Krank nach der Impfung: Wie zuverlässig die Behörden seltene Nebenwirkungen finden

Noch immer schrecken viele Menschen vor der Corona-Impfung zurück. Sie fürchten den Pieks mehr als die Krankheit.

vom Recherche-Kollektiv Corona: ,
14 Minuten
Demonstranten halten ein Schild mit der Aufschrift „Wahrheit statt Propaganda“ hoch.

Der Sommer kommt, die Inzidenzen sinken, die Impfpflicht ist tot. Der Ukraine-Krieg verdrängt die Pandemie aus dem Bewusstsein. Doch noch immer fehlt etwa sieben Prozent der Menschen in Deutschland jeglicher Schutz gegen das Sars-Coronavirus 2. Wie kommt es, dass immer noch so viele vor der Impfung zurückschrecken und in Kauf nehmen, im Herbst oder Winter schwer zu erkranken? Eine Spurensuche.

Sich impfen zu lassen, war für die Wissenschaftsjournalistin Eva Wolfangel selbstverständlich. Auch ihre Tochter lässt sie bei erster Gelegenheit impfen. An einem Samstag im November 2021 nimmt sie die Zwölfjährige mit ins Impfzentrum. Nie zuvor hat das Kind Probleme mit der Gesundheit gehabt.

Am Sonntag ist noch alles in Ordnung. Doch am Montag kommt das Mädchen früher aus der Schule: „Meine Beine fühlen sich so komisch an“, sagt sie. „Ich fühle die nicht mehr richtig.“

Eva Wolfangel ist verunsichert. Als sie bei Google nur die beiden Worte „taube Beine“ eintippt, schlägt die Suchmaschine ihr sofort als Ergänzung „nach Impfung“ vor. Offenbar suchen viele Menschen nach diesen Symptomen.

Also ruft sie ihre Kinderärztin an. „Das kommt von der Impfung“, sagt die Medizinerin und rät ihr, ins Krankenhaus zu fahren. Dort aber erlebt sie eine Überraschung: Der Arzt stellt dem Mädchen Fragen: Ob sie hingefallen sei? Ob sie vor der Impfung gruselige Geschichten darüber gelesen habe?

Erst als Eva Wolfangel auf gründlichen Untersuchungen besteht, stellen die Ärzte fest: Die Nerven in den Beinen des Mädchens leiten die Signale schlechter als normal. Sie melden den Fall der Aufsichtsbehörde, dem Paul-Ehrlich-Institut.

Wäre Eva Wolfangel weniger hartnäckig gewesen, hätte das PEI wohl nie davon erfahren.

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Es sind Erfahrungen wie diese, die sogar Impfbefürworterïnnen ratlos zurücklassen. Erst recht ist es Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Impfungen in Bausch und Bogen ablehnen.

„Null Mangel an Information.“

Kann es sein, dass Ärztinnen und Ärzte zu wenig Impfnebenwirkungen melden? Dazu sind sie eigentlich gesetzlich verpflichtet. Und das PEI ist auf diese Meldungen angewiesen, um auch die seltenen schweren Nebenwirkungen der Vakzine zu entdecken.

Blick in ein Zimmer auf der Intensivstation: Menschen in Schutzanzügen und Mund-Nase-Masken legen einer älteren Patientin eine Sauerstoffmaske an.
Noch immer müssen viele Covid-Patientïnnen, denen der Impfschutz fehlt, auf der Intensivstation im Krankenhaus behandelt werden. [Symbolbild]

Wenn Menschen den Eindruck bekommen, die Gesundheitsbehörden könnten die unliebsamen Nachrichten über „schwere unerwünschte Impfreaktionen“, wie Nebenwirkungen, Komplikationen oder Impfschäden im Fachjargon heißen, verschweigen, hat das schlimme Folgen für das Vertrauen in die offiziellen Stellen und die Impfungen.

Die Haltung der Behörden wird bei einer Podiumsdiskussion des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig klar: „Wir haben in Deutschland null Mangel an Information“, sagt Christian Bogdan, Professor für Mikrobiologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko). Doch offenbar kommt diese Information nicht bei den Menschen an, die sie bräuchten. Das zeigt Cornelia Betsch von der Universität Erfurt. Die Professorin für Gesundheitskommunikation und ihr Team haben knapp zwei Jahre lang für die Cosmo-Studie jede Woche 1000 Menschen in ganz Deutschland befragt – unter anderem zur Corona-Impfung.

