Unnützes Unkraut?

Ob Bananen oder Weizen – unsere Nahrung ist genetisch verarmt. Wissenschaftlerïnnen erforschen, wie verwandte Wildarten wichtigen Nutzpflanzen gegen Klimastress und Krankheiten helfen könnten.

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Im Vordergrund steht der reife Weizen im Feld, im Hintergrund sieht man weitere kleinräumige Felder und einen Gebirgszug.

Viele denken bei Biodiversität vor allem an exotische Tiere und unberührte Naturlandschaften. Doch auch für unsere ganz normalen Nutzpflanzen wie Kartoffel, Zuckerrübe oder Weizen, die uns täglich ernähren, spielt die Artenvielfalt eine wichtige Rolle. Nutzpflanzen gegen Klimastress und Pflanzenkrankheiten zu rüsten ist eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Dafür sind die wilden und lange vernachlässigten Verwandten unserer Nutzpflanzen enorm wichtig, wie unsere Recherche für „Countdown Natur“ zeigt.

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Jedes Rennpferd ist ein biologisches Meisterwerk. Schnell – natürlich – aber auch schön, stark und schlau. Das stolze Ergebnis von Generationen der Zucht durch ihre Besitzer, die ein ums andere Mal genau die Tiere ausgewählt haben, die Nachkommen produzieren und ihre Eigenschaften weitergeben sollten.

Ein Weizenfeld ist wie eine gigantische Herde von Rennpferden. Jeder Halm, jedes Korn seit Generationen optimiert, von Bäuerinnen und Bauern, von Züchterinnen und Züchtern, von Bäckerinnen und Müllern und uns, den Leuten, die den Weizen essen. Und nicht nur der Weizen.

Alle unsere Nutzpflanzen sind solche „Rennpferde“ – Rüben und Tomaten, Raps und Bananen, Sellerie und Wein. Optimiert auf Ertrag, natürlich, aber auch auf Geschmack, Farbe, Erntefreundlichkeit und viele andere Eigenschaften. Und das gilt nicht nur für die modernen Hochleistungssorten, die in Kühlschiffen rund um den Planeten transportiert werden, sondern auch für die bei Umwelt- und Gesundheitsbewussten so beliebten sogenannten Landrassen und traditionellen Sorten – vom Danziger Kantapfel bis zum Bamberger Hörnla, einer alten Kartoffelsorte. Alles Rennpferde, alles Topathleten. Und alle auf ihre Weise anfällig.

Die Rennpferde Always Shopping, Off Topic und Proud Emma Kopf an Kopf auf der Rennstrecke.
Rennpferde sind hochgezüchtete Topathleten, über viele Generationen aus wilden Vorfahren gezüchtet.

Denn das Rennpferd – unschlagbar auf dem glatten Turf der Rennbahn, gepampert und gepäppelt nach allen Regeln der Kunst – stößt schnell an seine Grenzen, wenn die Bedingungen widrig werden. Matsch und schweres Geläuf steckt es vielleicht noch weg, aber Kälte und Schnee, rauen Wind und klammes Futter, Konkurrenz in der Herde und lange, lange Trecks über die Steppe? In so einer Welt – „im richtigen Leben“ könnte man auch sagen – sind ihnen ihre stämmigen und struppigen wilden Verwandten weit überlegen.

Doch die letzten Wildpferde, die Tarpane, sind im 19. Jahrhundert ausgestorben, gejagt für ihr Fleisch und wohl auch, weil sie den Hauspferden Konkurrenz ums Futter machten. Es gab verschiedene Versuche, sie durch Zucht zurückzuholen, doch diese scheiterten. Die heutigen Przewalski-Pferde und auch Koniks und andere Rassen, die heute als „Wildpferde“ gelten, sind sorgsam gehütete ursprüngliche Formen. Sie alle gehen jedoch auf domestizierte Vorfahren zurück. Die echten Wildpferde – sie sind für immer verloren.

