Leben auf dem Fluss – Wie ein Paar gemeinsam die Entscheidung trifft, nachhaltig zu leben
Miriam und Rainer haben es geschafft, sich von vielen materiellen Dingen freizumachen. Auf einem alten Schlepper führen sie nun ein Leben auf dem Wasser. Einen Teil der Familie stellt das vor neue Herausforderungen. Aber Zuspruch kommt völlig unerwartet von anderer Seite.
„Tiefer kannst du nicht sinken“, sagte Rainers Mutter, als sie von seinem Vorhaben erfuhr, von nun an auf einem Schiff zu leben. Die 84-jährige Frau zeigte keinerlei Verständnis für das Lebensmodell, dass ihr Sohn gemeinsam mit seiner neuen Lebenspartnerin präsentierte. Sie fuhr fleißig mit dem Auto und kam nicht auf den Gedanken, den Führerschein abzugeben. Selbst eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darzustellen, kam ihr nicht in den Sinn. Stattdessen klammerte sie sich an ihren Besitz wie ein unartiges Kind, das ihre Puppe nicht teilen will. Doch mit der Antwort, die von ihrem Sohn kam, hatte sie im Leben nicht gerechnet.
Rainer und Miriam blickten seiner Mutter ernst in die Augen. „Das ist deine Meinung. Unsere ist es nicht“, sagte Rainer, „Und wenn du bei deiner Meinung bleibst, dann werden wir uns in Zukunft nicht oft sehen.“ Mit diesen Sätzen war ein Bruch vollzogen, der in einem Grundsatz endete, den Miriam in Worte fasste: „Von nun an werde ich mich von toxischen Menschen fern halten!“ Die Holländerin und ihr Hamburger Lebenspartner zogen auf einen Schlepper. Auto und Wohnung wurden nach und nach verkauft, die Ansprüche, die ihr Leben bislang ausgemacht hatte, komplett nach unten reduziert. Das Schiff, auf dem ich mit den beiden über ihre Realität rede, erinnert an ein Tinyhouse auf dem Wasser.
Rainer, 52, war lange Jahre Geschäftsführer einer Firma, die Kunststoff verarbeitet. Heute arbeitet er als Skipper und Coach für Führungskräfte. Sein Wendepunkt kam, als er im Betrieb die Idee einbrachte, diesen kaufen zu wollen. Fast wäre sein Plan aufgegangen, doch der Preis, den ihm die anderen Gesellschafter nannten, war für ihn zu hoch. Das Geld war nicht aufzutreiben. Es folgte ein langer Prozess der Veränderung, in dem der finanzielle Spielraum enger wurde und sich seine Ehefrau scheiden ließ. Doch er sah die gewonnene Freiheit und begann eine Ausbildung zum Skipper auf einem Segelschiff. Die Anpassung des Lebensstils brauchte seine Zeit, weil er Autos liebte.
„Welchen Wagen hole ich mir mit Leasing die nächsten zwei Jahre? Das war lange Zeit mein Motto.“ Fast sehnsuchtsvoll erzählt er von dieser Lebensphase, die für ihn vorbei ist. „Wo ich früher achtzigtausend Kilometer im Jahr gefahren bin, sind es heute nur noch knapp Tausend. Und ich fahre auch nicht mehr mit 280 Stundenkilometer über die Autobahn, so wie früher.“ Heute haben nicht einmal mehr ihre Kinder das Bedürfnis, einen Führerschein zu besitzen. Insgesamt haben Miriam und Rainer fünf Kinder. Für diese bedeutet das Leben auf dem Wasser eine Veränderung, die nicht leicht zu bewältigen ist. Denn für den Nachwuchs ist auf dem Schlepper kein Platz.
