Die Angst vor dem Schatten
Interview mit der Dokumentarfotografin Irina Unruh über häusliche Gewalt in Deutschland, traumatische Erfahrungen und tiefe seelische Verletzungen.
Über einhunderttausend Frauen werden in Deutschland jährlich Opfer von häuslicher Gewalt. Die Dokumentarfotografin Irina Unruh beschäftigt sich intensiv mit diesem Thema. Sie erzählt in Interview und Podcast über die zum Teil traumatischen Erlebnisse, die Frauen widerfahren, die Opfer ihrer Partner oder Ex-Partner werden. Aber auch Männer sind nicht gefeit vor dieser Erfahrung.
Fotograf mit Zweifeln: Gibt es Zahlen zum Thema „Häusliche Gewalt“ in Deutschland?
Irina Unruh: Da gibt es Zahlen. Meines Wissens werden seit 2015 vom Bundeskriminalamt (BKA) Statistiken geführt. Im Jahr 2018 kam es zu über 114.000 Fällen von häuslicher Gewalt, Bedrohung oder Nötigung durch Ehemänner, Partner oder Ex-Partner. Dann gibt es die Zahl, dass im selben Jahr 122 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet wurden. Man geht von einer Dunkelziffer aus, die acht bis zehn Mal so hoch ist. Die Zahlen, die man hat, sind nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht wurden.
Fotograf mit Zweifeln: Ist Deutschland in diesem Zusammenhang ein vorbildliches Land oder eher nicht?
Irina Unruh: Deutschland ist ganz sicher kein vorbildliches Land. Im Gegenteil. Hier ist das Bewusstsein für dieses Problem noch nicht weit genug entwickelt, um zu sehen, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt. Man hört von Nachbarländern wie Italien, Spanien, Frankreich, in denen es Demonstrationen zum Thema häusliche Gewalt gibt. Dort sind die Stimmen lauter, während es in Deutschland relativ ruhig ist. Es handelt sich um ein Thema, über das nicht viel gesprochen wird.
Fotograf mit Zweifeln: Wie definiert man das eigentlich? Wo beginnt häusliche Gewalt?
Irina Unruh: Bei meiner Arbeit habe ich oft festgestellt, dass Betroffene ihre Situation als nicht schlimm genug ansahen und oft sagten, „in meinem Fall ist es keine häusliche Gewalt“. Wenn wir uns aber länger unterhielten, dann kam irgendwann der Punkt, an dem sie sagten, „Oh, wenn ich es mir richtig überlege, habe ich das doch erlebt.“ Der Begriff „Häusliche Gewalt“ ist ein Oberbegriff für viele unterschiedliche Formen von Gewalt in Partnerschaften. Oft assoziiert man damit physische Gewalt, doch das ist nur eine Form.
Fotograf mit Zweifeln: Also der Mann, der die Frau schlägt zum Beispiel.
Irina Unruh: Genau. Doch es beginnt schon viel früher. Es beginnt mit der Ausübung von Kontrolle, mit psychischer Gewalt, mit finanziell ausgeübtem Druck, sozialer Ausgrenzung. Ich spreche dabei von Frauen, denn in mehr als achtzig Prozent sind es Frauen, die so etwas erleben.
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„Die Angst war unglaublich groß, dass sie erkannt werden könnte. Dass selbst ihr Schatten erkannt werden könnte.“
Fotograf mit Zweifeln: Es gibt auch Männer, die von ihren Frauen geschlagen werden.
Irina Unruh: Das gibt es auch. Ich beziehe mich in meiner Arbeit allerdings auf die Frauen, die ich getroffen habe. Die Formen, wie häusliche Gewalt zum Ausdruck kommt, sind vielfältig. Es gibt keine klare Trennlinie, im Sinne, das ist es, das nicht. Dieses Denken ist teilweise zwar noch da, zu sagen, solange ich nicht geschlagen werde, ist es nicht so schlimm. Aber es ist natürlich auch schon nicht gut, wenn eine Frau nicht mehr ihre eigenen Entscheidungen treffen darf. Wenn sie sich zum Beispiel rechtfertigen muss, mit wem sie sich trifft, wenn der Partner ihr Handy kontrolliert oder wenn immer wieder Anrufe kommen, während sie mit Freundinnen unterwegs ist, mit Fragen wie „Na wo bleibst du, wie lange bist du noch unterwegs.“ Dabei handelt es sich um eine Form von Kontrolle, die voran geht, bevor es zu physischer Gewalt kommt.
