Fabelwesen in einem Eimer Nordseewasser
Der preisgekrönte Tiefseefotograf Solvin Zankl entdeckt die Schönheit winziger Meeresgeschöpfe und macht sie für alle Augen sichtbar. Ein Gespräch über das schillernde Leben in Nord- und Ostsee, über Mücken, die vom Mond gesteuert werden, und Begegnungen am Meeresgrund. Plus Tipps zum Nachmachen.
Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“.
Solvin, vor unserer Haustür liegen zwei völlig verschiedene Meeresbiotope: Die Ostsee ist das größte Brackwassermeer der Erde und teilweise kaum salzig. Die Nordsee hingegen hat starke Gezeiten, einen hohen Salzgehalt und geht in den Atlantik über. Wie unterschiedlich ist das Leben in unseren Hausmeeren?
Fangen wir mit der Nordsee an: Schon allein im Watt gibt es eine ungeheure Anzahl an Lebewesen. Vor einigen Wochen war ich in Sankt Peter-Ording und habe einen Eimer Wasser geschöpft, direkt am Strand. Was sich da drin tummelt, wenn man es unterm Mikroskop betrachtet, ist wirklich kaum zu fassen. Da ist so viel los in einem einzigen Eimer! Wenn du in der Nordsee schwimmst, bist du umgeben von Millionen Lebewesen: Krebslarven, Wurmlarven, Schneckenlarven, aber auch Geißeltierchen wie Noctiluca. Die sind nur einen halben Millimeter groß, aber sie erzeugen das Meeresleuchten an der Wasseroberfläche.
Wie machst du diese winzigen Geschöpfe in deinen Fotos sichtbar? Hast du zu Hause ein Labor mit Mikroskopen?
Genau. Ich habe ein Binokular, ein Mikroskop und ein Makroskop, auf dem im Moment die Kamera montiert ist. Damit kann ich alles fotografieren, was kleiner ist als zwei Zentimeter, bis zu einem Maß von etwa 50 Mikrometer. Das ist ein Zwanzigstel von einem Millimeter und das Kleinste, was ich mit meiner Ausrüstung noch ablichten kann.
Für das Meeresleuchten zuständig: Noctiluca
Medusen, aus der Nordsee gefischt
Will mal ein Seestern werden: die Stachelhäuterlarve Brachiolaria larva
An der Meeresoberfläche gibt es einen Biofilm, der voller Miniaturwesen steckt: das noch weithin unbekannte Neuston. Kannst du das mit deiner Ausrüstung auch sichtbar machen?
Ja, diese Neuston-Tierchen kann ich damit sehr gut fotografieren. Ich arbeite mit unterschiedlichen Petrischalen, um die Tiere getrennt zu halten. Wurmlarven und Quallen sollten nicht zusammenkommen, sonst fressen sie sich gegenseitig auf. Neulich habe ich die Ein-Stunden-Mücke fotografiert, die im Neuston der Nord- und Ostsee vorkommt. Sie wird so genannt, weil Männchen und Weibchen nur ein, zwei Stunden Zeit haben, sich zu paaren. Eigentlich leben die Tiere im Sandboden, doch wenn gewissermaßen ihre Hochzeitsstunde schlägt, kommen sie nach oben. Das Weibchen heftet sich dann von unten an die Wasseroberfläche und wird dort vom Männchen entdeckt. Da sie aber noch in einer Puppe steckt, muss das Männchen diese Hülle erst aufschneiden, damit das Weibchen schlüpfen und sich mit ihm paaren kann.
Das ist ja eine richtige Dornröschen-Geschichte.
Hinzu kommt, dass die Paarung durch den Mond gesteuert wird. Nur bei Voll- und bei Neumond schlüpfen die ausgewachsenen Mücken aus den Puppen, und auch nur bei Niedrigwasser im Sommer. Dafür sorgt ihre innere Uhr. Aber das Ganze ist hochkompliziert. Denn in manchen Regionen, etwa in Nordnorwegen, ist es im Sommer auch nachts so hell, dass der Taktgeber Mond für die Mücken nicht mehr funktioniert. Dort haben die Populationen den Mondrhythmus aufgegeben, vermutlich orientieren sie sich an Temperaturschwankungen. Das Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön forscht gerade dazu.
