Aus der Aktivität in die Ruhe
Mit dem Klassiker des Abendgebets, Luise Hensels „Müde bin ich“, gelassener werden
„Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu“ – wie häufig mögen diese Verse seit ihrer Entstehung vor gut 200 Jahren wohl schon gesprochen worden sein? Ich jedenfalls bin mit diesem Kindergebet groß geworden. Jeden Abend setzten sich mein Vater oder meine Mutter auf meine Bettkante, umfassten mit ihren Händen meine Hände und bevor das Licht ausging, sprachen wir die zwei Verse (das Gebet hat eigentlich vier) gemeinsam.
„Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Äuglein zu:
Vater, lass die Augen Dein,
Über meinem Bette sein.
Alle, die mir sind verwandt,
Gott, lass ruhn in deiner Hand!
Alle Menschen, groß und klein,
Sollen dir befohlen sein."
Gründlich nachgedacht habe ich als Kind über die Worte wohl nicht. Beim „Müde bin ich“ gab es höchstens inneren Protest: „Na, so müde bin ich nun auch noch nicht. Eigentlich könnte ich auch etwas länger aufbleiben“. Die Zeilen wurden „heruntergebetet“, doch das Ritual machte etwas mit mir, da bin ich sicher. Die Worte und ihre Bedeutung “färbten“ ab und begleiteten mich in die Nacht, in den Schlaf.
Warum ich mich heute wieder mit dem Gebet und in diesem Text vor allem mit der Verfasserin beschäftige? Es muss am Thema „Ruhe“ liegen. Das Bedürfnis nach Ruhe, der gesunde Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe – wir Menschen sind auf der Erde wohl die einzigen Lebewesen, denen es schwerfällt, sich von allem frei zu machen und uns in eine tiefe, echte Ruhe zu begeben.
Die Einfalt, die „Einfachheit und Schlichtheit des Herzens“, die dieses Gebet ausstrahlt, mag etwas für Kinder sein. Aber in der geschäftigen, wissenden Welt der Erwachsenen hat „Einfalt“ den Beigeschmack von rückständig, naiv oder gar dumm. Luise Hensel, die „Müde bin ich“ als 18-Jährige schrieb, war all das ganz und gar nicht.
Luise Hensel wurde am 30. März 1798 im kleinen Dorf Linum in der Mark Brandenburg geboren. Ihr Vater war dort evangelischer Pastor. Das erste von ihr überlieferte Gedicht ritzte sie als Kind mit einer Nadel in die Schale eines Kürbis:
„Zwar bin ich noch sehr junk und Wild
Doch lieb ich die Natur:
Von ihrem seegen gans erfüllt,
Jeh ich auf grüner Flur.“
Als Luise 12 Jahre alt war, starb ihr Vater, gerade 42 Jahre alt, an der Schwindsucht (Tuberkulose). Noch im Kindesalter starben auch ihre Geschwister Marie und Ludwig. Die Mutter zog mit den vier Kindern, die ihr blieben, nach Berlin. Luise ging dort auf die Realschule und genoss damit die damals höchste für Mädchen mögliche Schulbildung. Sie interessierte sich für Poesie, religiöse Literatur und die Naturwissenschaften. Hier hatten es ihr besonders die Physik und die Astronomie angetan. Die wissensdurstige Luise musste sich mit ihrem handwerklichen Geschick – sie fertigte Stickereien und Scherenschnitte an – aber auch am Familieneinkommen beteiligen. Erst als ihr vier Jahre älterer Bruder, der Maler Wilhelm Hensel mit seiner Kunst genügend Geld verdiente, entspannte sich die finanzielle Situation der Familie.
Wilhelm Hensel heiratete 1829, nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Italien, die Komponistin und Pianistin Fanny Mendelssohn-Bartholdy, die Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Luise wurde von den Männern in den schöngeistigen Berliner Salons verehrt, gar angebetet, wie zu lesen ist. Doch eine Ehe kam für sie nicht in Frage. Sie lehnte einen Heiratsantrag des 20 Jahre älteren, zweimal geschiedenen Dichters Clemens Brentano genauso ab, wie denjenigen von Wilhelm Müller. Angeblich hat der Dichter Wilhelm Müller die unerfüllte Liebe zu Luise in seinem von Franz Schubert vertonten Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ verarbeitet.
