Erneuerbare Energie: Diese Israelin wagt sich ins Blaue – mit neu gedachten Wellenkraftwerken
Inna Braverman hat als Baby Tschernobyl überlebt. Heute kämpft sie für sauberen Strom – aus dem Ozean. Das Mittelmeer ist nur der Anfang
2010, Pool-Party in Tel Aviv. Die junge Politikstudentin nippt an ihrem Drink. Setzt sich ein älterer Typ zu ihr, ein Hippie, denkt sie. Er fragt sie nach ihrer Passion. „Wellenkraft“, antwortet sie, und der Mann will es nicht glauben. Er kommt gerade von seinem jüngsten Investment zurück, einem Surf-Camp in Panama. Man muss doch noch was anderes anfangen können mit dieser Urgewalt aus dem Meer, dachte er beim Blick auf die Surfer.
„Wellenenergie hatte damals einen miesen Ruf“, erinnert sich Inna Braverman, „unser Treffen war ein unglaubliches Match.“ Die 23-jährige Israelin am Beckenrand konnte nämlich genau erklären, wieso bisher alle daran gescheitert waren, die Energie aus dem Meer anzuzapfen – und was sie selbst anders machen würde. Der Hippie entpuppte sich als der jüdisch-kanadische Unternehmer David Leb. Er forderte sie auf, einen Businessplan zu schreiben.
Heute ist Braverman Chefin von Eco Wave Power. Am Mittelmeer hat sie die ersten Wellenkraftwerke der Welt installiert, deren Strom sicher ins Netz gespeist werden kann. Klingt ein bisschen arg nach Start-Up-Märchen? Zugegeben. Doch wer sich Inna Bravermans Geschichte anhört, glaubt bald nicht mehr an Zufälle.
Leicht ist sie nicht abzupassen. Gerade war sie in den USA, die Kalifornier überzeugen, auf Grüne Energie umzustellen. 66 Prozent des Strombedarfs ließe sich in den USA mit Wellenkraft decken, glaubt sie. Auf den Fotos mit dem ehemaligen Gouverneur Arnold Schwarzenegger trägt sie schwindelig-hohe Absätze. Aus Prinzip. Sollen sich Männer endlich dran gewöhnen, dass nicht nur Frauen in flachen Schuhen was zu sagen haben. Ihre Verantwortung als Vorreiterin nimmt sie ernst. Überhaupt: Verantwortung.
Braverman kam im ukrainischen Tscherkassy zur Welt. Just an dem Tag, als die Mutter das erste Mal frische Luft schnupperte mit ihrer Neugeborenen, explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Die Sowjet-Regierung vertuschte die Katastrophe zunächst. Einige Tage nach dem Unglück fand ihre Mutter das Baby blau und reglos im Bettchen. Als Krankenschwester wusste sie glücklicherweise, was zu tun ist, und beatmete sie rechtzeitig. Braverman wurde ein zweites Leben geschenkt – und das bekam sie ihre ganze Kindheit zu hören. „Ich wusste schon ganz früh, dass ich es besonders gut nutzen muss.“
Dass ihre Eltern sich 1990 entschlossen, nach Israel auszuwandern, lag nicht nur an Tschernobyl. „Ich war zu klein, aber meine Schwester erinnert sich noch an Anrufe mit antisemitischen Beschimpfungen.“ Wie alle emigrierenden Juden mussten sie Wohnungen und Autos der Sowjet-Union „schenken“ und durften nur ein paar hundert Dollar mitnehmen.
Von der Umweltkatastrophe in den Nahost-Konflikt
Die Töchter wuchsen nun am Mittelmeer auf, in der kleinen Küstenstadt Akko, in der die Hälfte der Bevölkerung Arabisch ist. Sehr beschaulich, frische Luft, aber auch nicht ganz so einfach: Es war die Zeit, als sich die Palästinenser das erste Mal gegen die israelische Besatzung erhoben. Dann brach der Zweite Golfkrieg aus. Ihr erstes jüdisches Neujahrsfest verbrachte die Familie im Luftschutzkeller.
„Auf der anderen Seite war da dieses Gefühl, dass in Israel jeder alles werden kann“, sagt Braverman: Vielleicht weil Israelis schon immer erfinderisch sein mussten, da das Land keine natürlichen Ressourcen hat. Und weil die Leute keine Zeit verschwenden. Denn wer weiß, was morgen ist.