Fotograf mit Zweifeln: Also gibt es Muster, die eine Frau im Vorhinein erkennen könnte? Im Sinne von „mein Partner verhält sich so und so, da muss ich vorsichtig sein“?
Irina Unruh: Ja, man spricht da von den so genannten roten Flaggen. Da sollte auch die Aufklärung ansetzen, um das Problem besser zu verstehen. Die betroffenen Frauen schilderten in meinen Befragungen alle, dass die Situation sich mit der Zeit veränderte. Der Partner war nicht von Anfang an ein Mensch, der zur Gewalt tendierte. Es fing klein an, er gewann immer mehr Kontrolle und machte ihr Vorgaben. Eine Frau schilderte mir, ihr Partner machte zunächst Kommentare zu ihrem Aussehen und wie sie sich kleidete. Es fing an mit kleinen Demütigungen und Erniedrigungen. Dann steigerte es sich. Im Nachhinein, wenn sie der Situation entkommen sind, sagen fast alle Betroffenen: Ja, es gab Hinweise, aber ich konnte sie nicht deuten. Dafür war die Situation zu komplex. Eigenschaften wie Dominanz oder Kontrolle waren anfangs nie so deutlich, dass die Frau hätte sagen können: Ich gehe jetzt. Oft ist das ein Riesenproblem, denn den Frauen wird im Nachhinein gerne vorgeworfen: Warum bist du nicht gegangen?
Fotograf mit Zweifeln: Kann es nicht auch gefährlich werden, das Gehen anzudrohen?
Irina Unruh: Ja. Man muss wissen, dass genau hier die gefährlichen Momente liegen. Es gibt Statistiken, die belegen, dass gerade die Momente der Trennung für Frauen in Gewaltbeziehungen extrem gefährlich werden können. Die Zeit vor einer Trennung, wenn der Partner mitbekommt, dass die Frau vorhat, ihn zu verlassen, ist gefährlich, dann die Trennungsphase und auch die Zeit danach. Die meisten schweren Körperverletzungen passieren dann. Das geht bis hin zu Frauenmorden.
Fotograf mit Zweifeln: Lass uns mal das Thema wechseln. Ich habe dich kennengelernt, da hattest du gerade eine Arbeit präsentiert über Kirgistan. Auch da ging es um ein Frauenthema, den Brautraub. Wie kommt es, dass du dich im Laufe deiner fotografischen Weiterentwicklung so stark für Frauenthemen interessiert hast?
Irina Unruh: Eigentlich wollte ich dieses Jahr in Kirgistan sein, doch der Flug wurde wegen der Pandemie gecancelt. In dieser Zeit gab es in den Medien Hinweise darauf, dass häusliche Gewalt auch in Deutschland zunehmen wird. Das war für mich eine Art Trigger. Da kamen Erinnerungen hoch, da ich mit der Thematik mehrmals in meinem Leben in Berührung gekommen bin. Da ich an meinem Projekt in Kirgistan nicht arbeiten kann, gleichzeitig aber nicht tatenlos bleiben wollte, wuchs der Wunsch, mich dieses Themas anzunehmen. Dabei geht es auch um die Rechte von Frauen und Kindern. Man weiß auch, dass Kinder, die „nur“ bloße Zeugen von häuslicher Gewalt sind, unglaublich viel sehen, hören, erleben, was sich in ihre Seelen einbrennt.
Mein Wunsch war es, den Blick auf Deutschland zu lenken, nachdem ich bislang nur in meinem Geburtsland gearbeitet hatte. Ich war dann regelrecht ein Stück weit erschrocken, als ich die Zahlen sah. Ich habe einige Jahre in Rom gelebt und habe dort mitbekommen, wie Aktivistinnen das Thema zum Brennpunkt der Aufmerksamkeit gemacht haben.