Betsch fasst die Position der Menschen, die sich noch nicht haben impfen lassen, so zusammen: „Die allergrößte Mehrheit – etwa 60 und 70 Prozent der Leute, die jetzt nicht geimpft sind – sagt: ‚Ich möchte mich auf keinen Fall impfen lassen. Das geht nicht in mich rein.‘“

Schwurbler oder Whistleblower?

Für Schlagzeilen und lautes Gezwitscher in den Sozialen Medien sorgen hingegen Nachrichten wie diese: Harald Matthes von der Berliner Charité berichtete Anfang Mai 2022, viel mehr Menschen litten unter „schweren Nebenwirkungen“ durch die Impfungen als das PEI erfasst habe. Das will er in seiner „ImpfSurv“-Umfrage herausgefunden haben, schreibt der Inhaber der Stiftungsprofessur für Anthroposophie und Spezialist für „Anthroposophische Medizin“ und „Mistelforschung“.

Eine ähnliche Meldung setzte die BKK ProVita im Februar 2022 ab. Ihr damaliger Vorstand Andreas Schöfbeck schreibt dem Paul-Ehrlich-Institut, er habe die Abrechnungsdaten aller Versicherten der deutschen Betriebskrankenkassen (BKK) durchsucht – immerhin knapp elf Millionen Menschen. Das Ergebnis: Nur bei diesem einen Krankenkassenverband rechneten in den ersten sieben bis acht Monaten des Jahres 2021 Ärztinnen und Ärzte fast genauso viele Behandlungen wegen Impfnebenwirkungen ab, wie das PEI insgesamt Verdachtsmeldungen über das ganze Jahr 2021 gesammelt hat – bezogen auf sämtliche 92 Millionen Corona-Impfungen in dieser Zeit.

Wenn man die Zahlen der BKK auf die ganze Bevölkerung und das gesamte Jahr hochrechne – so überschlägt Schöfbeck in seinem Brief – wären „2,5–3 Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen nach Corona-Impfung in ärztlicher Behandlung gewesen“.

Werden Nebenwirkungen der Corona-Impfungen in Deutschland nicht richtig erfasst? Oder ist es „undifferenzierte Schwurbelei“, wie Dirk Heinrich, der Vorsitzende des Virchow-Bundes, des Berufsverbands der niedergelassenen Ärzte, wettert?

An der Kommunikation hapert es

Fest steht, dass viele Vertreter der Ärzteschaft und der Forschung an den normalen Menschen vorbei kommunizieren. Sie erreichen sie nicht – sei es, weil in der Corona-Pandemie so viele Informationen auf die Leute einprasseln, dass nur noch die wenigsten den Überblick behalten können. Sei es, weil sie mit dem Absolutheitsanspruch „Die Impfung ist sicher“ jeden Zweifel beiseite wischen wollen.

Die Menschen haben ja Angst.

Marcel Schorrlepp, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft hausärztlicher Internisten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.

Genau das kritisiert der Immunologe Bill Murphy von der University of California in Davis, USA: „Die Menschen, die nach einer Impfung Beschwerden haben, geraten fast in einen Zustand von Paranoia“, sagt er. Wer glaube, zu wenig Informationen zu bekommen, suche sie sich im Internet. Und werde für medizinische oder wissenschaftliche Experten erst recht unerreichbar.

„Die Menschen haben ja Angst“, sagt Marcel Schorrlepp, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft hausärztlicher Internisten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, also einer der obersten Hausärzte in Deutschland. Aber wovor eigentlich? Sämtliche Impfstoffe, die in Deutschland zum Einsatz kommen, haben vor der Zulassung klinische Studien mit zehntausenden Freiwilligen durchlaufen. „Ich glaube, noch nie ist ein Medikament in der Kürze der Zeit so gut untersucht und so sorgsam beobachtet worden“, sagt Schorrlepp.

Seltene Nebenwirkungen können erstmal durchs Raster fallen

Seit Beginn der Impfkampagne Ende 2020 überwachen die Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt die Vakzine weiter.