Schwarzweißfoto von einem kleinen, dunklen, stämmigen Pferd, das von einem bärtigen Mann in Uniform am Halfter gehalten wird.
Der Cherson-Tarpan, das einzige bekannte fotografisch festgehaltene Individuum des Tarpans. Das Foto wurde im Moskauer Zoo aufgenommen und 1844 veröffentlicht. Das Pferd, ein Wallach, war zum Zeitpunkt der Aufnahme 18 Jahre alt und möglicherweise kein reinerbiges Exemplar der Wildpferdeart.

Die wilden Verwandten des Weizens leben noch, die meisten zumindest. Zu den wichtigsten gehört Aegilops tauschii, ein schmales Süßgras mit tonnenförmigen Ährchen und einem Verbreitungsgebiet von Griechenland bis Zentralchina. Aegilops tauschii ist ein zäher Hund unter den Gräsern. Es wächst auf Brachland und Steppen, an Straßenbanketten, an Feldrainen und in Äckern zwischen dem Getreide, in kargen Kiefernwäldern und an steinigen Hängen. Es verträgt Dürre, gedeiht aber auch im bewässerten Feld. Sein Bestand ist nicht gefährdet. Doch um andere Weizenverwandte und viele wilde Cousins von anderen Nutzpflanzen steht es schlechter.

Viele wilde Verwandte unserer heutigen Nutzpflanzen sind bedroht

Wissenschaftlerïnnen kamen in mehreren neuen Studien zu dem Ergebnis, dass viele wilde Verwandte unserer Nutzpflanzen – die „crop wild relatives“ (CWR) oder auf Deutsch „Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft“ (WEL) – bisher stark vernachlässigt wurden und vielfach auch bedroht sind: In Europa ist von knapp 600 CWR-Arten, die auf der Roten Liste erfasst sind, etwa ein Zehntel als gefährdet eingestuft, in den USA ist es von ebenfalls etwa 600 erfassten Arten gut die Hälfte. Weltweit muss man davon ausgehen, dass etwa 70 Prozent aller CWR-Arten nicht ausreichend in Genbanken gesichert sind.

Die Liste der Bedrohungen ist lang und hässlich: Klimawandel und Flächenversiegelung, veränderte Anbaumethoden, Überweidung, Überdüngung, Verdrängung durch eingeschleppte Arten, Monokulturen zur Gewinnung von „Bioethanol“ sind nur einige der Faktoren.

Was soll’s, könnte man sagen. Klar, es ist schade um jede Art, die verschwindet. Aber die meisten dieser wilden Verwandten sind doch eh zu nichts nütze, manche wuchern wie Unkraut, die können sich mal schön vom Acker machen. Könnte man sagen. Und hat man auch lange gesagt. Doch das beginnt sich gerade zu ändern. Denn die wilden Verwandten haben etwas, was wir dringend brauchen: Frische Gene.

In zwei offenen Weckgläsern stecken Bündel von getrockneten Grashalmen mit tonnenförmigen Ähren und langen Grannen.
Verschiedene Arten der Gattung Aegilops, wilde Verwandte des Weizens, in der Lehrsammlung einer Genbank

Unsere heutigen Nutzpflanzen gehen auf eine vergleichsweise kleine Auswahl an Wildpflanzen zurück, nämlich die Pflanzen, deren Anbau den ersten Menschen, die sie kultiviert haben, am leichtesten fiel, und die am schnellsten Ertrag abwarfen. Diese Pflanzen sind allerdings nur ein Ausschnitt aus dem breiten genetischen Spektrum, das jede Art abdecken kann, je nachdem, wo sie wächst und was um sie herum passiert.

Über die Zeit haben wir Menschen aus dieser Stichprobe immer weiter ausgelesen. Die besten Varianten haben wir in alle Welt verteilt und aus diesen Varianten wiederum neue, noch besser an unsere Zwecke angepasste Formen gezüchtet. Nach und nach haben wir so aus mageren, oft bitteren und manchmal giftigen Wildpflanzen pralle, wohlschmeckende und nährstoffreiche Nahrungsquellen gemacht, die sich gut anbauen, lagern und verarbeiten lassen.

