Scheitern des Weltnaturabkommens vorerst abgewendet, aber viele Streitpunkte noch zu klären
In den ersten Tagen des Biodiversitäts-Gipfels COP15 gingen die Positionen so weit auseinander, dass UN-Chefunterhändler Basil van Havre einen Kollaps der Verhandlungen für möglich hielt. Nun beginnt die Woche der Entscheidungen – gelingt nur ein Minimalkonsens?
Eine Woche nach Beginn der UN-Biodiversitätskonferenz scheint das befürchtete Scheitern abgewendet. Zur Halbzeit der Verhandlungen über ein globales Naturschutzabkommen äußerte sich Chefunterhändler Basile van Havre nun zuversichtlich zu den Erfolgsaussichten des wohl wichtigsten Umweltvertrags des Jahrzehnts. Nach deutlichen Fortschritten in den vergangenen Tagen gebe es keinen Staat mehr, der ein Abkommen blockieren wolle, sagte van Havre im Gespräch mit RiffReporter. Er zeigte sich darüber erleichtert: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir ein Abkommen bekommen werden“, sagte er.
Die Bereitschaft aller Länder zu einer Einigung wäre ein Durchbruch. Denn für die Verabschiedung eines neuen globalen Naturabkommens ist Einstimmigkeit nötig, also die Zustimmung von Repräsentanten fast der gesamten Menschheit. 196 Länder haben sich der UN-Biodiversitätskonvention seit Mitte der 1990er Jahre angeschlossen. Nur die USA und der Vatikan haben sie nicht unterzeichnet.
Umweltministerin Lemke reist Mittwoch an
Wie viel ein neues Abkommen tatsächlich wert ist, ist allerdings weiter offen. Chefverhandler van Havre räumt ein, dass auch wenige Tage vor der geplanten Verabschiedung ungeklärt ist, wie erfolgversprechend der neue Vertrag im Kampf gegen den Kollaps von Artenvielfalt und Lebensräumen ausfallen wird. Denn praktisch alle dafür entscheidenden Streitpunkte sind bisher ungelöst. Der kanadische Umweltdiplomat spielt den Ball weiter: „Jetzt kommt es auf die Minister an“, sagte er.
Umweltministerinnen und -minister aus mehr als 140 Staaten kommen nun nach Montreal, um die entscheidenden Streitfragen für das globale Abkommen auszuräumen. Dieses soll die Natur insgesamt auf einen Pfad der Erholung bringen. Ab Mittwoch wird Bundesumweltministerin Steffi Lemke in Montreal erwartet.
Die große Zahl von anreisenden Ministern zeigt auch den gewandelten Stellenwert des Themas Natur. Ein Erfolg im Kampf gegen die Zerstörung von Lebensräumen und das Verschwinden von immer mehr Tier- und Pflanzenarten gilt mittlerweile für das Überleben und den Wohlstand der Menschheit als ebenso bedeutend wie die Begrenzung der Klimakrise. Nach Berechnungen des Weltwirtschaftsforums hängt die Hälfte der globalen Wirtschaftskraft von Leistungen der Natur ab – von der Bestäubung von Nahrungspflanzen durch Insekten über neue medizinische Wirkstoffe bis hin zur Verfügbarkeit sauberen Trinkwassers.
30-Prozent-Ziel für Schutzgebiete wird wohl beschlossen
Auch zur Begrenzung der Erderhitzung auf möglichst unter 1, 5 Grad Celsius ist ein starkes Abkommen zum Schutz der Natur auf dem Planeten nach Ansicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unabdingbar. Intakte Ökosysteme wie Wälder, Moore, Mangroven und Seegraswiesen helfen dabei, einen großen Teil der Treibhausgase aus der Atmosphäre fernzuhalten oder abzubauen. Allein die Wälder der Erde speichern das Äquivalent der vom Menschen in 100 Jahren verursachten Kohlenstoffemissionen. Der Schutz der Moore gilt als unerlässlich, soll das 1, 5-Grad-Ziel noch erreicht werden.
Von der Konferenz in Montreal erwarten Wissenschaft, Umweltorganisationen und viele Staaten ein Abkommen, das für den Natur- und Klimaschutz so bedeutend wird wie der Klimavertrag von Paris, der fast auf den Tag genau vor sieben Jahre nach dramatischen Verhandlungen beschlossen wurde.
Eine unverzichtbare Zutat dazu scheint gesichert: Das Schlüsselziel, künftig 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche unter Schutz zu stellen, wird aller Voraussicht nach beschlossen. „Es gibt so viel Unterstützung für das 30×30-Ziel, dass ich bezweifle, dass es nicht verabschiedet oder in seinem Ausmaß verringert wird“, sagt der sonst mit Prognosen vorsichtige van Havre.
Auf die Ministerinnen und Minister wartet eine Mammutaufgabe
Trotz dieser Vorentscheidung übergeben die Delegierten ihren Ministerinnen und Ministern für die Schlussphase nun eine Mammutaufgabe. Hunderte wichtige Details zur Ausgestaltung der einzelnen Ziele sind weiter umstritten. Dazu zählt neben der Frage, wieviel Fläche der Erde künftig geschützt wird, die nicht weniger wichtige, wie strikt der Schutz dort ausfallen soll oder um welchen Prozentsatz der Einsatz naturschädlicher Pestizide verringert werden soll.