In Deutschland sammelt das PEI Meldungen über echte und vermeintliche Komplikationen, Nebenwirkungen und Schäden durch die Corona-Impfungen und wertet sie aus (wie Überwachung von Impfstoffen funktioniert und welche Schwierigkeiten es damit gibt).

Denn die klinischen Studien können nur Nebenwirkungen entdecken, die mindestens einmal bei zehntausend Impfungen auftreten. Was noch seltener ist, fällt durchs Raster – erst einmal.

Ein Mann mit Brille lächelt in die Kamera.
Marcel Schorrlepp, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft hausärztlicher Internisten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.

Daher rechnen Gesundheitsbehörden immer damit, dass ihnen auch nach der Zulassung von Medikamenten noch weitere unerwünschte Reaktionen auffallen. Das war bei den Impfstoffen nicht anders. Schnell erkannte man, dass etwa der Vaxzevria-Impfstoff von Astrazeneca in seltenen Fällen gefährliche Thrombosen auslösen kann. Oder dass vor allem junge Männer nach Impfung mit einem mRNA-Impfstoff einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, eine Herzmuskelentzündung zu erleiden.

Solche Meldungen verunsichern manche Menschen. Was allerdings viele übersehen: Nicht die Gesundheit ohne Impfung ist der Maßstab für das Risiko, sondern die Gefahr, die von Covid-19 ausgeht. Zahlreiche Studien zeigen eindeutig: Die Zahl der Covid-19-Komplikationen übertrifft das Risiko der schweren Impfnebenwirkungen um ein Vielfaches [siehe Kasten].

Die Stiko hat wegen der Erkenntnisse aus der Impfstoffüberwachung ihre Empfehlungen angepasst: Den Impfstoff von Moderna sollen nur noch Menschen ab 30 erhalten. Der Impfstoff von Astrazeneca empfiehlt sie nur noch für Menschen ab 60. Effektiv kommt Vaxzevria Inzwischen nicht mehr zum Einsatz in Deutschland.

Die Impfstoffüberwachung funktioniert also. Aber erwischt sie auch wirklich sämtliche schweren Impfnebenwirkungen?

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Jana Ruhrländer bekommt ihre Impfung im Juli 2021 in einem Impfzentrum in Nordhessen. Sie verläuft unspektakulär. Auf der Busfahrt nach Hause sitzt neben ihr ein älterer Herr, erzählt sie. „Er war sehr aufgeregt und zittrig. Ich habe ihn beruhigt und gesagt: ‚Jetzt haben wir es geschafft.‘“

Abends bekommt die Studentin brennende Kopfschmerzen. Nach ein paar Tagen breitet sich von ihrer linken Seite aus ein Kribbeln auf ihren ganzen Körper aus. „Es fühlte sich die ganze Zeit so an, als laufe elektrischer Strom durch mich durch“, sagt sie. Sie bekommt Sehstörungen. „Ich hatte riesigen Durst, aber jeder Tropfen ist einfach durch mich durchgelaufen“, erzählt sie.

Immer wieder geht sie ins Krankenhaus. Und die Anfälle kehren immer wieder. Bis heute.

Sie leidet unter bleierner Müdigkeit, einer chronischen Fatigue, wie Ärzte das nennen. Außerdem hat sie Nervenschmerzen, Herzrasen, extrem hohen Blutdruck. Manchmal ist sie so verzweifelt, dass sie beginnt, auf ihrem Handy Abschiedsbriefe zu schreiben – an ihren Mann, an ihre Kinder. „Das hat sich wirklich wochenlang nach Sterben angefühlt.“

Ihre neurologischen Beschwerden gleichen schweren Long-Covid-Fällen.

Die Ärzte stellen sie komplett auf den Kopf. Doch bis sie etwas herausfinden, dauert es. In Ruhrländers Rückenmarksflüssigkeit finden die Medizinerïnnen schließlich mehr weiße Blutkörperchen als normal – ein Zeichen für Infektionen oder Entzündungen im Körper. „Ich muss fast schon von Glück reden“, sagt Jana Ruhrländer: „Bei vielen anderen Betroffenen, wurde wirklich gar nichts gefunden, außer dieser abnormen Puls- und Blutdruckwerte“.

