Gregory Crewdson im Interview: Retrospektive des US-Fotokünstlers in der Wiener Albertina

Der amerikanische Fotokünstler Gregory Crewdson gilt als Meister des Rätselhaften und des Unheimlichen. An verlassenen Orten erschafft er Bilder der Einsamkeit, in denen Autos mit offenen Türen und verloren wirkende Menschen eine Rolle spielen. Er bezeichnet sich selbst als Storyteller, der versucht, die Atmosphäre eines Films in einem einzigen Bild zusammenzubringen. Seine Werke entstehen in Zusammenarbeit mit einer Filmcrew, bis zu einhundert Leute für Casting, Kostüme und Technik sind involviert. Mehr als achtzig seiner großformatigen Bilder sind bis zum 8. September in der Albertina in Wien zu sehen.

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Besucherinnen stehen im Albertina-Museum in Wien bei der Ausstellung von Gregory Crewdson vor einem Bild

Die Arbeit an der Serie Cathedral of the Pines hat sich über fünf Jahre hingezogen. Sie begannen damit in einer schwierigen Phase Ihres Lebens. Wie verändern solche Umstände ihre Fotografie?

GC: Das ist die Beziehung zwischen dem Leben und der Kunst. Zu Beginn des Projektes zeigte sich, dass ich aus dem Dunkel kam. Ich war gerade aus New York weggezogen und hatte Juliane kennengelernt, meine Partnerin. Wir begannen gerade, uns ein gemeinsames Leben aufzubauen. Cathedral of the Pines war somit ein gemeinsames Projekt. Es war verbunden mit unserer beider Leben. Die Bilder sind inzwischen wieder eine Spur optimistischer geworden, haben aber deutlich etwas von meiner Gemütsverfassung damals. Jedenfalls spielt die Natur eine große Rolle. Die Wälder und der Schnee. Auch geht es um die Beziehung der Menschen zu einer weiten Landschaft.

Sie sprechen von Fotografie als einem voyeuristischen Akt, bei dem man etwas Verbotenes oder Verborgenes sehen kann. Wie kann man etwas Verbotenes sehen, wenn alle Details in ihren Bildern geplant sind?

GC: Es gibt eine Art sichtbar gemachter Oberfläche in den Bildern. Dabei geht es um Objekte und Details, die ersichtlich sind. Die Bilder sind sehr groß, man kann diese Details bei genauem Betrachten finden. Doch dann gibt es diese Ebene darunter, unter der Oberfläche. Als Betrachter spürst du, dass es etwas gibt, das du nicht zu fassen kriegst. Die Ebene des Unterbewussten. Ich bin fokussiert auf Elemente der Komposition und der Lichtsetzung. Da achte ich auf jedes Detail. Dennoch spielt die versteckte Psychologie bei meinen Bildern eine große Rolle. Dieser Teil des Bildes bleibt stets ein Rätsel, aber er kommt dennoch nach oben. Das hat sicher damit zu tun, dass mein Vater Psychoanalytiker war und ich viele seiner Sitzungen als Kind miterlebt habe.

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Wenn über ihr Werk gesprochen wird, geht es oft um den Einfluss von Filmen und Serien. Aber umgekehrt haben Sie auch mit Ihren Bildern Filmemacher inspiriert. Sind Sie überrascht über diesen gegenseitigen Einfluss?

GC: Ich fühle mich davon sehr geehrt. Es ist ein großes Kompliment für meine Arbeit. Ursprünglich bin ich in meiner Herangehensweise von Filmen beeinflusst. Mir gefällt, wie einzelne Bilder in Filmen dargestellt werden. Mich interessiert die Art der Produktion. Es ist toll, dass meine eigene Arbeit nun Einfluss auf das Filmschaffen anderer hat. Es ist, wie Sie sagen: ein gegenseitiger Effekt. Aber so funktioniert Kultur im Allgemeinen. Künstler saugen alles auf, was vor ihnen in der Kunstgeschichte da war, die alten Traditionen. Dann erfinden sie sich darin neu und andere Künstler finden das wieder inspirierend. So dreht sich das Rad immer weiter.

Alle Bilder der Ausstellung in der Albertina entstanden in Massachusetts in den USA. Welche Bedeutung hat dieser Bundesstaat für Sie?

