„Hört Ihr alle Glocken läuten?“
Genervt oder gerührt? Warum uns der Klang der Glocken bewegt.
Wenn an den Feiertagen das geschäftige Alltagstreiben ruht, können sogar Großstädter ein wenig in die Klangwelt unserer Vorfahren eintauchen. Zur historischen Geräuschkulisse gehört der Klang der Glocken. An Weihnachten läuten sie jetzt zu diversen Messen, Christfeiern, Gottesdiensten und zum Jahreswechsel. Das mag den ein oder anderen nerven. Viele Menschen rührt der Glockenklang jedoch im Innersten an. Woran mag das liegen? 10 Fakten und Gedanken zu einem selbsttönenden Musikinstrument, das den Menschen seit etwa 5000 Jahren begleitet.
Auf die Glocken ist Verlass
„Früher wollte jeder möglichst dicht am Glockenturm wohnen“, sagt Wolfgang Vögele, Theologe und Autor des Buches „Wer die Glocken hört“. Die Glocken strukturierten den Tages- und Wochenlauf der Menschen. Wer außerhalb der Hörweite wohnte, verpasste wichtige Ereignisse im sozialen Miteinander. Es gab den Uhrschlag, das Läuten zu kirchlichen und anderen Anlässen. „Jeder kannte den Code, die Sprache der Glocken“, sagt Vögele.
Je nach Länge und Art des Läutens verkündigten die Glocken die Uhrzeit, die Taufe oder den Tod eines Menschen, informierten über Pest, Wetter, Krieg und Frieden, über Urteile bei Gericht, die Vollstreckung eines Todesurteils, den Beginn von Ratsversammlungen. Irrglocken wiesen Wanderern in dichten Wäldern den Weg. Die Wachglocke regelte den Wachwechsel an den Stadttoren und Türmen. Die Zinsglocke rief auf, die Steuern zu zahlen, die Feuerglocke erinnerte am Abend daran, die Glut des Herdfeuers sicher zu verwahren.
2. Glocke und Zeit
„Liebe Kitty, Vater, Mutter und Margot können sich noch immer nicht an das Geräusch der Westerturmglocke gewöhnen, die jede Viertelstunde angibt, wie spät es ist. Ich schon, mir hat es sofort gefallen, und besonders nachts ist es so etwas Vertrautes.“ (Anne Frank, Tagebuch, Juli 1942)
Es ist ein Unterschied, ob ich auf die Armbanduhr oder das Handy schaue, mir die Zeit also „vor Augen führe“ oder ob ich die Zeit höre: ein leiser Schlag für die erste angebrochene Viertelstunde, zwei für eine halbe, drei für eine Dreiviertel und vier für eine volle Stunde (plus – nach einer kurzen Pause – zwölf Schläge für zwölf Uhr, einer für ein Uhr usw.). Ich erlebe die Zeit und vor allem auch das Vergehen der Zeit anders, wenn ich sie höre. Durch das immer wiederkehrende Auf- und Ab des unterschiedlich langen Uhrschlags „kriecht“ die Zeit über den Hörsinn auf andere Weise in meinen Körper, als wenn ich nur auf Zahlen schaue. Der als Kind erblindete französische Schriftsteller Jacques Lusseyran schreibt in seinem Buch „Das wiedergefundene Licht“:
„Ein Geräusch ist kein Vorgang, der sich außerhalb von uns abspielt, sondern eine Realität, die durch uns hindurch geht und dort verweilt, sofern wir sie nicht voll wahrnehmen.“
3. Glockenklang
Der Glockenton, den wir hören, die empfundene Tonhöhe besteht tatsächlich aus einer unendlichen Anzahl von Teiltönen. Wird eine Glocke angeschlagen, erklingt ein Gemisch aus tieferen Frequenzen, die den Klang vor allem prägen und einer großen Zahl hoher „Teiltöne“, die sich auch aus völlig unharmonischen Frequenzen zusammensetzen können. Innerhalb weniger Sekunden verringert sich der Klang auf 3 bis 4 unterscheidbare Einzeltöne, um schließlich am Ende über den tiefsten Einzelton auszuklingen.