Skipper und digitale Nomadin
„Aber das ist kein Problem. Wenn Kinder zu Besuch kommen, dann schlafen die auf dem Segelboot, das verfügt über genügend Kajüten.“ Der Segler ist Rainers ganzer Stolz, damit macht er seine Fahrten als Skipper und verdient sich sein Geld. Bei Miriam sieht es anders aus. Sie ist digitale Nomadin und arbeitet im Content Management, wofür sie unterwegs stets eine Internetverbindung benötigt. Dafür gibt es heute Lösungen. Ein Hotspot mit Flatrate-Vertrag funktioniert europaweit. Sie kann von überall aus arbeiten. Nur dass die Leute ihr dabei zuschauen, das stört sie. „Als wir zuletzt im Hafen von Glückstadt lagen, war das zwar ein toller, romantischer Platz. Aber ständig kamen Menschen und hatten Fragen über unser Leben hier und über das Schiff.“ Gegenwärtig liegt ihr Schlepper „Elektra“ in Cuxhaven, wo beide das Ambiente „schiffiger“ finden. Es macht ihnen nichts aus, unweit einer Werft zu liegen. „Hier gibt es viele nette Leute“. Dennoch spiele die Wahl der Größe eines Schiffes eine wichtige Rolle, denn ist es zu lang, so blieben nur Anlegeplätze in Industriehäfen. Und es gilt nicht als angenehm, beispielsweise neben einer fischverarbeitenden Fabrik zu wohnen.
Miriam hat sich deswegen für einen bewussten Lebensstil entschieden, weil sie ihren Kindern ein Vorbild sein will. Mit dem Fliegen hat sie abgeschlossen. Neben der Vermeidung von Plastik an Bord sorgt sie sich um den Wasserverbrauch und um die Kosten der Zentralheizung, die das dieselgetriebene Schiff in den Wintermonaten benötigt. „Winter ist geil“, sagt sie. „Auch dann sind wir viel an der frischen Luft.“ Der Schlepper ist gegen die Kälte isoliert, das Heizöl holen sie in Kanistern. In ihrem Beruf ist die Holländerin wählerisch. Bei Neukunden, die mit ihr arbeiten wollen, lässt sie sich die Produkte zeigen, die diese herstellen. Sind diese nicht nachhaltig, lehnt sie den Job ab. „Das muss man sich auch erstmal leisten können“, sagt Rainer mit Bewunderung.
Anders leben nach der Krise
Doch die Entscheidung, anders zu leben, ist ihr gemeinsames Thema. Das spiegelt sich mittlerweile in den Coachings, die Rainer macht, und auf den Segeltörns. „Immer öfter kommen Männer um die Fünfzig, die davon sprechen, die eigene Firma zu verkaufen oder das Haus“, erzählt er mit funkelnden Augen. „Es gibt bei so vielen Menschen Parallelen. Der Wunsch, anders zu leben, entsteht heute immer dann, wenn es eine lebensveränderte Krise gibt. Oder es ist die Partnerin, die dem Mann die Pistole auf die Brust setzt und sagt: du wirst immer härter. Entweder wir leben oder ich gehe.“ Dann erzählt er die Geschichte von Mareike, die den Traum hatte, gemeinsam mit einer Freundin mit dem Segeln zu beginnen, sobald sie in Rente gehen würden. Doch der Krebs holte sich mit 45 die Kameradin.
Was macht Mareike jetzt, frage ich. „Die ist auf dem Pazifik unterwegs. Sie hat sich gesagt, ich warte nicht länger. Sie hat sich einen Katamaran gekauft und verbindet ihre Reisen mit Hilfsprojekten.“ Eine schöne Geschichte, denke ich und frage, welche Ziele Miriam und Rainer für die nähere Zukunft haben. „Wir haben schon eine Insel im Auge“ sagt Rainer. „Auf den Azoren. Dort ein Steinhaus zu haben, das würde uns gefallen. Doch als erstes stellen wir uns die Frage, bleiben wir noch ein Jahr hier oder fahren wir über die Kanäle rüber nach Holland?“ Auf Familienbesuch. Was ja auch wichtig ist, denke ich mir.