Buch oder Bildschirm? Wir brauchen beides!
Die Leseforscherin Maryanne Wolf warnt in „Schnelles Lesen, langsames Lesen“ vor einem folgenreichen Verlust: das Verlernen des vertieften Lesens.
Diesen Artikel werden Sie vermutlich digital lesen. Die RiffReporter und damit auch TAKTVOLL bieten ihre Themen nun einmal als Online-Magazin(e) und nicht als gedrucktes Produkt an. Das hat viele Vorteile.
Die neuen, digitalen Formen des Lesens haben jedoch auch Nachteile. Wenn allein die Klicks als Maßstab für Qualität, Bedeutung und Wert gelten, muss die Aufmerksamkeit der potenziellen LeserInnen unbedingt gewonnen werden. Forsche, zugespitzte Überschriften, die zum Klicken animieren, Links zu weiteren spannenden Informationsquellen, optisch und interaktiv aufbereitete Fakten – all das ist nicht verkehrt, kann sehr hilfreich sein, doch es kann auch verführen. Verführen (stärker als klassische, gedruckte Medien) zum schnellen Lesen, zum Überfliegen, zur Highlight-Suche, die meist an der Oberfläche des Textes hängen bleibt.
Auch das allein muss noch nicht „schlimm“, sondern kann einfach nur eine Form des Lesens sein. Wer jedoch zunehmend so liest, dem wird eine andere Form des Lesens, das vertiefte Lesen, immer schwerer fallen. Denkbar, dass diese Fähigkeit gänzlich verloren geht, weil sich unser Gehirn und der für das Lesen zuständige Leseschaltkreis aus all den vielen Nervenzellen verändert.
Es fällt uns immer schwerer, länger aufmerksam zu sein. Geduld zu haben und auch, wenn wir etwas einmal nicht verstehen, dran zu bleiben, nachzudenken – vor allem auch dann, wenn wir etwas lesen, was uns im ersten Moment fremd erscheint. Wer das langsame Lesen verliere, wer nicht mehr vertieft lesen könne, dem gehe etwas Entscheidendes verloren, mahnt die Leserforscherin Maryanne Wolf in ihrem Buch „Schnelles Lesen, langsames Lesen“: schnelles Lesen verändere unser Denken über die Welt und unser Sein in dieser Welt.
„Die Frage ist nicht, was in einer Welt des elektronischen Lesens aus den Büchern wird. Die Frage ist, was aus den Lesern wird, die wir einst waren.“ (Verilyn Klinkenborg)
Die Menschheit befände sich im Umbruch von einer auf das Lesen und Schreiben basierenden zu einer digitalen Kultur. Darin lägen viele Chancen, aber man müsse auch genau hinschauen, was dieser Umbruch mit uns, den LeserInnen. mache, gibt Wolf zu Bedenken. Sie verteufelt die neuen Möglichkeiten nicht. Sie ermuntert vielmehr dazu, „gute“ LeserInnen zu bleiben und auch unsere Kinder zu „guten“ LeserInnen auszubilden.
„Gut“ liest Wolfs Ansicht nach jemand, der 3 Arten des Lesens praktiziere und kultiviere: ein Lesen, bei dem wir Informationen sammeln und Wissen erwerben. Ein genussvolles Lesen, bei dem wir uns erfreuen an der Fülle der Geschichten, spannenden Fakten, Schönheit der Worte, fremden Welten. Und eine dritte Form des Lesens: „.. die Krönung des Lesens und der Fluchtpunkt der beiden anderen (..): das reflektierende Dasein, in dem wir (..) ein für andere komplett unsichtbares persönliches Reich betreten, unseren persönlichen Zufluchtsort, an dem wir alle möglichen Fragen des menschlichen Daseins reflektieren und von einem Universum träumen können, dessen wahre Geheimnisse noch unsere wildesten Fantasien in den Schatten stellen“ (Seite 239 in „Schnelles Lesen, langsames Lesen“)
Lesen – Meisterleistung des Gehirns
Der Mensch liest seit knapp 6000 Jahren. Keiner von uns wird als Leser geboren, wir alle müssen das erst einmal mehr oder weniger mühevoll lernen. Dabei vollbringt unser Gehirn eine Meisterleistung. Eltern mit Kindern im Vorschulalter sollten das zweite Kapitel in Wolfs Buch unbedingt lesen. Nach der Lektüre werden sie geduldig und weniger kritisch den Lesefortschritt ihres Sprösslings begleiten und voller Anerkennung sein, zu welch unglaublichen Leistungen das menschliche Gehirn in der Lage ist.