Was findest du noch in der Ostsee, was es anderswo nicht gibt?
Im Brackwasser ist die Artenvielfalt geringer als in anderen Meeresregionen, weil nur Spezialisten sich an diese besonderen Lebensbedingungen anpassen können. Doch das sorgt manchmal für überraschende Begegnungen. Ich erinnere mich, dass ich in der Kieler Förde schnorcheln war. Plötzlich tauchte ein großer Schwarm Flussbarsche direkt vor mir auf. Das ist ein Süßwasserfisch. Aber in der Kieler Förde schwankt der Salzgehalt sehr stark und mit dem Brackwasser kommt er offenbar gut klar, und zwar nicht als einzelnes Tier, sondern gleich in ganzen Schwärmen.
Was mich auch immer wieder aufs Neue fasziniert, ist das Seegras in der Ostsee. Wenn ich dort hinabtauche, setze ich mich ganz ruhig auf den Sandboden, schaue in die Halme und warte ab, was passiert. Da bleibe ich dann auch schon mal eine Stunde sitzen. Manchmal schwimmt eine bunte Ostseegarnele auf mich zu und setzt sich auf meine Hand. Sie tastet meine Finger ab, guckt, ob sie dort was zu fressen findet, und verschwindet wieder.
Hängt das, was du dort vorfindest, auch von den Jahreszeiten ab?
Das ist genau wie an Land: Zu jeder Jahreszeit gibt es etwas Besonders zu entdecken. Im Winter ist das Wasser besonders klar, und die Braunalgen starten ihre Wachstumsphase. Im Frühling kommen die Heringe zur Paarung, und das Plankton beginnt ebenfalls, sich zu vermehren. Im Sommer ist alles toll bewachsen, und im Herbst sind meist noch viele Quallen und Rippenquallen unterwegs, die bei Nachttauchgängen magisch leuchten.
Was hat dich vor rund 35 Jahren dazu gebracht, Unterwasserfotograf zu werden?
Das Leben unter Wasser hat mich schon immer fasziniert. Ich wollte es fotografieren und anderen Menschen zeigen. Das ist meine Motivation. Ich bekomme oft so glänzende Augen, wenn ich irgendetwas im Meer entdecke. Und dann denke ich, das müssen doch alle sehen! Oft sind das Lebewesen, die ich auf den ersten Blick gar nicht erkenne. Etwa eine Seenadel, die plötzlich durchs Bild schwimmt, wenn ich lange vor den Seegraswiesen sitze. Sie ist die ganze Zeit schon da gewesen, aber ich habe sie nicht bemerkt. Manche Tiere kommen auch erst hervor, wenn ich eine Stunde oder länger unter Wasser bin und an einem Ort ausharre. In solchen Momenten öffnet sich das Meer und zeigt mir, was sich gerade noch vor meinen Augen versteckt hat. Ich will die Geschichten dieser Tiere erzählen, die auf unserem Planeten zu finden sind. Das ist es, was mir an meinem Beruf so gefällt.
Deine Arbeit hat dich buchstäblich zum Augenzeugen des Klimawandels gemacht. Welche Veränderungen in Nord- und Ostsee sind dir im Lauf dieser mehr als drei Jahrzehnte aufgefallen?
Aufgrund der Erwärmung sind immer mehr Meeräschen oder sogar Sardellen und Sardinen in Ost- und Nordsee zu finden – wohingegen die hiesigen Arten unter den Veränderungen in ihrem Lebensraum leiden. Aber auch andere menschliche Einflüsse verändern unsere Meere: Der Schiffsverkehr schleust viele fremde Arten ein, die im Ballastwasser mitfahren oder am Rumpf anhaften und so in Nord- und Ostsee vordringen. Die Rippenqualle, auch Meerwalnuss genannt, ist so zu uns gekommen, oder – zwei klassische Beispiele – die Wollhandkrabbe oder die Japanische Auster. Auch die Offshore-Windräder bringen eine ganz neue Artenvielfalt mit sich, weil sich an den Betonpfeilern so viel Leben ansiedelt. Taschenkrebse und Makroalgen scheinen davon zu profitieren.