Die wilden Verwandten, das sind die Anderen. Die, deren Vorfahren damals nicht von den ersten Bauern ausgewählt wurden. Weil sie sie übersehen haben, weil sie sich nicht so leicht an menschliche Bedürfnisse anpassen ließen oder weil sie einfach in einer anderen Gegend wuchsen. Diese Anderen mussten sich weiter in der Wildnis behaupten. Sie unterlagen einem ganz anderen Selektionsdruck – nicht der Auswahl durch die Bauern, sondern der Anpassung an ihre natürliche Umwelt. Kein Mensch hat sie bewässert, gedüngt oder vor Schädlingen geschützt. Die wilden Verwandten haben daher auf ihrem Weg durch die Evolution ihre eigenen genetischen Lösungen gefunden, um mit widrigem Klima oder schädlichen Pilzen, Bakterien und Viren umzugehen.

Diese Lösungen, diese 'anderen’ genetischen Varianten, sind der Grund, warum die wilden Verwandten seit einigen Jahren zunehmend Aufmerksamkeit gewinnen.

Ein Bauer in Äthiopien bindet eine Garbe Weizen.
Äthiopien ist eines der ältesten Anbaugebiete für Weizen. Auch hier sind die Ernten durch Ug99 bedroht.

Durch den Klimawandel gerät die Landwirtschaft und damit unsere gesamte Lebensmittelversorgung immer stärker unter Druck. Die Wetterverhältnisse in vielen Regionen der Welt werden extremer und variabler. Weite Landstriche werden trockener und wärmer werden, für viele Krankheitserreger und Schädlinge eröffnen sich neue Lebensräume voller Pflanzen, die ihnen nichts entgegenzusetzen haben.

Wenn wir unter diesen Bedingungen weiter Landwirtschaft betreiben wollen, dann müssen wir unsere Nutzpflanzen an die neuen Verhältnisse anpassen. Aber bei vielen fehlt es dazu inzwischen an den notwendigen genetischen Reserven. Apfel und Banane, Soja und Linse, Gerste und Weizen – bei all diesen wichtigen Pflanzen stoßen Züchter mit dem vorhandenen Material immer häufiger an Grenzen. In der Praxis heißt das: Die Pflanzen, die eigentlich Menschen ernähren sollen, verkümmern statt zu wachsen, fallen bei Dürren oder Überschwemmungen um oder produzieren weniger Samen oder Früchte als nötig wäre.

Die gezielte Auslese über die Jahrtausende hatte einen hohen Preis

Was nicht gewünscht war, wurde nicht mehr angebaut. Was nicht angebaut wird, gibt seine Gene nicht weiter. Und dann sind sie weg. Wissenschaftlerïnnen sprechen von einer langsamen Erosion der genetischen Basis unserer Nutzpflanzen.

Imke Thormann ist Referentin für pflanzengenetische Ressourcen in der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). In einem Übersichtsartikel, der vor kurzem erschienen ist, machen sie und ein Kollege klar: „Damit unsere Nutzpflanzen mit zunehmend extremen Witterungsverhältnissen wie Hitze, Dürre, Hochwasser und steigendem Salzgehalt klarkommen und sich anpassen können, brauchen wir dringend eine größere genetische Vielfalt als wir im Moment zur Verfügung haben, aus der Züchter die entsprechenden Eigenschaften und Resistenzgene auswählen und die Nutzpflanzen entsprechend damit “ausstatten„ können, so dass sie unter den sich verändernden Anforderungen der Umwelt weiter gedeihen.“

Darum ist die ungezähmte Vielfalt der wilden Cousins und Cousinen so kostbar. Sie haben sich im Laufe ihrer Evolution an viele verschiedene Standorte angepasst, nicht nur an einen freundlichen Acker. Einige können Schädlinge abwehren, andere gedeihen auch auf versalzenen Böden, wieder andere vertragen lange Trockenheit oder kommen mit weniger Nährstoffen aus. Sie haben eigene Strategien entwickelt und sind gleichzeitig noch nah genug mit unseren Kulturpflanzen verwandt, um ihre Gene an diese weitergeben zu können.

