Klimakrise jetzt! Und wie geht's weiter?

8 Film- und Lesetipps für die Urlaubszeit vom KlimaSocial-​Team

195 Minuten
Ausschnitt aus Filmplakt von "Tomorrow - die Welt ist voller Lösungen"

Das Eis schmilzt in ungeahntem Tempo, der Permafrost taut und Wissenschaftler sehen sich gemäß ihren Klimavorhersagen nicht mehr am Anfang, sondern bereits am Ende des 21. Jahrhunderts. Die Zeit drängt, endlich etwas zu tun. Und nicht nur wir von KlimaSocial sind der Überzeugung, dass auf gesellschaftlicher Ebene etwas geschehen muss. Daniela Becker und Christopher Schrader haben nun ein paar Film- und Lesetipps zusammengetragen, die zum Handeln inspirieren.

Jeder ist Teil der Lösung

Ständig Leuten Horrornews zum Thema #Klimakrise vor den Latz zu knallen, macht uns bei KlimaSocial auch keine Freude. Und wir wissen, das kann deprimieren. Deswegen sei der Film „Tomorrow: Die Welt ist voller Lösungen“ empfohlen, der beides hinbekommt: Eindringlich vor den ökologischen Problemen zu warnen und gleichzeitig Lösungen aufzuzeigen.

Um ehrlich zu sein: Ich, Daniela Becker, hatte lange überhaupt keine Lust den Film anzusehen, weil ich „Gute-Nachrichten-Formate“ allzu oft als zu einseitig und unterkomplex empfinde. Mich hatte der Film dann aber nach circa zehn Minuten: Da sagte einer der Aktivisten aus Detroit in die Kamera, dass ihn der ganze Hype um In-Themen wie „Urban-Gardening“ wundert. Denn ein Teil der Wahrheit sei eben, dass umweltfreundliche Landwirtschaft nicht „sexy“ ist, sondern täglich schweißtreibende Arbeit in der prallen Sonne.

Ab diesem Zeitpunkt habe ich dann ganz vorurteilsfrei den vielen Experten und Aktivisten aus den Bereichen Bildung, Energieversorgung, Städteplanung, Wirtschaft und Landwirtschaft zuhören können, die aus ihren Projekten und von ihren Beweggründen erzählen. Neben den interessanten Inhalten, bei denen wirklich jeder noch was lernen kann, hat der Film aus meiner Sicht vor allem zwei Stärken: Er zeigt erstens ein weites Spektrum an Menschen auf der ganzen Welt, die sich mit all ihrem Herzblut für eine bessere Welt einsetzen. Und zweitens, dass wirklich jeder ein Teil der Lösung sein kann. (db)

Tomorrow -Die Welt ist voller Lösungen, erschienen 2016

https://www.tomorrow-derfilm.de/wo-zu-sehen.html

Weniger denken, mehr machen

Der grundsätzliche Entschluss, öfter mit dem Bus oder Fahrrad zur Arbeit zu fahren, ist gefallen, aber dann regnet es morgens und da hängt immer noch der Autoschlüssel am Schlüsselbrett… Über die Probleme beim Umstieg auf einen umweltfreundlicheren Lebensstil ist viel geschrieben worden. Michael Kopatz vom Wuppertal-Institut plädiert darum in seinem Buch „Ökoroutine“ dafür, die Verantwortung von den Schultern des Einzelnen zu nehmen. Gesetzliche Standards könnten viele Entscheidungen vorbereiten und bahnen, wenn sie regeln, wie Tiere gehalten, wie ihr Fleisch besteuert, wie Verkehr geführt und Heizanlagen erneuert werden. Das Ziel für den Autor ist es, dass nachhaltiges Verhalten zum Normalfall wird, über den der Konsument kaum noch nachdenken muss. Wenn er nichts entscheidet, entscheidet er sich richtig.

