Dünnschnabel-Brachvogel, Renaturierung, Wolf und eine Mega-Entdeckung: Die Naturschutzbilanz 2024
Das Jahr im Rückblick: Erfolge, Enttäuschungen und Dramen im Naturschutz – Ein persönlicher Streifzug durch Lichtblicke und Schattenseiten des Naturschutzes 2024.
2024 war ein weiteres entscheidendes Jahr für den Natur- und Umweltschutz weltweit und in Deutschland. Es gab etwas Licht, viel Schatten und einige sehr inspirierende Entwicklungen. Ein subjektiver Rückblick auf das Naturschutzjahr anhand der Themen, über die ich geschrieben habe.
Die traurigste Nachricht im Artenschutz: Dünnschnabel-Brachvögel gibt es nicht mehr
Am Ende halfen weder Suchexpeditionen noch genetische Spurensuchen oder Aufrufe an Vogelbeobachter: Nachdem es trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen ist, ein lebendes Exemplar der Art zu finden, haben Wissenschaftler den Dünnschnabel-Brachvogel – einen einst in Feuchtgebieten von Zentralasien bis zum Mittelmeer anzutreffenden Watvogel – für ausgestorben erklärt.
Das Artensterben hat damit ein weiteres Opfer. Der Dünnschnabel-Brachvogel geht als 165. Vogelart in die Geschichte ein, die durch menschlichen Einfluss für immer vom Angesicht der Erde verschwunden ist. In Europa ist es das dritte Mal, dass ein Vogel für ausgestorben erklärt wird. Die Entwässerung seiner Hochmoor-Brutgebiete für die Landwirtschaft und die Zerstörung der Küstenfeuchtgebiete entlang von Mittelmeer und Atlantik, die als Winterfutterplätze dienten: Umweltzerstörungen gleich an zwei existenziell wichtigen Punkten des Lebenszyklus konnte der Brachvogel nicht meistern. Ich habe in den vergangenen Jahren oft an das Schicksal des Vogels gedacht. Denn ich war Teil eines internationalen Fotografenteams, das das Überleben des seltenen Vogels zweifelsfrei dokumentieren sollte, falls es eine Sichtung gab. Doch der ersehnte Anruf zum Aufbruch erreichte mich ebenso wenig wie die anderen Experten, die den Vogel fangen, identifizieren und mit einem Sender ausstatten sollten.
Der größte Erfolg in der Umweltpolitik Das EU-Renaturierungsgesetz
Die Verordnung, mit der in den nächsten Jahren ein Drittel der geschädigten Ökosysteme wieder in einen guten Zustand gebracht werden sollen, ist nach jahrelangem Hin und Her auf den Weg gebracht worden (mehr dazu hier).
Das Gesetz geht auf die Erkenntnis zurück, dass es nach jahrhundertelanger Zerstörung von Wäldern, Flüssen, Auen und Mooren nicht mehr ausreicht, die verbliebenen Reste von Natur nur zu schützen. Vielmehr sind aktive Maßnahmen nötig, um die siechenden Naturräume wiederzubeleben: Entwässerungsgräben müssen zugeschüttet, Stauwehre abgebaut und gerodete Hecken neu angepflanzt werden.
Gemeinsam mit Fortschritten im Kampf gegen die Verschmutzung mit Schadstoffen, der Vergiftung mit Pestiziden und der Überdüngung mit Nährstoffen kann das Renauturierungsgesetz zum „gamechanger“ in der Ökokrise werden. Mehr als ein Wermutstropfen dabei: Gerade beim zentralen Punkt der Pestizidreduktion erlebte Europa 2024 getrieben durch die von der Agrarlobby inszenierten und zum Teil aufstandsartigen Proteste (mehr dazu hier). einen massiven Rückschlag (mehr dazu hier). Es wird sich also noch zeigen müssen, wie ernst es die Staaten mit einer Re-Ökologisierung meinen, aber ein paar Vorschuss-Lorbeeren scheinen mir berechtigt. Gründe, auf die Bremse zu treten, gibt es jetzt jedenfalls keine mehr, sagen auch Wissenschaftler.
Drama bringt auch eine Heldin hervor
Das Drama um das Zustandekommen der Renaturierungsverordnung hat in der letzten Minute übrigens eine eigene Heldin hervorgebracht: Österreichs grüne Umweltministerin riskierte den Koalitionsbruch mit ihrer Zustimmung. „Ich laufe im entscheidenden Moment nicht vor der Verantwortung davon“, sagte sie mir dazu im Interview.
Die größte Enttäuschung im Naturschutz: Feuer frei auf den Wolf
2024 wird als das Jahr in die Geschichte des Artenschutzes eingehen, in dem eine bedrohte Tierart der populistischen Stimmungsmache geopfert wird. Ich spreche natürlich vom Wolf. Trotz großer Zuwächse der Population ist diese Tierart gut 20 Jahre nach ihrem Comeback in Deutschland noch nicht über den Berg, oder technisch ausgedrückt: Sie hat als Ganzes noch keinen günstigen Erhaltungszustand erreicht (mehr dazu hier).