Du hast in der Nordsee Korallen fotografiert, die aussehen, als stammten sie aus der Karibik. Was sind das für vermeintlich tropische Arten, die bei uns leben?
Wenn du die Aufnahmen aus dem Austernriff meinst: Das sind keine Korallen, sondern Seenelken und Anemonen, die auf den Muschelschalen sitzen. Der Jungfisch mit dem verrückten Muster ist ein Scheibenbauch und sieht in seinem Jugendstadium fast schon aus wie aus einer anderen Welt. Diese Tiere besiedeln die Miesmuschel- und Austernbänke in der Nordsee. Dass das Bild an die Tropen erinnert, liegt an einem Trick: Man muss im Kleinen schauen. Wir haben hier keine riesigen Riffe, die sich Hunderte Meter lang durchs Meer ziehen. Bei uns ist alles viel kleiner.
Lebensraum für Furchenkrebs und Scheibenbauch: die Austern- und Miesmuschelbänke der Nordsee
Sieht aus wie eine Koralle, ist aber ein Moostierchen, eine Bryozoa
Wie fotografierst du denn dann?
Man muss nah heranschwimmen. Auch weil in Ostsee und Nordsee meist nur in unmittelbarer Nähe das Wasser so klar ist, wie man es zum Fotografieren braucht. Einen Fisch in drei Metern Entfernung abzulichten, funktioniert da nicht. Mit einem Abstand von zehn oder zwanzig Zentimetern klappt es.
Und wie kommst du so nah heran, ohne dass der Fisch flüchtet?
Am einfachsten ist es, die Fische zu fotografieren, die auf ihre Tarnung vertrauen. Eine Scholle zum Beispiel flüchtet nicht. Ihr kann ich mich bis auf wenige Zentimeter nähern. Sandgrundeln begleiten Taucher sogar, um aus dem Sand aufgewirbelte Würmer zu erbeuten.
Wie sieht dein Arbeitstag aus, wenn du nicht auf dem Meeresboden sitzt, sondern auf einem Forschungsschiff?
Ich bekomme einen Laborbereich zugeteilt, und wenn ich Glück habe, ist das der Kühlraum. Ich möchte immer im Kühlraum sitzen, weil viele Tiefsee-Organismen, die die Forschenden für weitere Untersuchungen mit ihren Netzen an Bord holen, in vier Grad kaltem Wasser leben. Und da ich sie lebend fotografieren will, brauchen sie bei mir eine ähnliche Wassertemperatur. Es ist immer eine Überraschung und sehr spannend zu erleben, welche Tiere gefangen werden. Viele dieser Geschöpfe haben noch nicht mal Augen. Da weißt du anfangs nicht, wo oben und unten ist. Ich versuche dann, den Charakter dieses Tieres zu finden, seine Eigenschaften, ob es zum Beispiel bestimmte Antennen hat, die es im Wasser schweben lassen.
Welches Tier hat dich denn zuletzt begeistert?
Spontan fällt mir dieser Wurm ein, den ich vor Island fotografiert habe. Der sah aus wie Fuchur, dieser Drache aus „Die unendliche Geschichte“. Er hatte schwarze Augen und eine unglaublich schöne Pastellfarbe, dazu Stacheln auf dem Rücken und Schuppenplatten, die sich beim Vorwärtsschlängeln gegeneinander verschoben haben. Das ist doch verrückt! Warum hat dieser Wurm so ein fantastisches Aussehen? Niemand wird ihn je zu Gesicht bekommen, wenn ich ihn nicht fotografiere. Solche Entdeckungen finde ich immer wieder faszinierend.
Was für ein Equipment benutzt du, wenn du selbst tauchst?