„Ich dachte naiv, ich studiere Politik und dann verändere ich die Welt.“ Immerhin verhalf ihr das Englisch aus dem Studium zu einem Übersetzungsjob – zufällig landete sie bei einer Firma für erneuerbare Energien. „Bald wusste ich alles über Grüne Energie, und ich wusste, dass mich Sonne und Wind langweilten. Da passierte nichts Innovatives mehr.“
Wellenenergie dagegen erschien ihr aufregend: Wasser ist tausendmal dichter als Luft. Theoretisch kann man damit also viel günstiger Strom produzieren. Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Küstennähe, der Strom muss nicht erst durchs ganze Land geleitet werden – und anders als Wind oder Sonne sind Wellen rund um die Uhr verfügbar. Laut Weltenergierat hat die Kraft aus dem Ozean damit enormes Potenzial: Doppelt so viel Strom ließe sich damit gewinnen wie bislang weltweit produziert wird.
Allerdings galt der Sektor auch als hochriskant. Seit den 1980 ern waren Unsummen in winzige Anlagen gesteckt worden – die meisten überlebten im Testlauf nur wenige Tage. „Niemand wusste, ob sich die Energie sicher ins Netz einspeisen lasse, und niemand wollte die Anlagen versichern.“ Braverman vergrub sich in Forschungs-Daten. „Ohne technischen Hintergrund, nur mit Neugierde.“ Und das war wahrscheinlich ihr Vorteil: Sie machte sich ihre eigenen Gedanken.
Mächtige Wogen, mächtiges Risiko
Gut 200 Unternehmen gab es damals, um das Jahr 2010, schon auf dem Markt, beinahe alle experimentierten „offshore“. Ihre Logik: Wo die Wellen am größten sind, lässt sich am effektivsten Strom produzieren. „Aber es bedeutet eben auch, dass alles Gerät zwanzig Meter hohen Wellen standhalten muss.“ Dazu rollen die Wellen mitten im Meer aus allen Richtungen heran. Die ganze Industrie arbeite mit hydraulischen Zylindern, erklärt Braverman. Je länger der Zylinder, desto höher das Risiko, dass er bricht. Die Standard-Zylinder messen deswegen nur fünf Meter, sowieso werde also nicht die ganze Wucht einer Riesen-Welle in Energie umgesetzt. Zumindest noch nicht.
Ausgerechnet von den Umweltschützern kam am meisten Gegenwind: Die gigantischen Anlagen treiben vier, fünf Kilometer vor der Küste und müssen aufwändig am Meeresboden befestigt werden. Dazu braucht es Taucher, Schiffe, lange Unterwasserkabel – und viel Geld. Die Auswirkungen aufs Ökosystem kann man sich vorstellen.
Braverman dachte: „Wieso nicht bescheiden anfangen, wo es sicher und zugänglich ist?“ Und der Natur nicht schadet. An der Küste sind die Wellen zwar nicht so hoch, dafür rollen sie in die richtige Richtung.
Die 23-Jährige googelte, wie man einen Businessplan schreibt und konnte es nicht fassen, dass ihr der Hippie von der Party tatsächlich eine Million Dollar anvertraute. „Als wir Eco Wave Power 2011 gründeten, hielten uns alle für verrückt.“ Inzwischen sei sich die Forschung zwar einig, dass „Onshore“ der einzige Weg sei, um Wellenkraft kosteneffizient zu nutzen. Die meisten Firmen halten trotzdem an Offshore fest. „Sie haben einfach schon so viel Geld in der Entwicklung verbrannt“, glaubt Braverman.
Mit ihrer Million in der Tasche reiste sie in die Ukraine und schrieb einen Wettbewerb aus, um sich günstig ein Team an schlauen Köpfen einzukaufen. Nach ein paar Wochen stand ihr erstes Modell.
