes?
Franz Leibl: Die Situation unserer Wälder ist wirklich ungewöhnlich. Deutschlandweit sind viele Waldparzellen durch die Extremwetterlagen der Jahre 2018 und 2019 geschädigt oder sogar abgestorben. Ob die Gesamtsituation so besorgniserregend ist, wie es von Forstkreisen dargestellt wird, bleibt aber abzuwarten.
Wie meinen Sie das?
Es ist rund ein Prozent der deutschen Waldfläche betroffen, also 110.000 Hektar von 11 Millionen Hektar. Da sollten nicht ausschließlich die vergangenen Extremjahre als Maßstab für die Zukunft des Waldes gesehen werden. Es gilt, längere Zeiträume zu betrachten und zu analysieren.
Neben dem Dürrestress ist der Borkenkäfer, genauer der Buchdrucker, ein wichtiges Thema. Taugt er wirklich als das Feindbild, zu dem er immer gemacht wird?
Der Buchdrucker profitiert zweifelsohne von trocken-heißen Frühjahrs- und Sommermonaten. Auch Windwürfe begünstigen die Art. Außer Frage steht auch, dass er in Fichtenplantagen großen wirtschaftlichen Schaden verursachen kann. Dort ist er das Feindbild der mit Fichte wirtschaftenden Waldbesitzer. Diese Feststellung gilt aber nicht für Naturwälder, wie wir sie zum Beispiel in Nationalparks finden.
Sondern?
Hier ist der Buchdrucker Gestalter des Waldes, indem er die natürliche Verjüngung anregt und auch einen Beitrag zum Waldumbau leistet.
Im Nationalpark Bayerischer Wald wurden schon seit längerem Waldflächen, die bei mehreren Stürmen umgeworfen wurden, nicht abgeräumt, sondern in einer großen Geduldsprobe für die Region dem Borkenkäfer überlassen – kann das ein Modell für ganz Deutschland sein?
Die Ereignisse und die Waldentwicklung im Nationalpark Bayerischer Wald können nicht pauschal als Modell für die Wälder Deutschlands gesehen werden, da die Waldökosysteme unserer Region nur eine Mittelgebirgsregion abdecken und eben nicht die komplette Standortvielfalt Deutschlands.
Das stimmt natürlich geographisch, aber wie sieht es in der Sache aus?
Ganz allgemein kann man von der Waldentwicklung unseres Nationalparks durchaus lernen. So sollten natürliche Störungsflächen in Wäldern nicht gleich als Katastrophe, sondern als Chance für die Geburt neuer Wälder gewertet werden. Denn wir wissen zwischenzeitlich, dass sich über die natürliche Sukzession neue, ökologisch höchst interessante und vitale Wälder entwickeln können.
Was heißt das konkret, was hat die besondere Strategie im Nationalpark Bayerischer Wald ökologisch gebracht, wie hat sich die Artenvielfalt entwickelt?
Dass wir so ein natürliches Störereignis zugelassen haben, hat zweifelsohne die Artenvielfalt begünstigt, vor allem die Vielfalt waldtypischer und ursprünglicher Arten, der sogenannten Urwald-Reliktarten. Diese Arten profitieren vom Nationalparkprinzip, Natur Natur sein lassen. Das spiegelt sich auch in der Vogelwelt wieder.
Wie genau?
Nicht umsonst hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in den vom Buchdrucker und von Windwurfereignissen geprägten Hochlagen des Nationalparks eine der größten Auerhuhnpopulationen Mitteleuropas etabliert.
Wie genau haben Auerhühner in diesen Lagen profitiert? Und wie stabil ist die Population?
Die Auerhühner profitieren von den lückigen, totholzreichen, jungen Bergfichtenwäldern. Der aktuelle Bestand der beiden benachbarten Nationalparke Bayerischer Wald und Sumava umfasst rund 400 Individuen. Der Bestand ist in den vergangenen zehn Jahren in etwa konstant geblieben, mit leicht nach oben gehender Tendenz. Berücksichtigt man noch die Berge außerhalb der Nationalparke, so kommt man auf eine grenzübergreifende Population von rund 600 Tieren.
Was ist sonst durch die Verjüngung des Waldes in der Vogelwelt bei Ihnen passiert, gibt es explizite Gewinner oder auch Verlierer?