Zuckerrüben liegen auf einem Haufen am Feldrand.
Die Vorfahren der Zuckerrüben wurden im 18. Jahrhundert in Schlesien aus Runkelrüben gezüchtet. Später lieferte eine entfernte Verwandte der Zuckerrübe Resistenz gegen Rübenzystennematoden, die heute Rübensorten weltweit vor dem schädlichen Fadenwurm schützt.

Dieses wildwachsende genetische Reservoir hat sich in der Geschichte schon mehr als einmal bewährt. Ein Gen der wilden Kartoffel Solanum demissum zum Beispiel brachte den Kulturkartoffeln Resistenz gegen die Kraut- und Knollenfäule, einst Ursache für große Hungersnöte. Eine entfernte Verwandte der Zuckerrübe lieferte Resistenz gegen Rübenzystennematoden, die heute Rübensorten weltweit vor den schädlichen Fadenwürmern schützt. Und das Wildgras Aegilops tauschii lieferte eines der ersten Resistenzgene gegen den Schwarzrost, eine gefährliche Weizenkrankheit, die immer wieder ganze Ernten vernichtet. (In unserer Miniserie „Erntetod“ haben wir ausführlich über den Kampf gegen die Krankheit berichtet.)

Eine Studie der FAO, der Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen, aus dem Jahr 2009 machte 183 Wildpflanzengruppen aus, die bereits Gene an 29 unserer Nutzpflanzenarten geliefert haben, meist Resistenzen gegen Krankheiten und Schädlinge, aber auch Toleranzen gegenüber widrigen Umweltbedingungen wie Trockenheit und Hitze.

Die Wissenschaft ist sich einig: In den wilden Verwandten schlummert noch viel mehr

Doch die Arbeit mit den Wildpflanzen ist schwierig. Auch wenn sie nah mit den Nutzpflanzen verwandt sind, geht die Zucht über die Artgrenzen hinweg häufig schief. Die Nachkommen sind steril oder es kommt neben der einen erwünschten Eigenschaft ein ganzes Paket unerwünschter Eigenschaften mit, oft genau die, die man über die Jahrtausende hinweg mühsam weggezüchtet hatte.

Die meisten kommerziellen Züchter können sich den zusätzlichen Aufwand, den das bedeutet, nicht leisten. Ihr Geschäftsmodell beruht darauf, dass jede neue Sorte ertragreicher ist als die vorhergehenden. Das Risiko, dass die mitgebrachten Gene aus der Wildpflanze das feine genetische Zusammenspiel ihrer Hochleistungssorten durcheinanderbringen, ist vielen Züchtern zu groß.

Um die genetische Vielfalt derwilden Verwandtendennoch für die Züchter und vor allem für die Bäuerinnen und Bauern nutzbar zu machen, wurden daher in den letzten Jahren mehrere internationale Projekte initiiert, die sich speziell mit dem „Pre-breeding“, den vorbereitenden Zuchtschritten, befassen. Sie sollen das genetische Fundament für die Zucht verbreitern und gleichzeitig das wirtschaftliche Risiko für die Unternehmen minimieren.

Eines der umfassendsten Projekte ist das des Global Crop Diversity Trust, dem Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt, der auch den Global Seed Vault in Svalbard betreibt. Finanziert durch die norwegische Regierung erfassen in diesem Projekt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der ganzen Welt über zehn Jahre hinweg für neunzehn ausgewählte Nutzpflanzen, welches ihre wichtigsten wilden Verwandten sind und wie ihr Status ist, sowohl in der Natur, als auch in den Genbanken. Wo sie Lücken in den Genbank-Beständen fanden, haben sie Sammlungs-Expeditionen veranlasst, immer in Kooperation mit Partnern vor Ort. Über 4500 Exemplare von wilden Verwandten wurden so neu gesichert. In verschiedenen Forschungspartnerschaften arbeiten sie nun daran, nützliche Genvarianten wie zum Beispiel Resistenzen gegen bestimmte Krankheiten zu identifizieren und für die Landwirtschaft nutzbar zu machen.