Meine Ausrüstung und etwas Tauchblei bringen es zusammen auf 25 Kilo Extragewicht. Das Blei macht es möglich, dass ich im Wasser schweben kann. Die Kamera steckt in einem Unterwassergehäuse, das nicht nur wasserdicht ist, sondern auch dem Druck standhält. Hinzu kommen das Objektiv und drei Blitzlichter, mit denen ich unter Wasser die Farben zeigen kann, die es dort gibt. An Land bin ich mit dieser Ausrüstung und der Sauerstoffflasche sehr schwerfällig. Da komme ich mir immer vor wie eine Meeresschildkröte, die Mühe hat, ins Wasser zu gelangen.
Hast du Tipps für Hobbyfotografinnen und -fotografen, wenn sie jetzt ins Watt oder ins Wasser rausgehen wollen?
Benutzt ein Makroobjektiv. Das ist recht preisgünstig, und man kann damit schon vieles entdecken. Ich würde auch immer sagen, nehmt ein Blitzlicht mit, die Farben unter Wasser gehen sehr schnell verloren. Aber setzt das Licht nur so ein, dass es möglichst sanft ist. Das Foto soll später so aussehen, als hätte man keinen Blitz benutzt. Wenn ihr tiefer eintauchen wollt: An Land könnt ihr Dinge in hundert Meter Entfernung fotografieren. Das geht unter Wasser nicht, weil das Wasser die Farben rausfiltert. Das heißt, die Magie liegt in der Weitwinkelfotografie, man musst vieles sehr weitwinklig aufnehmen. In Wahrheit schwimmen die Tiere zehn Zentimeter vor dem Objektiv, aber auf dem Foto sieht es so aus, als seien sie weit weg. Diesen Kompromiss mit der Technik muss man eingehen, um unter Wasser die aussagekräftigsten Bilder zu bekommen. Die hohe Schule ist also die Weitwinkelfotografie.
Nutzt du manchmal auch ein künstliches Versteck, um dich Tieren unter Wasser zu nähern?
Nein, das mache ich nur an Land. Tiere unter Wasser zeigen kaum Fluchtverhalten – wenn sie nicht ohnehin festsitzend leben. Und zudem ist meine Zeit unter Wasser ohnehin begrenzt.
Hast du von diesem Pilotversuch vor den niederländischen Inseln Texel und Vlieland gehört? Im vergangenen Jahr haben Forschende dort die Kronen von Birnbäumen versenkt, um künstliche Riffe zu schaffen. Mittlerweile soll die Artenvielfalt dort stark zugenommen haben. Was hältst du von solchen Maßnahmen?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Totholz im Meer kann der Start von etwas Neuem sein. In der Tiefsee freuen sich viele Organismen über Totholz. Aber ich denke, dass auch ein Sandboden eine eigene Artenvielfalt hat, die durch menschliche Eingriffe verändert wird. Wer weiß, was vorher an dieser Stelle gewesen ist? Verdrängt dann ein neues Ökosystem das alte? Anders wäre das bei einer Sandvorspülung, die ein Ökosystem oft komplett zerstört: Da kann man mit solchen Maßnahmen der Natur wieder einen Vorschub geben.
Es heißt ja, man schützt nur das, was man kennt. Aber wir wissen inzwischen so viel über das Leben in Nord- und Ostsee, und dennoch ist dieser Lebensraum bedroht wie nie. Hilft dieses Wissen denn gar nicht?
Unser Hauptproblem ist die Distanz zur Natur. Es gibt keine wirkliche Nähe mehr zu dem Leben da draußen. Das bringt eine gewisse Gleichgültigkeit mit sich, die sich in unserem Handeln ausdrückt. Im Grunde versuche ich mit meiner Arbeit, dem entgegenzuwirken.
Schillernde Schönheiten leben in den Meeren vor unserer Haustür.
So wie die Kammmuschel mit bunten Perlen am Saum, die ihre Augen sind. Wohnort: Nordsee
Das Rechercheprojekt „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.