Luise hatte etwa anderes vor in ihrem Leben. Sie hatte einen völlig anderen Blick auf das Leben. 1816 starb Luises Schwester Karoline kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Im selben Jahr schrieb Luise „Müde bin ich“. Luise kümmerte sich um den kleinen Richard. Die vielen Verluste unter ihren nächsten Verwandten prägten Luises Blick auf die Vergänglichkeit des Lebens. 1818 trat sie zum katholischen Glauben über, weil ihr die Art der gelebten Frömmigkeit näher war als diejenige ihrer evangelischen Herkunft.
Eine Antwort darauf, warum sie die Anträge ihrer Verehrer ablehnte, gibt dieses Gedicht von ihr:
„Du liebst mich, weil durch braunes Haar
Sich schlingt der grüne Lebenskranz.
Weil frisch und voll der Wangen Pracht
Und leicht der Fug sich hebt im Tanz.
O, armer Jüngling! Wisse, bald
Ist all das hin, was du geliebt,
Geknickt die blühende Gestalt,
Die jetzt den Zauber auf dich übt.
Denn eine Blume bin ich nur,
Und kurz ist alles Erdenblühn;
Drum suche ew’ger Schöne Spur,
Ihr weihe deines Herzens Glühn.“ (1816)
Den Wunsch, irgendwann einmal in ein Kloster einzutreten, verwirklichte sie bis zu ihrem Lebensende nicht. Luise führte ein unabhängiges Leben. Ein Leben, das für die Frauen ihrer Zeit ungewöhnlich war. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt selbst, war in wechselnden Anstellungen als Dichterin, Gesellschafterin, Lehrerin, Reisebegleiterin, Pflegerin schwerkranker Frauen tätig. Wegen ihrer beruflichen Aktivitäten zog sie immer wieder um. Das Leben, das sie führte, war unruhig.
Der Wunsch nach Ruhe ist ein wichtiges Motiv in Luises Gedichten. Inmitten eines aktiven Lebens Ruhe finden, wenn Erschöpfung, Krankheit und Trauer das Leben überschatten. Ruhe finden, sich zur Ruhe begeben, ruhen, rasten, beruhigen – all das meint kein passives „Sich-Hängen-Lassen“; Ruhen als ein aktives „Sich-Überlassen“, dem Fließen, dem Weltenlauf. Ruhen, die Augen schließen, loslassen, sich hinlegen, ablegen, sich bergen in die Hände und Obhut einer größeren Macht.
Wer in diesem Sinne immer wieder die „Augen schließt“ und andere, größere Augen über sich wachen lässt, lernt womöglich anders zu sehen. Luise sah nicht nur das, was vor Augen ist. Sie sah eine andere Welt, nach der sie sich offenbar immer stärker sehnte:
Als Luise 53 Jahre alt war, entstand „Das Raupenleben“
„Mir schmeckt von allen Bäumen
Kein einzig Blättlein mehr;
Ich möchte ruhn und träumen,
Als ob ich gar nicht wär.
Matt schlepp ich zu der Höhe
Den kranken Leib hinan,
Und wo ich Halt erspähe,
Vollend ich meine Bahn.
Da web ich mir die Truhe
So heimlich, klar und lind,
Darin ich meine Ruhe
Und Auferstehung find.
O Mensch, ein wahrer Spiegel
Ist dir meine Lebenslauf:
Auch dir erwachsen Flügel
Und tragen dich hinauf.
Doch Luises aktives, tätiges Leben ging weiter. 1874 – inzwischen war sie schwer an Gicht erkrankt – stürzte Luise, brach sich das Hüftgelenk und konnte ihr Zimmer in Paderborn bis zu ihrem Tod 1876 nicht mehr verlassen. Ihre jüngere Freundin und ehemalige Schülerin Pauline von Mallinckrodt und die „Schwestern der christlichen Liebe“ pflegten sie.
Ob jemandem, der aus dieser geborgenen Ruhe heraus lebt, auch das letzte Loslassen leichter gelingt? Kurz vor ihrem Tod schrieb Luise diese Zeilen, der Kreis schloss sich:
„Müde bin ich, geh zur Ruh,
Sang ich in der Jugendtagen.
Schließe beide Augen zu!
Wird nun bald der Tod mir sagen
Herr, mein Gott, das walte du!“
…
Quellen:
Peter Härtling „Liebste Fenchel – Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn“. dtv, München 2017
https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/txt/wz-9363.pdf
https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/luise-hensel/
https://berlingeschichte.de/bms/bmstext/9803prog.htm
https://www.projekt-gutenberg.org/hensel/gedichte/chap041.html