Neue Methoden

„Bis in die achtziger Jahre hat man relativ viel mit den wilden Verwandten gezüchtet“, sagt Benjamin Kilian, der Leiter des CWR-Projekts beim Crop Trust. „Aber dann gab es eine lange Förderlücke von fast zwanzig Jahren, in denen in diesem Feld kaum etwas passiert ist.“ Der Fokus verschob sich auf die neuen molekulargenetischen Methoden, die klassische Pflanzenzucht schien damals überholt. Doch seit rund zwanzig Jahren finden die Wildarten neue Aufmerksamkeit, nicht nur aufgrund des steigenden Drucks durch den Klimawandel, sondern auch weil die neuen Techniken inzwischen neue Möglichkeiten bieten, die Arbeit mit den aus züchterischer Sicht widerspenstigen Verwandten zu erleichtern.

Dazu gehören etwa genetische Marker, mit denen man bestimmte Genomabschnitte kennzeichnen kann, oder auch neue Technologien, um ganze Genome relativ schnell und preisgünstig zu sequenzieren, so dass man dann beispielsweise verschiedene Exemplare einer Art in einer Genbank-Sammlung vergleichen und so Rückschlüsse auf den genetischen „Bauplan“ für bestimmte Merkmale der Pflanzen ziehen kann. (Transgene Verfahren spielen in der Arbeit mit den Wildpflanzen bisher kaum eine Rolle. Neben regulatorischen Beschränkungen hat das auch biologische Gründe. Viele der gewünschten Merkmale sind nicht durch ein einzelnes, sondern durch mehrere Gene geregelt, oft in einem komplizierten Zusammenspiel. Diese Ensembles lassen sich bisher in transgenen Verfahren nicht oder nur sehr schwer übertragen. Der große Vorteil der crop wild relatives ist, dass durch ihre nahe Verwandtschaft mit den Nutzpflanzen viele Eigenschaften durch „normale“ Zucht übertragen werden können.)

Samen liegen auf einem Papierfließ im Labor. Einige haben bereits zarte grüne Keimlinge entwickelt, andere liegen noch ungekeimt herum.
Jede Generation muss vom Samenkorn bis zur reifen Pflanze aufgezogen werden, um die "gewünschten" Nachkommen auslesen zu können. Nur mit diesen wird dann weiter gezüchtet.

Durch diese technischen Entwicklungen wird die genetische Vielfalt der Wildpflanzen nun für die Zucht leichter verfügbar. Damit gewinnt auch der Schutz dieser Pflanzen wieder stärker an Aufmerksamkeit, schreibt Thormann: „Der wahrscheinlich stärkste Treiber für den Schutz und Erhalt der wilden Verwandten war der Aufstieg der Molekulargenetik und genetischer Werkzeuge und Techniken, die das Übertragen von Merkmalen, Genen und Allelen von einer Art auf die andere maßgeblich erleichtern, beinahe unabhängig davon, wie nah die Arten verwandt sind.“

Doch wie kann die natürliche Vielfalt der wilden Verwandten erhalten werden? Wie offenbar alles bei diesen Pflanzen bringt auch ihr Schutz besondere Herausforderungen mit sich

„Über viele der crop wild relatives weiß man einfach sehr wenig“, sagt Imke Thormann. Darum ist die Erhaltung in Genbanken, wo man Saatgut einlagert und alle paar Jahre auspflanzt, um neues Saatgut zu ernten, schwierig. Weil diese Pflanzen nie domestiziert wurden, haben sie viele der Eigenschaften behalten, die ihren Anbau schwierig machen. Diese Pflanzen in Kultur zu vermehren erfordert viel Erfahrung. Man muss herausfinden, wie ihre idealen Wachstumsbedingungen sind, welches der richtige Reifezeitpunkt ist, wie lange die Samen keimfähig sind und vieles mehr, um die Art langfristig in gutem Zustand erhalten zu können. Für Nutzpflanzen hat man hierfür längst gute Verfahren etabliert. Bei den wilden Verwandten dagegen steht man noch ganz am Anfang.