Wie eine Glocke klingt, hängt von vielen Faktoren ab. Allgemein kann man sagen: kleinere Glocken klingen höher, größere tiefer. Die Form der Glocke und das Glockenprofil beeinflussen ihren Klang, ebenso wie das Material, aus dem sie besteht, die Gusstemperatur, das Gewicht, die Aufhängung der Glocke und auch die Stelle, auf die der Klöppel beim Schlagen trifft.
4. Die größte Glocke
Die größte Glocke der Welt steht in Moskau. Sie ist 210.000 Kilogramm schwer und mit 6,41 Metern fast so hoch wie ein Einfamilienhaus. Bei einem Brand stürzte sie 1737 aus dem Glockenturm und ist seither verstummt.
Bis vor zwei Jahren war die Kölner Petersglocke mit einem Durchmesser von 3,22 Metern und einem Gewicht von 24.000 Kilogramm die größte freischwingende, läutbare Glocke der Welt. Seit der Kirchweih im November vergangenen Jahres hält eine andere Glocke diesen Rekord. Mit ihrem tiefen C erklingt in der „Kathedrale der Erlösung des Volkes“ in Bukarest eine 25.190 Kilogramm schwere Glocke, die einen Durchmesser von 3,35 Meter hat. Sie wurde von der österreichischen Glockengießerei Grassmayr hergestellt. Ganze 9 Minuten und 23 Sekunden lang floss dabei die Glockenspeise, das Gussmetall, in die Glockenform.
5. Klänge zwischen Himmel und Erde
„Kein Mensch ist eine Insel im Inneren seines Ichs, jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen: wenn ein Brocken Erde von der See hinweggeschwemmt wird, wird Europa um so kleiner, wie ein Vorgebirge kleiner würde, auch wie ein Landgut deiner Freunde kleiner würde oder dein eigenes; jedes Menschen Tod vermindert mich, weil ich zur Menschheit gehöre. Und darum frage nie, wenn es läutet, wem die Stunde schlägt, sie schlägt für dich.“
(John Donne 1572 bis 1631)
Glocken stehen für die gegensätzlichen Pole, zwischen denen das Leben hin und her schwingt. Der Klang der Glocke, der „von oben auf uns herabschwebt“, verbindet Himmel und Erde, begleitet das Leben in all seinen Höhen und Tiefen, läutet bei Taufe und Tod, am Anfang und am Ende, bei Frieden und Unfrieden. Vielen Glocken wurden Namen gegeben. Man achtete die Glocke als Persönlichkeit, die den Menschen treu auf seiner Lebensreise begleitet. Die Glocke erinnert an die Endlichkeit des Lebens. Früher und in manchen Gemeinden auch heute noch, erklingt die Totenglocke, wenn ein Mensch gestorben ist. Wolfgang Vögele erklärt den Ursprung dieses Rituals: „Man glaubte, der Klang der Glocke trage die Seele des Verstorbenen in den Himmel.“
6. Tönendes Erz
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“, schrieb Paulus im Jahr 55 in seinem Brief an die Korinther, heute zu finden im Neuen Testament der Bibel. Glocken, die tönenden Erze, gibt es schon viel länger als das Christentum, mit dem wir heutzutage den Glockenklang so eng verbinden. Vor etwa 5000 Jahren tauchten Glocken aus Bronze (sie bestehen zu 76 bis 80% aus Kupfer und zu 24 bis 20% aus Zinn) erstmals in China und Süd-Ost-Asien auf. Sie weckten die Menschen morgens auf, riefen zum Gebet, übermittelten Nachrichten. Später entwickelten sich einzelne Glocken zum Maß der Dinge: ihr innerer Hohlraum wurde als Messinstrument für Reis genutzt, ihr Gewicht als Wiegemaß, ihr Durchmesser als Längenmaß.