Das Gehirn ist formbar. Netzwerke aus Neuronen können sich bilden, aber auch umgebaut oder wieder abgebaut werden. Beim Lesenlernen bildet sich ein Leseschaltkreis heraus – eine einzigartige epigenetische Errungenschaft in der intellektuellen Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens, schreibt Wolf. Die Neuronen aus den unterschiedlichsten Regionen sind darin dermaßen verschaltet, dass sie blitzschnell miteinander kommunizieren können. Maryanne Wolf erklärt das, was beim Lesen passiert, mit dem Bild eines riesigen Zirkus.
Von der Kuppel her schauen wir dabei auf 5 Manegen, 5 sich teilweise überlappende Areale des Gehirns, in denen nacheinander oder gleichzeitig etwas „passiert“, wodurch das Leseerlebnis erst möglich wird. Beteiligt sind Zentren/Manegen für das Sehen, die Sprache, Motorik, die Informationsverarbeitung, die Affekte – letztere „vernetzt das Riesenspektrum unserer Gefühle mit unseren Gedanken und Worten“.
In unglaublicher Geschwindigkeit verarbeitet unser Gehirn das, was das Auge an Formen und Zeichen sieht, erkennt Muster, Buchstaben, Worte, Bedeutung. Nur 400 Millisekunden dauere es, bis wir beispielsweise das Wort „Schienen“ entschlüsselt haben, beschreibt Wolf. Haben wir das Wort erkannt, werden all die Hirnregionen aktiv, die etwas mit der Bedeutung des Wortes oder seinem Klang zu tun haben. Gefühle und Erinnerungen, die wir mit dem Wort „Schienen“ abgespeichert haben, tauchen auf und das Gehirn prüft, ob oder wie diese gespeicherten Informationen nun zu dem gelesenen Wort passen.
„Uns wird in diesem Moment klar, dass von allen Begebenheiten, bei denen wir mit diesem scheinbar so einfachen Wort Schienen zu tun hatten, immer irgendetwas in uns geblieben ist“. (Seite 48)
Zeit und Aufmerksamkeit
Das Lesen erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. „Wie gut wir einen Satz oder Text lesen, hängt jedoch davon ab, wie viel Zeit wir – unabhängig vom Medium – in das Ausbilden der Schaltkreise für eine intensive, vertiefte Lektüre zu investieren bereit sind.“ (S. 54) „Zeit“ und „Aufmerksamkeit“ sind aktuell jedoch brisante Themen. Können wir uns bei all den verlockenden und spannenden Angeboten, die es gibt, noch auf längere Texte konzentrieren? Wer hat bzw. wer nimmt sich noch Zeit für eine echte Lektüre, für ein Abtauchen in andere Welten?
Dabei biete das Hinüberwechseln in die Gefühlswelten und Gedanken anderer Menschen durch das intensive Lesen ihrer Texte eine große Chance, schreibt Wolf: „Wir (können) uns aus unserer von Natur aus beschränkten Sicht der Welt in die eines anderen begeben und daraus mit erweiterter Perspektive zurückkehren.“ Wenn wir versunken und eindringlich lesen, passiere etwas Bedeutsames:
„Wir heißen den anderen als Gast in uns selbst willkommen, ja, manchmal werden wir zum anderen. Einen Augenblick lang verlassen wir unser Ich, und wenn wir zurückkehren – größer geworden manchmal auch stärker -, haben wir uns intellektuell und emotional verändert.“ (Seite 62)
Wenn wir die Zeit und Geduld für längere, vertiefte Lektüre nicht mehr aufbringen, verändert oder verkümmert unser Leseschaltkreis bzw. passt sich an unser Leseverhalten an. Die Aufmerksamkeitsspanne sinkt, tiefes Eintauchen ist kaum mehr möglich, stattdessen bleiben wir mit unseren Köpfen fast nur noch über der Wasseroberfläche und halten Ausschau nach weiteren attraktiven Zielen, die sich anzusteuern lohnen. Wer sich keine Zeit mehr nehme, über das Gelesene nachzudenken – zu reflektieren, kurz für sich zu rekapitulieren, was habe ich hier überhaupt gelesen, was bedeutet das – dem gelingt es nicht, das Gelesene im Langzeitgedächtnis abzuspeichern, schreibt die Leseforscherin.
Das innere Wissensarchiv
Wer nur noch flüchtig liest, verpasse eine Gelegenheit, sein inneres Wissensarchiv zu erweitern. Wissen würde ausgelagert an externe Quellen, die dank digitaler Allgegenwart ja auch ständig abrufbar sind. Doch Wolf sieht hier eine Gefahr: „Wir werden zu zunehmend leichter beeinflussbaren Menschen, die sich immer leichter von gelegentlich zweifelhaften, manchmal schlicht falschen Informationen leiten lassen, die sie für Tatsachen halten oder, schlimmer noch, deren Wahrheitsgehalt ihnen gleichgültig ist.“ (76). Wenn wir nur noch lesen, was wir gut und leicht verstehen können, setzen wir uns zunehmend weniger mit dem anderen, mit dem uns Fremden auseinander. Wir verpassen die Chance, dem Fremden näher zu kommen, die Angst davor zu verlieren und womöglich vertraut zu werden, mit dem einst Fremden. Das, was und wie wir lesen, verändert auch, wie wir schreiben, verändert unseren Wortschatz.