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„Neurologische Beschwerden nach einer Impfungen sind ein ganz heikles Thema“, sagt der Neurologe Harald Prüß von der Charité in Berlin. Menschen mit Krankheiten wie chronischer Fatigue sieht er regelmäßig. Er glaube zwar, dass die Corona-Impfungen sehr unterschiedliche neurologische Beschwerden auslösen könnten, allerdings seien diese Beschwerden als Impfnebenwirkungen ausgesprochen selten. „Dafür sprechen alle Daten.“ Und viel seltener als Long Covid nach einer Covid-Erkrankung.

Noch fehlen Biomarker

Genau das macht es so schwer sie nachzuweisen. Es fehlen Biomarker – also Zellen, Enzyme oder Hormone, die das klar anzeigen können.

Das stellt Ärzte vor ein Dilemma: War nun die Impfung, Covid-19 oder etwas ganz anderes die Ursache für Beschwerden? Zum Beispiel können Beeinträchtigungen psychosomatische Ursachen haben.

Sorgen mache ich mir um die wenigen Patienten, die tatsächlich eine Impfwirkung haben und denen Unrecht getan wird.

Harald Prüß, Direktor der Abteilung Experimentelle Neurologie, Charité Berlin.

Das Chronische Müdigkeitssyndrom etwa ist nicht so selten wie man vielleicht annehmen sollte. Verschiedene Studien kommen auf Zahlen zwischen 15 und 45 Fällen bei 100.000 Menschen pro Jahr – ganz unabhängig von Covid oder Impfung. Nicht immer können Ärztinnen aber eine Ursache finden. Und dann suchen Patienten um so mehr nach Gründen für ihre Krankheit.

Harald Prüß gibt ein Beispiel: „Täglich kommt es in Deutschland zu etwa 30 neuen Diagnosen von Multipler Sklerose.“ Wer sich heute impfen lasse und in einer Woche die Diagnose Multiple Sklerose erhalte, denke automatisch: Das kann doch kein Zufall sein. „Wir haben alle ein gewisses Kausalitätsbedürfnis“, sagt Prüß.

Außerdem: In einer französische Studie, auf die Harald Prüß hinweist, befragten Wissenschaftlerïnnen knapp 26.000 Menschen in Frankreich zu ihren Symptomen nach einer Corona-Infektion. Eine Gruppe der Teilnehmerïnnen war nie infiziert. Eine weitere hatte sich mit Corona infiziert, ohne es zu merken. In der dritten Gruppe waren Menschen, die glaubten, an Covid erkrankt gewesen zu sein, obwohl das gar nicht stimmte. Die vierte Gruppe umfasste Menschen, die eine Corona-Infektion erlitten hatten und das wussten.

Die Forscherinnen verglichen, welche Symptome die Probandïnnen im Laufe der Zeit entwickelten. Das Ergebnis: Diejenigen, die nur glaubten, an Covid-19 zu leiden, zeigten genauso häufig Long-Covid-Symptome wie die Gruppe, die tatsächlich erkrankt war und das wusste. Menschen, bei denen die Infektion unerkannt geblieben war, berichteten lediglich häufiger als normal, sie hätten ihren Geschmackssinn verloren.

Wegen dieser Studienergebnisse schätzt Prüß, dass bei den allermeisten Patientïnnen hinter den neurologischen Symptomen etwas anderes als die Impfung steckt. „Sorgen mache ich mir um diese wenigen Patienten, die tatsächlich eine Impfwirkung haben und denen Unrecht getan wird.“

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Lange ist Jana Ruhrländer von Arzt zu Ärztin gelaufen. Post-Covid-Ambulanzen haben sie abgewiesen, weil es keinen Nachweis dafür gibt, dass sie je mit Corona infiziert war. Inzwischen ist sie in der Post-Vaccine-Ambulanz der Uniklinik Marburg untergekommen. Vier bis sechs Patienten kann das Team dort pro Tag untersuchen.

Der Direktor der Klinik, Bernhard Schieffer, geht davon aus, dass in ganz Deutschland bis zu 25.000 Menschen unter einem Post-Vac-Syndrom leiden. „Die Impfung löst etwas aus, das latent schon da war. Wir wollen verstehen, warum das Immunsystem bei diesen Menschen falsch abgebogen ist, “ sagt er dem Medical Tribune.