Teilweise erbittert wird in den Verhandlungen über praktisch alle Details gestritten, wie „ambitioniert“ am Ende das Abkommen und wie wirksam damit der angestrebte Schutz der Natur ausfällt. Hinter dem in den Verhandlungen oft benutzen Wort „Ambition“ verbergen sich die alles entscheidende Frage, ob ein Abkommen eher zahnlos formuliert wird und nur eine eher symbolische Wirkung hat, oder ob es mit den von der Wissenschaft geforderten Zielen und konkreten Pflichten ausgestaltet wird.
Wichtig für das sogenannte „Ambitionsniveau“ ist auch, ob der Prozess der Umsetzung dann überwacht und ob regelmäßig überprüft wird, wie gut die Staaten die gemeinsamen Ziele umsetzen. Ein Beispiel für eine eher strenge Vereinbarung ist das „Montreal-Protokoll“ zum Verbot von Substanzen, die mit der Ozonschicht die lebensschützende chemische Hülle der Erde zerfressen. Dagegen blieben die Ziele des letzten großen Naturgipfels in Nagoya im Zeitraum 2010 bis 2020 auch in Deutschland weitestgehend unerreicht, auch weil zwischenzeitlich die Umsetzung kaum überwacht wurde.
Bei den aktuellen Verhandlungen in Montreal wird derzeit das angestrebte Schutzniveau für die Natur mit jedem Tag der Verhandlungen geringer, weil ansonsten keine Einigung zu erzielen ist. Zum Beispiel scheint der von Bundesumweltministerin Steffi Lemke geforderte Nachschärfmechanismus für den Fall, dass Zielvorgaben verfehlt werden, vom Tisch zu sein.
Rechte Indigener für erfolgreichen Naturschutz wichtig
Oft wird in den bis tief in die Nacht geführten Verhandlungen um jedes Wort gerungen. Die entsprechenden Dokumente sind mit Codewörtern gespickt, die auf den ersten Blick ähnlich klingen, aber hinter denen sich sehr große Unterschiede verbergen, wie effektiv ein Abkommen den Abwärtstrend bei der Biodiversität zu stoppen vermag.
Gegner eines hohen „Ambitionsniveaus“ für das Abkommen gelang es beispielsweise, die Bedeutung bestimmter Leitprinzipien in einer Art Präambel durch Semantik deutlich abzuschwächen. Die besonderen Rechte indigener Völker, ein menschenrechtsbasierter Ansatz und die Festlegung, dass alle Naturschutzziele auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren müssen, sind nach einer Änderung der Überschrift fortan keine rechtlich verbindlichen „Grundsätze und Prinzipien“ mehr, sondern lediglich unverbindliche „Erwägungen“.
„Ohne Widerspruch haben die Länder die Qualität der Prinzipien für die Umsetzung abgeschwächt“, kritisiert Greenpeace-Beobachter Jannes Stoppel. Er zieht eine kritische Zwischenbilanz: „Die Verhandlungen haben schon in den ersten Tagen bei der Qualität des möglichen Abkommens Federn gelassen“, sagt er. Nun gelte es, die Rechte von indigenen Völkern und lokalen Gemeinden über klar messbare Indikatoren in den einzelnen Zielen abzusichern.
Dass dies mehr ist als eine Kleinigkeit, zeigt die Tatsache, dass 80 Prozent der verbleibenden Biodiversität der Erde in Gebieten liegt, die von indigenen Gemeinschaften bevölkert und meistens auch geschützt werden. Auch die nach der Verabschiedung des 30-Prozent-Ziels zu erwartenden Neuausweisungen von Schutzgebieten dürften auf globaler Ebene vor allem in den artenreichen Refugien indigener Gruppen liegen.
Entwicklungsländer fordern Hilfen von jährlich 100 Milliarden Dollar
Fortschritte zeichnen sich dagegen in der Frage der Finanzierung von mehr Naturschutz in den Entwicklungsländern ab. Dies gilt als ein entschiedener Knackpunkt, an dem das Zustandekommen eines Abkommens scheitern könnte. Hintergrund ist die Tatsache, dass die meiste verbliebene Artenvielfalt in den Entwicklungsländern konzentriert ist, deren Natur weniger verändert und verarmt ist als in den reicheren Ländern. Von diesen armen Ländern wird nun erwartet, zugunsten des Naturschutzes auf eine ähnliche Entwicklung zu verzichten wie sie in den Industriestaaten stattgefunden hat. Finanzhilfen aus dem reichen Norden sollen sie dafür entschädigen und die Umsetzung von Naturschutzmaßnahmen finanzieren.
Die Vorstellungen zur Höhe der Unterstützung gehen aber extrem weit auseinander. Die Entwicklungsländer fordern Direktunterstützung von 100 Milliarden Dollar pro Jahr. Dem stehen bislang Zusagen von weniger als acht Milliarden Dollar gegenüber.
Auf dem Tisch liegt nach tagelangen Verhandlungen nun ein Vorschlag, zunächst die Finanzierung und weitere Unterstützung für die Umsetzung des Abkommens in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten auf den Weg zu bringe und parallel über die langfristigen Zahlungsverpflichtungen zu verhandeln. Damit würde der Streit um die Höhe der Direktzahlungen zunächst entschärft und zugleich eine rasche Umsetzung des Abkommens sichergestellt. „Dieser Ansatz könnte für die weiteren Verhandlungen so manches Eis brechen und für die schnellen Umsetzung der Ziele als Booster dienen“, glaubt Greenpeace-Beobachter Stoppel.