"Die betroffenen Frauen schilderten alle, dass die Situation sich mit der Zeit veränderte. Der Partner war nicht von Anfang an ein Mensch, der zur Gewalt tendierte."
Fotograf mit Zweifeln: Ich verfolge deine Arbeit jetzt schon länger. Vorhin hatte ich die Gelegenheit, bei einem Telefonat mitzuhören, das du geführt hast mit der Redakteurin eines angesehenen Magazins. Ich fand es toll, mit wie viel Sachkenntnis du über das Thema gesprochen hast. Wie wichtig findest du, ist für die Arbeit einer Dokumentarfotografin die Sachkenntnis?
Irina Unruh: Ich denke, das ist unglaublich wichtig. Wenn man sich mit einem Thema befasst, ist es wichtig, dass man sich da hinein fuchst, denn man trägt auch eine große Verantwortung. Da reicht es nicht, ein Thema nur oberflächlich zu bearbeiten. Ich habe keine Deadline für das aktuelle Projekt, ich habe mir selber einen Rahmen gesetzt, aber den habe ich schon lange überschritten, weil ich merke, dass das Thema so vielschichtig ist. Mir ist es wichtig, keine Stereotypen zu bedienen, sondern Betroffene zu befragen, die unterschiedliche Formen häuslicher Gewalt erlebt haben, denn das sind im Grunde genommen Träger von Erfahrungen, die sehr wichtig sind für uns als Gesellschaft. Diese Stimmen vernehmen zu können, ist unglaublich wichtig. Die Erfahrungen der Menschen sind für uns wichtig, um daraus zu lernen. Das war mein Wusch. Betroffenen zuzuhören und herauszufinden: Was gab ihnen Kraft, was gab ihnen Hoffnung in diesen schweren Lebensmomenten, die sie durchlebt haben.
Fotograf mit Zweifeln: Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, solche Gespräche zu führen. Dann spielt sicher auch die Anonymität eine Rolle. Wie gehst du damit um?
Irina Unruh: Für Betroffene von häuslicher Gewalt ist Anonymität unglaublich wichtig. Angst und Scham sind da starke Gefühle. Man muss immer schauen, in welcher Situation sich die jeweilige Person befindet. Es gibt Frauen, die sagen, jetzt bin ich an einem Punkt, und ich kann über die Geschichte sprechen, doch möchte ich anonym bleiben, weil ich nicht auf den Bildern erkannt werden will. Komplett anonym zu fotografieren ist sehr schwierig. Jemand, der einen sehr gut kennt, würde sogar die Hände einer Person auf dem Bild wiedererkennen. Bei einer Person hatten wir überlegt, ihren Schatten zu fotografieren, doch am Ende entschieden wir uns dagegen, denn die Angst war unglaublich groß, dass sie erkannt werden könnte. Dass selbst ihr Schatten erkannt werden könnte. Dann haben wir auf das Shooting verzichtet und somit ist ihre Geschichte visuell nicht im Projekt enthalten. Aber was sie zu erzählen hatte, war unglaublich wichtig: Dass die Angst extrem stark verankert ist, dass der Täter sich noch rächen möchte. Eine sehr reale Angst.
Fotograf mit Zweifeln: Wenn man über die fotografische Herangehensweise redet, stellt sich die Frage, muss man mit der Kamera eigentlich immer ganz nah rangehen und als Fotograf Zeuge werden von schrecklichen Momenten, damit das Thema Aufmerksamkeit bekommt?