„Die Medikamente von dort helfen sehr gut“, schreibt uns Jana Ruhrländer Ende April 2022. Allerdings sei die Ambulanz wahnsinnig überlaufen. Tatsächlich stehen dort Anfang Mai mehr als 2100 Patienten auf der Warteliste.

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So langsam kommen also auch diese seltenen Impfnebenwirkungen ans Licht. Es hilft bei der Suche nicht, dass die Werkzeuge des PEI langsam und ungenau sind: Denn oftmals finden sich die Nebenwirkungen in den Daten des PEI nur mit Verzögerung wieder. Anders als in Ländern mit wie Israel oder Finnland haben die deutschen Behörden nicht die Möglichkeit, einen Verdacht schnell und systematisch in elektronischen Krankenakten zu überprüfen.

In den Daten des PEI ist das Chronische Ermüdungssyndrom als Folge der Impfung noch nicht hervorgestochen. Zwar habe es, Stand 10. Mai 2022,136 Meldungen dieser Erkrankung nach Impfungen erhalten. Ein Risikosignal ergebe sich auf Basis dieser Meldungen jedoch nicht, schreibt die Pressestelle. Das gelte auch für die EudraVigilance-Datenbank der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Darin speisen die EU-Mitgliedsländer, aber auch Großbritannien und die USA, Daten ein. Das PEI weist darauf hin, dass die meisten Meldungen in EudraVigilance aus Deutschland und den USA stammen. Die Meldefreudigkeit sei in Deutschland wohl sehr ausgeprägt, schreibt das PEI.

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Eva Wolfangel ist nach ihren Erfahrungen ernüchtert. „Ich hatte schon in der Klinik das Gefühl, dass zu wenig über Nebenwirkungen gesprochen wird“, sagt sie. „Dort schien es die Einstellung zu geben: ‚Das gibt es nicht, weil es das nicht geben darf.‘“

Dabei zeigte sich nach zwei Nächten in der Klinik, dass die Nerven in den Beinen ihrer Tochter die Signale schlechter leiteten als normal. Erst nach ein paar Tagen verschwanden die Taubheitsgefühle wieder. Das Mädchen ist wieder vollständig gesund.

„Man kann den Leuten Ehrlichkeit zumuten.“

Offenbar haben auch andere Menschen solche Nebenwirkungen gemeldet, denn seit Ende 2021 stehen sie in den Warnhinweisen auf dem Beipackzettel des Biontech-Impfstoffs.

Sie verstehe voll, dass Menschen sich an solchen Fragen radikalisierten, weil sie das Gefühl hätten, etwas werde totgeschwiegen, sagt Wolfangel. Auch sie sei radikaler in ihrer Forderung geworden: „Wir brauchen Transparenz und müssen mit den Leuten ehrlich sein. Ich finde, das kann man den Menschen zumuten.“

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Marcel Schorrlepp, der Sprecher der hausärztlichen Internisten, räumt hingegen ein, dass manche Kollegïnnen zwischendurch Durchhänger in puncto Meldefreudigkeit gehabt hätten. „Es gibt eine gewisse Ermüdung beim ärztlichen Personal“, sagt er. Manchmal sei es schon ein wenig absurd, wenn Menschen ihre Kopfschmerzen auf eine Impfung zurückführten, die bereits Wochen zurückliegt. „Solche offensichtlichen Fehleinschätzungen herauszufiltern, dafür sind wir zuständig“, sagt er. Und nennt selbst das Problem: „Wenn natürlich alle sagen, ‚Das hat damit nichts zu tun‘, erfolgt auch keine Meldung.“

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Ist also etwas dran an den Zahlen der BKK ProVita?

Tatsächlich wirft das Schreiben von BKK-ProVita-Vorstand Andreas Schöfbeck und seinem Analysten Tom Lausen einige Fragen auf: Etwa, ob die Mediziner lediglich erwartbare milde Nebenwirkungen wie grippeähnliche Symptome bei den Kassen abgerechnet haben oder ernstere Beschwerden. Schöfbeck und Lausen argumentieren, es sei nicht ihre Aufgabe, die Art der Nebenwirkung zu bewerten, sondern sie wollten lediglich auf die Diskrepanz zwischen Verdachtsfallmeldungen und Abrechnungsdaten aufmerksam. Richtig ist aber auch: Beide haben Kontakte ins Querdenker-Milieu.