Trotzdem verhalf Umweltministerin Steffi Lemke dem Vorstoß der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zu einer Mehrheit, den Schutzstatus für den Wolf im Rahmen der Berner Konvention abzusenken und damit den Weg für eine reguläre Bejagung zu ebnen (mehr dazu hier).
Gefährlicher Präzedenzfall
Expertinnen und Experten warnten vergeblich vor diesem Schritt, von dem sie einen gefährlichen Präzedenzfall befürchten: schon mehren sich Forderungen, Bären und Luchse zum Abschuss freizugeben (mehr dazu hier). Lemke hält den Schritt dagegen für vertretbar, weil sie den Wolfsbestand als gesichert ansieht und sie hofft, mit der Lockerung des Artenschutzes der Instrumentalisierung des Themas durch Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen zu können (mehr dazu hier).
Ich halte das für falsch: Trotz aller Probleme, die im Konflikt mit der Haltung von Weidetieren gelöst werden müssen, sind wir in Deutschland in der Lage, die Rückkehr der großen Beutegreifer zu managen. Zu wenig beachtet wird in der Debatte auch, dass die legale Hatz auf den Wolf den Konflikt mit der Weidetierhaltung nicht lösen wird (mehr dazu im Podcast hier).
Die Parallele wurde zwar schon häufig bemüht, bleibt aber richtig: Mit welchem Recht verlangen wir von armen Ländern etwa in Afrika, ihre Elefanten (und viele andere Tiere) im Konflikt mit Mensch und Landwirtschaft zu schützen, wenn wir glauben, dass bei uns 200 Wolfsfamilien schon genug sind, um auch legal (illegal geschieht es längst mutmaßlich im beachtlichen Maßstab) wieder Wölfe im größeren Maßstab zu töten?
Die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland bietet uns die Chance mit jahrhundertealten Mythen aufzuräumen (mehr dazu hier), reale Probleme ohne einen verklärt-sentimentalen Blick auf das Raubtier Wolf notfalls mit der Tötung einzelner Tiere zu lösen – und so zu zeigen, dass wir auch im eigenen Land das schaffen, wofür wir auf internationaler Ebene werben: die Artenvielfalt zu erhalten.
Die große Gefahr: Vogelgrippe
Ich habe lange darüber gestaunt, wie wenig ernst die Ausbreitung der Hochpathogenen Aviären Influenza – umgangssprachlich Vogelgrippe – über lange Zeit selbst innerhalb der Artenschutz-Szene genommen wurde: Dabei hat sich die aus der Qualzucht der Intensiv-Tierhaltung entstandene Pandemie im Tierreich (mehr dazu hier) innerhalb weniger Jahre zu einer so großen Gefahr für immer mehr Vogelpopulationen entwickelt, die in einer Liga mit ökologischen Jahrhundertkatastrophen wie dem Einsatz von DDT spielt (mehr dazu hier).
Auch bei uns bedroht das Virus längst nicht mehr nur Wasservögel (mehr dazu hier). 2024 markiert ein entscheidendes Jahr – aus zwei Gründen: Es ist das Jahr, in dem die Seuche mit noch nicht absehbaren Folgen eine der letzten verbliebenen Bastionen geschliffen hat: die Antarktis (mehr dazu hier). Und in diesem Jahr hat das Virus den Sprung auf Kühe geschafft – womit es nun als mögliche Gefahr auch für Menschen endlich so ernst genommen wird, wie es es verdient. Für die Vögel Europas bedeutet diese Entwicklung eine Verschnaufpause. Beruhigen kann uns das allerdings kaum (mehr dazu hier).
Die bedenklichste Entwicklung: Die schleppenden Fortschritte beim 30×30-Ziel
Es ist das größte Naturschutz-Versprechen der Menschheitsgeschichte: 30 Prozent der Landfläche der Erde und ein ebenso großer Anteil der Ozeane sollen bis 2030 unter einen wirksamen Schutz gestellt werden. Dieses sogenannte 30×30-Ziel beschlossen die Staaten der Erde vor zwei Jahren einstimmig, als sie am 19. Dezember 2022 im kanadischen Montreal das Weltnaturabkommen auf den Weg brachten. Das Vorhaben ist für das Überleben der Menschheit so zentral, dass es auf Augenhöhe mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens steht. Doch zwei Jahre nach Montreal und fünf Jahre vor dem Zieldatum gibt es Fortschritte nur im Schneckentempo (mehr dazu hier).