„Zur wichtigsten Aufgabe eines jeden ersten chinesischen Kaisers gehörte es, den Leitton zu finden, um Gemeinschaft und Kosmos in Einklang zu bringen. Um diesen Leitton hatte sich im fünften vorchristlichen Jahrhundert der damalige Justizminister Konfuzius zu kümmern. Er war zutiefst davon überzeugt, dass alle Musik und mit ihr die Glocke, im Herzen der Menschen geboren werde. Und alles, was das Herz bewegt, das strömt in Tönen aus; wenn ein Ton draußen erklingt, beeinflusst er wieder das Herz drinnen. Ein Wechselspiel von Klang und Widerhall“, schreibt der Glockenexperte Kurt Kramer.
In Vorderasien und Mesopotamien hängte man Tieren Glöckchen um. Die Glocke am Hals von Kamel, Elefant und Pferd, sollte Feinde abschrecken, die Dämonen vertreiben.
Christen wollten mit den Glocken wegen ihrer „heidnischen“ Herkunft zuerst nichts zu tun haben. Dank koptischer Christen gelangten die Glocken dann aber über den Berg Athos nach Irland und von da aus erneut auf das europäische Festland. Die ältesten erhaltene Kirchenglocke Europas ist wohl die Lullusglocke, die im Katharinenturm des Stiftsfriedhofs in Bad Hersfeld hängt. Sie wurde 1038 oder 1040 auf Anweisung des Hersfelder Abtes gegossen und ist etwa 1060 Kilogramm schwer. Die wie ein Bienenkorb geformte Glocke wird noch per Seilzug und daher nur an hohen kirchlichen Feiertagen geläutet.
7. Wetterläuten
„Früher schrieb man dem Glockenläuten magische Kräfte zu“, sagt Wolfgang Vögele. Der Glöckner sei angehalten worden, die Glocke zu läuten, wenn ein Gewitter, Unwetter oder Hagel drohten. Das Läuten diente nicht dazu, die Bauern zu warnen. Das ein Wetter aufzog, sahen sie selbst. „Die Bauern glaubten aber, dass der Klang der Glocken böse Geister vertrieb, die für Hagel und Gewitter verantwortlich gemacht wurden“, sagt Vögele. Der Glöckner musste sehr zuverlässig sein und sollte so lange läuten, bis das Unwetter vorübergezogen war. Meist wurde er mit Getreideähren für seinen Dienst bezahlt.
„Vivos voco, mortus plango, fulgura frango“ – diese häufig auf Glocken gefundene lateinische Inschrift verdeutlicht die den Glocken zugeschriebenen Eigenschaften: „Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich.“
8. Das Verstummen der Glocken
„Seit einer Woche sind wir alle ein bisschen durcheinander mit der Zeit, weil anscheinend unsere liebe und teure Westerturmglocke abgeholt worden ist, und wir wissen seither weder bei Tag noch bei Nacht, wie spät es ist.“ (Anne Frank, Tagebuch, August 1943)
Im ersten Weltkrieg wurden rund 65.000 Glocken eingeschmolzen und zu Kanonenmaterial umfunktioniert. 1935 verbot Reichsminister Hermann Göring den Guss neuer Glocken. Seit September 1939 durften Glocken nicht mehr in der Dunkelheit und auch sonst höchstens eine Minute geläutet werden. Göring wollte auf lange Sicht die Glocken verstummen lassen, im ganzen Land sollten höchstens 12 Glocken erhalten bleiben.
„Im Zweiten Weltkrieg ging es den Nationalsozialisten nicht nur um das Material. Das Schweigen der Glocken damals ging einher mit dem Schweigen der Menschen angesichts unfassbarer Gräueltaten. Menschlichkeit lebt auf, wenn Glocken zur Besinnung rufen, zur Unterbrechung des Alltags, zum Friedensgebet“, schreibt Martin Vorländer in der „Evangelischen Sonntags-Zeitung“.