Sie testeten es im hydromechanischen Institut von Kiew. „Da gab es zwei Wellenpools, im anderen Becken experimentierten iranische Forscher mit Torpedos.“ Braverman lacht, es ist eine ihrer Lieblingsstorys. Sie fragte die Iraner, ob sie Fotos machen dürfe. Als diese hörten, dass sie aus Israel kommt, verfielen sie in Panik. „Sie dachten, ich sei eine Mossad-Agentin.“
Weil die Ukraine im Gegensatz zu Israel so schön unbürokratisch war, beschloss sie ihren Prototyp dort das erste Mal echten Wellen – und Stürmen – auszusetzen, an der Küste vor der Krim-Halbinsel. Die Technologie hielt den Erwartungen stand, und Israel gab grünes Licht für einen Testlauf im Mittelmeer, am alten Fischerhafen von Jaffa bei Tel Aviv. Kaum hatte sie den Prototyp verschifft, besetzte Russland die Krim. „Ein paar Wochen später, und das Equipment wäre verloren gewesen.“
2016, fünf Jahre nach der Gründung ihres Start-Ups, konnte Bravermann die Regierung von Gibraltar von ihrem System überzeugen und eine vorerst kleine Anlage ans Stromnetz koppeln. Das Wellenkraftwerk sitzt, wie alle Eco Wave-Anlagen, an einer menschgemachten Struktur – in diesem Fall an einer Anlegestelle für Munitionslieferungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die teure Ausrüstung befindet sich sicher an Land, nur die Schwimmkörper liegen auf dem Wasser. Sie schaukeln mit den Wellen und schieben über hydraulische Zylinder eine Flüssigkeit in Speicher an Land. Der aufgebaute Druck bewegt einen Motor, der wiederum einen Generator antreibt. Die Gesamtkosten betrugen nur 450.000 Dollar, sagt Braverman. Das sei vergleichbar mit dem Preis von Windturbinen. Und das System ist voll versicherbar, weil sich die Schwimmkörper bei Sturm aus dem Wasser heben: „Ein Durchbruch!“
Eine Welle nach der anderen
Im Sommer 2023 zogen die Israelis nach. In Gibraltar war nichts explodiert und auch die kleine Versuchsanlage im Fischerhafen von Jaffa pumpte seit sechs Jahren zuverlässig vor sich hin. Eine neue Anlage mit zehn Schwimmkörpern liefert nun für den Anfang 100 Kilowatt, versorgt also etwas hundert Haushalte in Tel Aviv mit grünem Strom. Das ist nicht viel, aber es ist das perfekte Anschauungsmodell, um Zweifler zu überzeugen. Größere Projekte in Portugal und Spanien sind in Planung. Etwa 400 Megawatt sollen damit produziert werden. Das entspricht der Leistung von 80 modernen Windturbinen und dem Bedarf von etwa 320.000 Haushalten. Bravermans Vision: Küste für Küste die Weltmeere erobern. Die Kalifornier haben schon angebissen.
„Die Königin der Wellen“ wurde für ihre Pionierrolle mit allerlei Preisen ausgezeichnet, wie dem „Global Climate Action“-Award der UN 2019. Sie hat bewiesen, dass es möglich ist, kostengünstig und sicher grüne Energie aus dem Meer zu zapfen, hat sich durch Regulationen gekämpft, mit Regierungen verhandelt und es geschafft, ihr Start-Up als erstes israelisches Unternehmen auf dem Nasdaq Stockholm an die Börse zu bringen.
Doch eines hat sich kaum verändert. Auf den meisten Konferenzen ist sie immer noch die einzige Frau, sagt Braverman: „Die Männer werden nach ihrer Meinung gefragt, ich nach einem Espresso.“
Seit dem 7. Oktober kommt noch eine weitere Hürde hinzu. Seit die Hamas-Terroristen ihr brutales Massaker verübten, und Israels Armee Gaza unerbittlich bombardiert, schlägt dem kleinen Land überall auf der Welt der Hass entgegen. „Einige Länder wollen derzeit nicht mit uns arbeiten. Zumindest nicht offen“, sagt Braverman. Allerdings: Nur fünf Tage nach dem Massaker bekam sie eine Anfrage für eine Kooperation – ausgerechnet aus Katar, der Hauptgeldquelle der Hamas.
Auch das hat sie gelernt vom Meer. Wellen kommen und gehen. Braverman macht es wie die Surfer: „Ich nehme eine nach der anderen.“
Das Projekt „Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.