GC: Alle Bilder entstehen in und um denselben Ort, wo ich lebe und mit dem ich familiär verbunden bin. Die Geschichte eines jeden Bildes steht unter dem Motto „Location, Location, Location“. Wenn ich einen Ort gefunden habe, denke ich mir ein Setting aus und lasse es auf mich wirken. Im Kern ist meine Arbeit immer etwas einsam, denn ich finde diese Plätze, indem ich einfach herumfahre und mich treiben lasse. Dieses Gefühl des Alleinseins spiegelt sich in den Bildern wider, auch wenn im Prozess der Bildentstehung eine große Anzahl Menschen am Bild beteiligt sind, fast wie bei einem Film-Dreh.

In einem Interview nennen Sie Serien wie Mad Man als Vorbilder. Haben Sie Buchempfehlungen, die Sie weitergeben wollen?

GC: Ich bin inspiriert von Schriftstellern, die denselben Weg erkunden wie ich, wie etwa Raymond Carver. Ich liebe seine Kurzgeschichten aus den Siebzigern. Dann Joyce Carol Oates, Rick Moody, Jonathan Franzen. Da wird das Alltagsleben sehr detailreich beschrieben, es geht um die Ängste und Befürchtungen der Menschen. Zusammen ergibt das ein ausdrucksstarkes Bild der amerikanischen Befindlichkeit. In den Kurzgeschichten von Raymond Carver sind es kleine Details, die dazu beitragen, das große Ganze besser zu verstehen. Ganz normale Lebensumstände verwandeln sich in einen Albtraum, weil etwas passiert, das die Normalität untergräbt.

Sie sagen, es sei frustrierend, so aufwendige Bilder zu machen. Sie arbeiten draußen, mal macht das Wetter nicht mit, mal macht ein Nachbar Probleme. Was braucht ein Anfänger, wenn er solche Bilder in seiner Nachbarschaft aufnehmen will?

GC: Ich denke, man sollte als Künstler nie einen anderen kopieren. Besser, man findet seine eigene Vision der Welt. Der Grund, warum ich diese Bilder mache, ist, weil ich es muss. Andere Künstler machen es anders. Jeder hat eine Geschichte, die er erzählen möchte, es geht nur darum, den eigenen Weg herauszufinden.

Ihre Fotoarbeiten sind sehr groß und dennoch detailreich. Was für eine Kamera verwenden Sie?

GC: Früher nutzten wir eine 8×10 Inch Plattenkamera, die war etwas sperrig in der Handhabung. Wir verwenden jetzt eine sehr hochauflösende digitale Kamera, eine Phase One.

Was können Sie über die Postproduktion sagen? Worin liegt das Geheimnis ihrer Bilder?

GC: Das Geheimnis ist schlicht und ergreifend der Faktor Zeit. Die Arbeit an den Bildern ist wie die Arbeit an einer Komposition, bei der bestimmte Elemente hinzugefügt oder entfernt werden. Wenn wir eine Aufnahme machen, bewegt sich die Kamera nicht. So können wir jedes Element fotografieren und später einbauen. Da gilt das Motto „wenn du es nicht hast, kannst du es nicht verwenden“. Deshalb versuchen wir schon bei der Aufnahme, jedes denkbare Detail einzufangen. Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, den Himmel. Und sogar solche Elemente wie Rauch, den wir künstlich hinzufügen.

Sie sagen, das Leben sei chaotisch und die Kunst helfe Ihnen dabei, Ordnung zu gestalten. Sie leiden unter Dyslexie, einer Lese- und Rechtschreibschwäche. Meine Tochter ebenfalls. Sollte ich meiner Tochter die Fotografie näherbringen? (Link zu einem Podcast zum Thema)

GC: Wenn sie sich dazu hingezogen fühlt, natürlich. Für mich, der ich dyslexisch bin, ist es eine Art, Ordnung zu schaffen. In der Welt herrscht Chaos und Unordnung. Viele Dinge laufen falsch. In der Kunst gibt es die Möglichkeit, so etwas wie einen Moment der Stille zu erschaffen, die von anderen verstanden werden kann. Das hat mit Ordnung und Symmetrie zu tun.

Anmerkung: Die Bilder von Gregory Crewdson sind bis zum 8.September in Wien zu sehen. Die Ausstellung wird 2025 in der Bundeskunsthalle in Bonn gezeigt.

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