Am Ende verläuft der vermeintliche Skandal im Sande. Schöfbeck verliert seinen Job, noch ehe das PEI die Daten erhält.

Bei der sogenannten ImpfSurv-Studie von der Charité zeigen sich schon bald nach der ersten Aufregung die Mängel der Studie: In der Umfrage fassen die Autoren den Begriff „schwere Nebenwirkungen“ viel weiter als es das PEI tut. Für die Mediziner von der Anthroposophie-Stiftungsprofessur reicht dafür aus, dass Patientïnnen wegen ihrer Beschwerden für drei Tage krankgeschrieben wurden. Das PEI stuft etwas als „schwere Nebenwirkung“ ein, wenn jemand deswegen ins Krankenhaus kommt. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Zahlen sich so unterscheiden.

Zudem fehlte ein entscheidendes Kriterium für eine zuverlässige wissenschaftliche Studie: die Kontrollgruppe:. Sie hätte zeigen müssen, wie häufig diese Beschwerden bei Menschen ohne Impfung auftraten.

Inzwischen ist Harald Matthes zurückgerudert. Auf den Internetseiten der Charité laufen sämtliche Links zu dieser Studie ins Leere. Die Charité hat die Studie aus dem Netz genommen und unterzieht sie einer umfassenden Qualitätsprüfung, wie die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote mitteilte.

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Deutschland benötigt also bessere Daten und mehr Kommunikation. Könnte ein Impfregister helfen?

Eine Frau mit braunen Haaren lächelt in die Kamera.
Petra Dickmann, Expertin für Risikokommunikation von der Universität Jena.

Seit Jahren schon plädiert der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens dafür, Impfungen systematisch in einer solchen Datenbank zu erfassen. Doch das ist in Deutschland offenbar nicht durchzusetzen. Harald Prüß von der Charité hätte fürs Erste eine einfachere Idee: Er schlägt vor, routinemäßig bei jedem zehnten oder hundertsten Impfling zu beobachten, ob sie oder er Beschwerden entwickelt. „Dann hätten wir mit einem vergleichsweise geringen Aufwand ein sehr genaues Bild über die Art der Beschwerden, wie häufig sie sind und wie der Langzeitverlauf ist.“

So sieht es auch Cornelia Betsch, die Verantwortliche der Cosmo-Studie: „Was wir jetzt brauchen: Noch bessere Aufklärung bei den Ärzten, in der öffentlichen Kommunikation, in der zwischenmenschlichen Kommunikation, um den Leuten diese Angst zu nehmen.“

Die Erhebung ist allerdings im März erst einmal ausgelaufen. Ob sie weitergeht, ist ungewiss.

Petra Dickmann von der Universität Jena teilt diese Meinung. Die Informationen seien zwar erhältlich, aber längst nicht für jedermann zugänglich genug: „Muss ich erst auf einer Unterseite des Paul-Ehrlich-Instituts nach Impfstoff-Nebenwirkungen fahnden?“, fragt die Intensivmedizinerin und Expertin für Risikokommunikation. Ihrer Ansicht nach fehlt für die Kommunikation in Zeiten der Pandemie eine unabhängige Institution, die Daten zusammensucht, analysiert und bewertet – sei es, wie sich der Einzelne vor Ansteckung und dem Tod schützen kann oder welche Nebenwirkungen die Impfungen haben können. „So eine Einrichtung für Risikokommunikation sollte aus einer Vogelperspektive kontinuierlich Entscheidungen erklären und bewerten“, sagt sie.

Seit Beginn der Impfungen habe sich die Kommunikation von Regierungen und Behörden wie in einem Tunnel bewegt. Die Verantwortlichen hätten sich von einem Detail zum nächsten gehangelt. „Im Detail machen die Kollegen beim RKI zum Beispiel wirklich einen fantastischen Job“, sagt Dickmann. „Aber das Gesamtbild ist aus dem Blick geraten.“

Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Andrea von Braun Stiftung gefördert.

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