Oft fehlt es für diese Arbeit an qualifizierten Spezialisten.

„Die Bandbreite der Fähigkeiten, die ein Genbankmanager haben muss, ist enorm“, sagt Hannes Dempewolf vom Crop Trust. „Taxonomie, Agronomie, Physiologie, Zytogenetik, Genomsequenzierung und andere neue Techniken, dann auch noch die rechtliche Seite, die Politikberatung, das Fundraising – eigentlich ist das ein unmöglicher Job!“ Viele der erfahrenen Kräfte seien inzwischen im Ruhestand oder kurz davor, sagt er. Der Nachwuchs bleibe aus. Nicht, weil es keine fähigen jungen Wissenschaftlerïnnen gebe, sondern weil viele dieser „klassischen“ Fächer in den Curricula an den Hochschulen immer weiter zurückgefahren werden.

Ein fensterloser Raum steht voller Regale, die vom Boden bis zur Decke  mit verschlossenen Weckgläsern gefüllt sind. Die Gläser enthalten verschiedene Samen. Alle Gläser sind etikettiert und tragen eine zehnstellige Kennnummer.
Ein Lagerraum für Saatgut in der Genbank des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben

Doch selbst unter besten Voraussetzungen reicht eine Erhaltung ex-situ in Genbanken und botanischen Gärten alleine nicht aus. Denn jedes Exemplar einer Wildpflanze in einer Genbank ist nur eine genetische Momentaufnahme. Sobald ein Samenkorn im Regal liegt, ist es zwar für den Moment gesichert, doch ohne den ständigen Druck im Feld kann sich sein Genom nicht weiter an Umweltveränderungen anpassen. Es liegt also nicht nur physisch auf Eis, es ist auch evolutionär „eingefroren“. Und damit geht ein ganz wesentlicher Vorzug der wilden Arten verloren. Darum ist auch der Erhalt in-situ, also im Gelände unter natürlichen Bedingungen, notwendig.

Europaweit sollen ausgewählte crop wild relatives künftigin einem Netzwerk genetischer Erhaltungsgebiete gezielt geschützt werden

Das erste dieser Netzwerke wurde 2019 in Deutschland für den Wildsellerie eingerichtet. „Die wilden Verwandten unserer Nutzpflanzen kommen oft sehr unscheinbar daher“, sagt Imke Thormann, die die genetischen Erhaltungsgebiete beim BLE koordiniert. „Auch die Wildselleriearten, um die es in diesem Projekt geht, sind nur kleine krautige Pflanzen. Das macht es manchmal etwas schwierig, den Leuten ihre Bedeutung zu vermitteln. Aber Sellerie spielt für unsere Lebensmittelversorgung durchaus eine Rolle, darum ist es wichtig, seine Vielfalt zu erhalten.“

In Deutschland kommen vier Wildselleriearten vor und alle sind als gefährdet eingestuft. Darum wurden sie für dieses erste Netzwerk ausgesucht. Schutzprogramme für wilden Wein und für historisch alte Grünlandgemeinschaften in Süddeutschland sollen folgen.

An sich ist bei der in-situ-Erhaltung gar nicht so viel zu machen, es geht ja gerade darum, die Pflanzen „einfach wachsen zu lassen“. Doch in der Praxis ist genau das oft überhaupt nicht einfach. „Erstmal müssen Sie die Pflanzen finden“, sagt Thormann. „Die sind ja gar nicht immer erfasst. Da müssen Sie Leute haben, die sich auskennen, und andere entsprechend schulen. Dann stehen die Wildarten nicht unbedingt in Naturschutzgebieten oder auf öffentlichem Land, sondern oft auf Privatgrundstücken, dann müssen Sie Vereinbarungen mit den Eigentümern treffen. Oder sie wachsen an Stellen, die schwer zu schützen sind, an Wegrändern zum Beispiel oder auf irgendwelchen Brachen. Da sind wir sehr auf Kooperation angewiesen.“ Manchmal fielen die wilden Verwandten auch einfach „durchs Raster“ der Verwaltungen, so Thormann, dann seien weder die landwirtschaftlichen, noch die Umweltressorts zuständig. Vor Ort werden die Pflanzen im Netzwerk meist von Freiwilligen betreut, von Anwohnerïnnen oder den Mitgliedern von Naturschutzvereinen.