Die Kriege 2024 - Gegen Menschen, Klima und Natur
Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten haben 2024 schwer erträgliches menschliches Leid verursacht. Auch für Natur und Umwelt haben sie verheerende Folgen – selbst die in zehntausenden Jahren durch Evolution entstandenen Vogelzug-Routen geraten durcheinander (mehr dazu hier). Auch das Erreichen der Pariser Klimaziele rückt durch sie in noch weitere Ferne. Allein für die ersten zwei Kriegsjahre in der Ukraine errechneten Forschende kriegsbedingte Treibhausgasemissionen von 175 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten – mehr als die jährlichen Emissionen eines hoch industrialisierten Landes wie die Niederlande. „Die Klimakosten bewaffneter Konflikte sind viel zu groß, als dass wir sie weiter ignorieren dürften“, warnte Benjamin Neimark von der Queen Mary University of London in meinem Interview.
Die faszinierendste Seite der Natur
„Müsste ich unter Androhung der Todesstrafe die perfekteste Hervorbringung des Universums benennen, würde ich mein Schicksal auf das Ei eines Vogels verwetten“, schrieb der US-Autor und Bürgerrechtler Thomas Wentworth Higginson 1862 in einem Essay. Nach meiner Recherche zum Thema neige ich dazu, ihm zuzustimmen. Das Vogelei ist ein Mini-Lebensraum der Superlative. Blicke hinter die Schale finden sich hier.
Erfolge für die Natur
„Naturschutzbemühungen finden jeden Tag statt und retten kleine, aber wichtige Teile des Lebens auf der Erde“, sagt Sandra Diaz, die als Ko-Chefin das berühmt gewordene Global Assessment des Weltbiodiversitätsrates zum Zustand der Natur mit erarbeitet hat, im Gespräch. Und spektakuläre Erfolge gab es auch 2024. So verbot Großbritannien den europäischen Fischereiflotten den Fang von Sandaalen. Naturschützer sehen darin eine historische Chance, den Niedergang europäischer Meeresvögel wie den Papageitaucher zu stoppen.
Kleine Flieger siegen über große Flieger
Weltweit schwinden mit den Feuchtgebieten die Rast- und Brutplätze für Millionen Zugvögel. Doch ausgerechnet am ökologisch wertvollen Tejo-Delta plante Portugal einen Flughafen. Nach langem Streit wurde das Projekt nun beerdigt. Wissenschaftler sprechen von der besten Nachricht für Zugvögel seit Jahrzehnten.
Wie Wissenschaft dem Artenschutz hilft
Conservation Biology – Naturschutzbiologie – ist bei uns eine junge Disziplin, andernorts schon lange etabliert. Auch der Verzicht auf den neuen Großflughafen am geplanten Standort ist das Ergebnis wissenschaftlicher Analysen zum Zugverhalten von Vögeln.
Wie wichtig Forschung für den konkreten Schutz für Tiere und Ökosysteme ist, zeigt das Beispiel der Wale. Wissenschaftler haben einen Plan entwickelt, wie mit wenig Aufwand die wichtigste Todesursache für ziehende Wale drastisch verringert werden kann. Spoiler: Tempolimits helfen auch den Riesen der Meere (mehr dazu hier).
Spektakuläre Neuentdeckung: Die größte Koralle der Erde
Und schließlich gibt es bis heute spektakuläre Entdeckungen auf dem Planeten. Während bei der Weltklimakonferenz COP29 in Baku über die Bedeutung des Meeresschutzes im Kampf gegen das Artensterben und den Klimawandel diskutiert wurde, gaben Wissenschaftler der National Geographic Society die Entdeckung der größten jemals gefundenen Koralle bekannt. „Groß wie eine Kathedrale unter Wasser“, sagte einer der Entdecker. Ob das Tier als größtes Lebewesen der Erde anerkannt wird, wird sich zeigen. Jedenfalls ist der Mega-Organismus mit 32 Metern Länge, 34 Metern Breite und fünfeinhalb Metern in der Höhe größer als ein Blauwal – der bislang als größtes Tier der Erde gilt.
Es gibt noch viel Neues zu entdecken
Dass es trotz Naturzerstörung und Klimawandel immer noch viele weitere Arten zu entdecken gibt, glaubt auch Frank Rheindt. Der deutsche Ornithologe muss es wissen. Niemand hat in unserer Generation mehr neue Vogelarten entdeckt als der Biologe von der National University of Singapore. „Nur Arten, von denen wir wissen, dass sie überhaupt existieren, können wir auch schützen“, sagt er im Gespräch. Um neue Arten zu entdecken, nimmt Rheindt einiges auf sich. Er hat sich im Regenwald verlaufen und wurde von Paramilitärs verschleppt. Was braucht man als Entdecker in unserer Zeit? „Große Neugierde, Unternehmungslust und die Bereitschaft, seine Komfortzone zu verlassen.“