Das Buch ist voll von Beispielen, wo sich der Alltag ändern sollte, und stellt sich auch dem Vorwurf, solche Reformen bevormundeten die Verbraucher – Stichwort „Ökodiktatur“. Kopatz hält den Vorwurf für polemisch und unfair: die Politik gebe überall Standards vor, ob sie nun einen Führerschein für das Lenken von Autos im Straßenverkehr verlangt, die Menschen zu Beiträgen zu einer Pflegeversicherung zwingt, die Größe von Papierbögen standardisiert oder die Qualität des Trinkwassers vorschreibt. Dieses in der Regel unumstrittene System müsse auf Umwelt und Klima ausgedehnt werden. Da gebe es viel nachzuholen, schreibt er: „Machen wir uns nichts vor: Die zurückliegende Politik hat Naturzerstörung und Ressourcenverschwendung zum Standard gemacht.“ Das vor allem will der Autor ändern. (csc)

Michael Kopatz: Ökoroutine, oekom-Verlag, Taschenbuch-Ausgabe 2018, 416 Seiten, 20 Euro

Cover von Michael Kopatz: Ökoroutine
Cover von Michael Kopatz: Ökoroutine

Besser Leben ohne Plastik

Nadine Schubert hat 2013 erkannt, dass es mit all dem Müll, den unser Einkauf verursacht, so nicht weitergehen kann. Schubert, Journalistin, verheiratet, zwei Kinder, begann also Plastikverpackungen aus ihrem Leben zu verbannen. Ihre Erfahrungen verarbeitete sie auf ihrem Blog, dann gemeinsam mit Anneliese Bunk im Buch „Besser leben ohne Plastik".

Das Nachfolger-Buch „Noch besser leben ohne Plastik" ist ein Praxisratgeber mit vielen Tipps und Rezepten. Müll zu vermeiden und auf Plastik zu verzichten ist kein Hexenwerk. Mehrweg statt Einweg, Jutebeutel statt Plastiktüte, Brotzeitboxen statt Alupapier; es ist nicht so schrecklich kompliziert.

Wer braucht also dieses Buch? Offenbar wir alle. Deutschlands Müllproduktion gerade bei den Verpackungen steigt immer weiter an. Schuberts Ratgeber ist ein nützlicher Schritt-für-Schritt-Ratgeber, um in allen Bereichen des eigenen Haushalts, Reisen und Schule Bewusstsein zu schaffen, wo überall Müll entsteht und welche Alternative es dazu gibt. Sie gibt konkrete Tipps wo und wie Verzicht möglich ist, Anleitungen um Kosmetikprodukte und Putzmittel plastikfrei selbst herzustellen und Adressen zum Kauf von Alternativprodukten. Nicht zuletzt räumt sie mit dem weitverbreiteten Vorurteil auf, Plastikverzicht sei nur etwas für Wohlhabende. Im Gegenteil, wer bewusst müllfrei einkauft (was meist mit weniger einkaufen einhergeht), reduziert auch seine Ausgaben.

Außerdem enthält das Buch Rezepte für selbstgemachte Waschmittel und Kosmetikartikel. Von den Tipps zu den wenigen Grundprodukte die ein hygienischer Haushalt benötigt, können auch Menschen profitieren, die keine Lust haben ihr Waschmittel selber zu mischen, um auf Plastikverpackungen zu verzichten. Wichtig sind auch die Informationen über die immer noch viel zu wenig bekannte Menstruationstasse, eine einfache Möglichkeit für Frauen viel Müll durch und Geld für Tampons und einzusparen.

Das Buch trägt dazu bei, dass man Gewohnheiten hinterfragt und argumentationsreich in Diskussionen rund um das Thema Müll einsteigen kann. Gerade letzteres ist ein Plus, was nicht zu unterschätzen ist. Denn obwohl die Umweltschäden, die durch Plastikeintrag in die Umwelt verursacht werden inzwischen weitreichend bekannt sind, haben es Menschen, die versuchen müllarm durchs Leben zu gehen, nicht immer einfach. Probleme bereiten nicht selten nett gemeinte Gesten.