„Wenn wir mit zu vielen Optionen bombardiert werden, tendieren wir gern dazu, uns auf Informationen zu verlassen, die uns wenig eigenes Denken abverlangen.“ (Seite 250)
Wie, was und warum lesen wir?
Wie geht es Ihnen mit den Gedanken von Maryanne Wolf? Spüren Sie Abwehr oder Zustimmung? „Fällt Ihnen auf, dass Sie am Bildschirm Texte zunehmen auf Schlüsselwörter abklopfen und den Rest überfliegen? Hat diese Art zu lesen bereits auf Ihr Leseverhalten bei Gedrucktem abgefärbt? Ertappen Sie sich dabei, dass Sie einen Absatz wieder und wieder lesen müssen, um seine Bedeutung zu erfassen?“ (Seite 126)
Wer auf Wolfs Fragen hier mit „Ja“ antworten kann, sollte sich ein wenig Sorgen machen um seine Fähigkeit, sich länger und intensiv mit einem Text zu beschäftigen und die Aufmerksamkeit zu halten. Das, was in den Zirkusmanegen passiert, läuft nur deshalb so fantastisch reibungslos ab, weil diverse Scheinwerfer (Wolfs Bild für die Aufmerksamkeit) die Szene dauerhaft erhellen.
Ich persönlich habe mir „Schnelles Lesen, langsames Lesen“ gekauft, weil ich im Buchladen stehend wohl ahnte, wie sehr dieses Thema mich betrifft. Ja, es fällt mir schwer, meine Nase einmal für längere Zeit in ein Buch zu stecken. Bis vor kurzem las ich mehrere Bücher parallel und sprang ständig von einem ins andere. Offenbar fehlte mir schlichtweg die Ausdauer. Meine Ausrede? Durch meinen Beruf ist mein Gehirn darauf trainiert, Texte und Informationen (überwiegend digital) schnell zu scannen und interessante wichtige Informationen herauszulesen. Diese Perlensuche macht mir unglaublich viel Spaß.
Zu Beginn des Jahres habe ich mir vorgenommen (oje, ein klassischer Neujahrsvorsatz), es beim Bücherlesen, einmal wieder anders auszuprobieren: ein Buch nach dem anderen (höchsten zwei parallel) zu lesen. Nun beobachte ich an mir selbst, wir sehr mir auch die dritte Art des Lesens zunehmend wieder Spaß macht und gelingt. Es funktioniert. Wichtig sei, immer wieder alle drei Arten des Lesens zu praktizieren, meint Maryanne Wolf. Das braucht Zeit. Ich muss oder darf diesem Lesen in seinen verschiedenen Ausprägungen also im Alltag Zeit einräumen. Hilfreich und motivierend ist dabei für mich, mir immer wieder die Frage nach dem Sinn zu stellen: Warum lese ich (dieses Buch, diesen Text) eigentlich?
Kinder brauchen zuerst das Buch und dann den Bildschirm
Auch unseren Kindern sollten wir beibringen schnell UND langsam zu lesen. Dafür brauche es das Buch und den Bildschirm. Wie ein solches Lesenlernen im heimischen und schulischen Kontext gelingen kann, erfährt man in drei Kapiteln des Buches.
Am Schluss bleibt die Begeisterung über die Fähigkeit und Möglichkeiten des Lesens. Eine gute Leserin, ein guter Leser ist, laut Wolf, jemand, der die verschiedenen Arten des Lesens beherrsche, wodurch sich Information zu Wissen und Wissen zu Weisheit wandeln könne.
„Wir sind von der Technologie, die wir geschaffen haben, und dem ständigen Trommelfeuer an sogenannten Informationen, die uns über den Weg laufen, so abgelenkt und beansprucht, dass es mehr denn je sozial bekömmlich scheinen will, sich in ein spannendes Buch zu vertiefen, (..), der Ort der Stille, an den man sich zum Schreiben, aber auch zum ernsthaften Lesen begeben muss, ist der Ort, an dem man wirklich vernünftige Entscheidungen treffen kann, an dem man sich wirklich produktiv mit einer anderweitig beängstigenden und kaum beherrschbaren Welt auseinandersetzen kann.“ (Jonathan Franzen)
Maryanne Wolf: „Schnelles Lesen, langsames Lesen“, Penguin Verlag, München 2019
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