Irina Unruh: Es gibt sehr unterschiedliche Vorgehensweisen. In der Fotografie kannst du journalistisch arbeiten, du kannst es aber auch anders machen. Eine amerikanische Fotografin aus den USA, Gewinnerin des World Press Awards 2014, hat ein Paar kennengelernt, deren Vertrauen gewonnen und dieses dann über einen langen Zeitraum fotografisch begleitet. Sie hat Gewaltmomente festhalten können, wo die Polizei kommen musste und der Mann dann festgenommen wurde. Solche Bilder sind, denke ich, wichtig, aber meine Art ist es nicht. Auch ich versuche, möglichst nah an die Menschen heranzukommen. Aber meine fotografische Arbeit ist eher eine der Erinnerungen. Es geht mehr darum, wie Menschen mit traumatischen Erfahrungen umgehen, auch Jahre später. Ich nähere mich im Gespräch an tiefe seelische Verletzungen und Wunden. Mir ist es sehr wichtig, die Menschen vorher und nachher zu begleiten. Ich muss wissen, wie es den Menschen geht, denn es kann auch durch das Erzählen zu einer Retraumatisierung kommen. Es macht sehr viel mit Menschen, über ein Trauma zu sprechen. Ich habe mich bei Frauenhäusern beraten lassen, wie solche Gespräche zu führen sind, denn ich bin selber keine Psychologin. Die eigentlichen Fotos sind letztlich das, was am schnellsten geht.
Fotograf mit Zweifeln: Danke, dass du uns an deiner Arbeit hast teilnehmen lassen. Als letztes würde ich dich fragen, wie es ist, bei Woman Photographer zu sein. Eine Agentur, von der man in letzter Zeit einiges hört. Manchmal würde ich mir wünschen, ich wäre eine Frau.
Irina Unruh: Ich bin letztes Jahr Mitglied dieser Gruppe geworden. Da sind weltweit etwa tausend Frauen, genauer „woman and non binary photographers“, zusammengekommen. Von allen Erdteilen dieser Welt. Das sind Fotografinnen, die sich gegenseitig unterstützen, sich ermutigen und sich Tipps geben. Da geht es von praktischen Dingen bis zu Förderpreisen, die ausgeschrieben werden. Man erfährt dann so Sachen, wie, „wär das nicht was für die Fotografinnen aus Afrika“ und so. Eine tolle Community, die sich solidarisch verbündet hat und die versucht, den weiblichen Blick in dieser männerdominierten Branche zu etablieren. Wir sind eine bunte Gesellschaft.
Fotograf mit Zweifeln: Früher hat man gesagt, Frauen wünschten sich, ein Mann zu sein. Oder wie hast du das mal gesagt?
Irina Unruh: Ja, man hörte das immer wieder. Ach wär ich doch ein Mann! Die Situation von Frauen ist einfach in vielen Bereichen eine andere als die von Männern. Da reicht in Deutschland der Blick auf die Unterschiede in der Bezahlung.
Fotograf mit Zweifeln: Ich danke für dieses spannende Gespräch.
Irina Unruh ist Dokumentarfotografin, Lehrerin und Mutter mit Sitz in Warendorf. Gebürtig stammt sie aus Kirgistan. Im Jahr 1988 siedelte sie im Alter von 9 Jahren mit ihrer deutschstämmigen Familie nach Deutschland um, wo sie ihre schulische Ausbildung beendete und eine universitäre Ausbildung erhielt. Sie studierte Mathematik, Deutsch und evangelische Theologie auf Lehramt.
2014 begann sie ihre große Leidenschaft für Fotografie zu erweitern, entschloss sich, nur in Teilzeit als Lehrerin zu arbeiten und bildete sich als Dokumentarfotografin aus. Sie nahm als Autodidaktin an verschiedenen Workshops mit italienischen und internationalen Fotojournalisten teil, darunter Monika Bulaj, Karl Mancini und K M Asad.
Derzeit arbeitet Irina Unruh an Langzeitprojekten: Ihre fotografische Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Situation von Frauen und jungen Mädchen in ihrem Geburtsland Kirgistan. Ihre Arbeit erhielt weltweite Anerkennung und wurde international beispielsweise in Rom, im Zentrum für bildende Kunst "BOZAR" in Brüssel, in Tiflis und in Jakarta ausgestellt. Ihr andauerndes Projekt "I am Jamilia" erhielt mehrere Auszeichnungen.
Im April 2020 erhielt Irina Unruh einen Förderpreis von der National Geographic Society zur Unterstützung ihres vorgeschlagenen Projekts „Die Erinnerung bleibt“ zur Thematik von häuslicher Gewalt in Deutschland.