Und natürlich halten sich die Pflanzen nicht an Landesgrenzen. Die Idee der genetischen Erhaltungsgebiete ist es aber, möglichst die ganze genetische Bandbreite der Wildpflanzen zu bewahren, das heißt auch ihre Anpassungen über ihr ganzes geographisches Verbreitungsgebiet hinweg. Darum ist es wichtig, dass diese Projekte international angelegt sind und die Länder eng miteinander kooperieren.

Eine niedrige, stachelige strauchige Pflanze wächst im Schotter am Straßenrand in einer trockenen, gebirgigen Landschaft. Sie trägt gelbe Früchte, die an Tomaten erinnern.
Eine wilde Solanum-Art aus der Familie der Nachtschattengewächse, zu der auch Kartoffeln und Tomaten gehören, an einem Straßenrand in der Tigray-Region in Äthiopien

Wirksamer Schutz durch internationale Zusammenarbeit

Weltweit nutzen alle Länder Kulturpflanzen, deren wilde Verwandte in anderen Ländern heimisch sind. Kartoffeln aus Südamerika, Gerste aus dem Nahen Osten und dem Balkan, Bananen aus Südostasien. „Alle Länder sind auf den Austausch von genetischem Pflanzenmaterial angewiesen, um die genetische Vielfalt ihrer Nutzpflanzen zu bewahren. Kein Land ist darin autonom“, sagt Thormann. Dennoch ist die internationale Zusammenarbeit oft schwierig.

Viele der Ursprungsregionen der heutigen Kulturpflanzen liegen in den Ländern des globalen Südens und entsprechend kommen auch die crop wild relatives in diesen Ländern besonders häufig vor. Die größten Nutzer des genetischen Materials sitzen jedoch meist in Ländern des globalen Nordens und die Interessen gehen häufig auseinander. Internationale Abkommen wie der Plant Treaty der Vereinten Nationen sollen den Austausch ermöglichen und auch die Vergütung regeln.

Doch viele Länder und lokale Gemeinschaften seien zögerlich, genetisches Material aufwändig zu schützen oder ins Ausland abzugeben, weil sie für sich keinen unmittelbaren Nutzen sähen, so Thormann. Das gilt für die wilden Verwandten noch stärker als für anderes Pflanzenmaterial, denn der Beitrag der Wildpflanzen zu einer „gebrauchsfertigen“ Kulturpflanze ist oft nur indirekt und auf jeden Fall sehr langwierig. Ihr Erhalt ist daher umso mehr auf guten Willen, Weitsicht und faires Verhalten der Staaten untereinander angewiesen. Diese Zusammenarbeit ist auch Thema beim UN-Weltnaturschutzgipfel, der Ende 2021 stattfinden und neue, gemeinsame Ziele der Staaten bis zum Jahr 2030 festlegen soll.

Wissenschaftlerïnnen schätzen, dass es weltweit etwa 50.000 bis 60.000 Arten an wilden Verwandten und wilden Nahrungspflanzen gibt. Von diesen sind etwa 700 Arten so nah mit Nutzpflanzen verwandt, dass sie großes Potenzial haben, in künftigen Zuchtprogrammen Verwendung zu finden.

Wenn es nicht gelingt, diese wilden Arten zu erhalten, geht ihre genetische Vielfalt für immer verloren. Um unsere Ernährungsgrundlage trotz härterer Klimabedingungen zu sichern, sind wir jedoch auf diese Wildpflanzen angewiesen. Landwirtschaft und Wildnis hängen also viel enger zusammen, als wir uns das normalerweise klarmachen.

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Die Recherche für dieses Projekt wurde unterstützt durch den Peter Hans Hofschneider Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus.

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