Im März 1940 gab es eine neue Anordnung Görings: „Um die für eine Kriegsführung auf lange Sicht erforderliche Metallreserve zu schaffen, ordne ich an:
1. Die in Glocken aus Bronze und Gebäudeteilen aus Kupfer enthaltenen Metallmengen sind zu erfassen und unverzüglich der deutschen Rüstungsreserve dienstbar zu machen.
2. Die Glocken aus Bronze sind anzumelden und abzuliefern. Gebäudeteile aus Kupfer sind zunächst nur anzumelden. Die Festsetzung des Zeitpunktes der Ablieferung bleibt vorbehalten. Über die anzumeldenden Gegenstände darf ohne besondere Anweisung nicht verfügt werden.
3. Ausbau und Abtransport der Glocken erfolgen auf Kosten des Reichs. Die Gewährung von Ersatzmaterial und eine angemessene Entschädigung des Wertes der Glocken nach Kriegsende wird zugesichert. Die Ersatzbeschaffung und Kostenerstattung für auszubauende Gebäudeteile aus Kupfer wird von Fall zu Fall geregelt.
4. Der Reichswirtschaftsminister trifft die zur Durchführung dieser Anordnung erforderlichen Bestimmungen. Er kann Ausnahmen von der Ablieferungspflicht zulassen."
Insgesamt wurden im 2. Weltkrieg etwa 80.000 Glocken eingeschmolzen. Man sammelte sie zunächst auf „Glockenfriedhöfen“ und gab sie von dort aus an die Rüstungsindustrie weiter.
Kriegsheimkehrer, die zehn Jahre lang keine Glocken gehört hatten, brachen in Tränen aus, wenn sie deren Klang wieder vernahmen, erzählt Christof Grassmayr.
„Wenn in der Neujahrsnacht die Glocken tönen, die heimgekehrten, mühselig hinaufgezogen in die geborstenen Türme, die großen Glocken…Nur die Glocken, die Sturm singen und Frieden singen, die Tod singen und Weihnacht singen. Die rätselhaften, unausdeutbaren Glocken rufen noch immer.“
(Marie Luise Kaschnitz, „Europa“, 1949)
9. Glockenguss und Glockenmuseum
Wer sich dafür interessiert, wie Glocken überhaupt hergestellt werden, welche Schritte der Glockengießer von der ersten Zeichnung bis zum abschließenden Guss gehen muss oder den Schall von Glocken unmittelbar hören und spüren möchte, dem sei das westfälische Glockenmuseum Gescher empfohlen.
10. Klagen gegen die Glocken
Goethes Mephisto nervte der Glockenklang: „Jedem edlen Ohr / kommt das Geklingel widrig vor, /und das verfluchte Bim-Bam-Bimmel / umnebelnd heiteren Abendhimmel / mischt sich in jegliches Begebnis / vom ersten Bad bis zum Begräbnis / als wäre zwischen Bim und Baum / das Leben ein verschollner Traum.“
Wenn heute zum Gottesdienst geläutet würde, könne das wegen der Religionsfreiheit nicht verboten werden, sagt Wolfgang Vögele. Anders sieht es beim Glockenschlag zur Anzeige der Uhrzeit aus. Dieser falle unter die Lärmschutzverordnung. Ist er zu laut, könnte der Uhrschlag beispielsweise nachts untersagt und tagsüber nur gedämpft erlaubt werden.
Moderne Städtebaukonzepte würden stets im Sinne einer Lärmvermeidung aufgestellt werden. „Das ist ja auch gut“, sagt Vögele. Wichtig findet der Theologe und Glockenexperte allerdings, dass nicht nur die Lärmvermeidung in den Blick genommen werde, sondern auch die Förderung einer positiven Geräuschkulisse. „Die Menschen in einer Stadt brauchen nicht nur den Schutz vor Lärm, sie brauchen auch positive Geräusche.“ Für Vögele gehören Naturgeräusche genauso dazu wie der Klang der Glocken.
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Quellen (zusätzlich zu den im Text erwähnten):