Von den jungen Sukzessionswäldern profitieren vor allem in den Hochlagen Arten wie der Gartenrotschwanz, der Wendehals und natürlich auch der Baumpieper. Verlierer sind uns nicht bekannt.
Was sind Entwicklungsziele für die Vogelwelt im Nationalpark Bayerischer Wald?
Gesteuerte Entwicklungsziele gibt es nicht, da auch hier das Prinzip gilt, Natur Natur sein zu lassen. Wichtig ist aber, dass unser Park die komplette Waldvogelfauna dieses Mittelgebirges abdeckt. Dazu gehören auch die Vorkommen des Zwergschnäppers, des Dreizehen- und des Weißrückenspechts, die wir insbesondere in den naturbelassenen Wäldern des Parks finden.
Anfangs tobte um die Laissez-faire-Strategie in der Region und unter Fachleuten ein heftiger Streit – wie ist die aktuelle Situation?
Als die Hochlagenwälder, ausgelöst durch Buchdruckerbefall, flächig abstarben, hat das in der örtlichen Bevölkerung zunächst Bestürzung und Ärger ausgelöst. Forstfachleute haben Prognosen gemacht, die, wie wir heute wissen, unsinnig waren.
Welche?
Dass sich in den Hochlagen nach dem Buchdruckerbefall eine Grassteppe entwickeln wird. Aktuell wird die vitale Jungwaldentwicklung von der Bevölkerung positiv gesehen. Fachwissenschaftler verfolgen mit, wie sich Naturwälder mit einem hohen ökologischen Reifegrad entwickeln.
In Thüringen rückt wegen des Käferbefalls die Bundeswehr aus und sprengt alte Bäume – wie beurteilen Sie das als Fachmann?
Ökologisches und fachliches Unverständnis scheint keine Grenzen zu kennen.
Über einen Waldumbau, der die Artenvielfalt fördert und Wälder widerstandsfähiger gegen die Erderhitzung macht, wird schon länger gesprochen – wie beurteilen Sie die Fortschritte in Deutschland?
Echte Fortschritte sind für mich derzeit nicht erkennbar. Im Gegenteil: Man setzt auf Subventionen der Waldeigentümer, auf Waldbau-Aktionismus, ohne dabei fachlich überdachte und ausgereifte Konzepte zu haben. Für sehr bedenklich halte ich eine forstfachliche Beratung von Waldbesitzern, die auf einen Waldumbau mit fremdländischen Arten setzt.
Was ist die Alternative?
Die vorhandene Naturverjüngung sollte in den Fokus rücken, der Wert von Pionierbaumarten und frühen Sukzessionsstadien Beachtung finden.
Was würden Sie heute einem Waldbesitzer raten, dessen Wald nur aus Fichten-Monokulturen besteht?
Ich würde ihm raten, rechtzeitig eine Naturverjüngung und Vorbau mit Mischbaumarten zu etablieren, die Produktionszeiten zu verkürzen und intensiv zu durchforsten. Auch ein angepasster Wildbestand ist hilfreich.
Was wünschen Sie sich als Ergebnis des Waldgipfels?
Eine fachlich-sachliche Herangehensweise an das Thema „Wälder der Zukunft“, ohne sofort reflexartig das finanzielle Füllhorn über die Waldeigentümer auszuschütten und ohne überzogenen Bepflanzungsaktionismus, der langfristig unseren Waldökosystemen mehr schadet als nützt. Ich befürchte aber, dass sich unsere überwiegend ökonomisch orientierte Forstwirtschaft, vor allem die verschiedenen Waldbesitzerorganisationen, mit ihren Vorstellungen bei der Politik durchsetzen werden.
Wie wird sich der Nationalpark Bayerischer Wald unter Dürrestress und Klimawandel entwickeln, und was tun Sie als Direktor aktiv, um das Schutzgebiet auf die Veränderungen vorzubereiten?
Wir meinen das sehr ernst: Im Nationalpark gilt das Prinzip, Natur Natur sein zu lassen. Der Mensch ist hier Beobachter und Lernender. Wir werden deshalb akribisch verfolgen und festhalten, wie sich Mittelgebirgswälder ohne Zutun des Menschen auch in Zeiten des Klimawandels entwickeln und ausprägen. Die Forstwissenschaft und Forstwirtschaft wird von diesen menschlich nicht manipulierten Wäldern lernen können.