„Denn leider geht es bei den zahlreichen Anlässen zu denen Geschenke gemacht werden, oftmals nur noch um viel, schnell und möglichst bunt. Haben Sie keine Angst, sich dem Trend zu wiedersetzen." Nadine Schubert

Wie das geht ohne Freunde und Bekannte vor den Kopf zu stoßen, erklärt die Autorin im Kapitel „Schenken und beschenkt werden". Oder, eine subtilere Möglichkeit: „Noch besser leben ohne Plastik" einfach zum nächsten Geburtstag oder an Weihnachten verschenken. (db)

Nadine Schubert, Noch besser leben ohne Plastik, oekom verlag 2017, 112 Seiten, 13 Euro

Cover von "Noch besser leben ohne Plastik" von Nadine Schubert
Cover von "Noch besser leben ohne Plastik" von Nadine Schubert

Was nicht gesagt, aber gehört wird

Politische Kommunikation ist voller Fallen. Zentrale Begriffe tragen oft weit mehr Bedeutung als es scheint, weil viele von ihnen bei den Zuhörern Assoziationen wecken.

Wer zum Beispiel von „Klimawandel“ spricht, beschreibt ganz neutral eine Veränderung, wie es sie in der Geschichte der Menschheit immer mal wieder gegeben hat. Die „globale Erwärmung“ weckt Gedanken an angenehme Temperaturen, und „Klimaschutz“ transportiert bei weitem nicht die Botschaft, dass man die Menschen vor dem bedrohlich gewordenen Klima schützen müsste.

In jedem dieser Fälle stehen die gesprochenen oder gedruckten Wörter und Sätze dann in einem ganzen Bedeutungsrahmen, der das Verständnis des gemeinten Inhalts im besten Fall erweitert und ausschmückt, im schlimmsten aber neutralisiert oder umkehrt. Das ist die zentrale These des neudeutsch Framing genannten wissenschaftlichen Konzepts. Die Kommunikationsforscherin Elisabeth Wehling hat dazu 2016 das Buch „Politisches Framing“ geschrieben und arbeitet seither als Beraterin und Expertin vor allem im Fernsehen. Welche Sprengkraft in ihrem Thema steckt, verrät schon der Untertitel: „Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“.

Sie behandelt darin Themen wie die Zuwanderung, wo auch neutrale Kommentatoren den bedrohlich klingenden Kampfbegriff „Flüchtlingswelle“ übernommen haben, aber auch Steuern („Steuerlast“ oder „-bürde“, aber kaum jemand spricht von gerechtem Beitrag oder dem Geld, mit dem der Staat seine Leistungen bezahlt) oder Abtreibung (im Gegensatz zur neutral formulierten „ungeplanten“ enthält die Bezeichnung „unerwünschte“ Schwangerschaft Wehling zufolge Assoziation, die das Kind abwerten). Zum Thema Klima sagt die Wissenschaftlerin, da werde mit großteils neutralen oder sogar freundlichen Begriffen über die „schrittweise Auslöschung unserer natürlichen Lebensgrundlagen“ gesprochen.

Das Buch enthält zwei Teile: Der erste schildert die wissenschaftlichen Grundlagen des Konzepts Framing, der zweite viele konkrete Beispiele. Wer nur dort herumschmökert, dem könnte das eine oder andere Exempel banal oder bloß plausibel erscheinen. In jedem Fall lohnt sich aber das Überdenken der eigenen Sprache vor dem Hintergrund von Wehlings Buch. (csc)

Elisabeth Wehling: Politisches Framing, Herbert von Halem Verlag, 2016, 222 Seiten, 21 Euro

Cover von Politisches Framing von Elisabeth Wehling
Cover von Politisches Framing von Elisabeth Wehling

Wissen im Quadrat

Ein Buch über den Klimawandel für Leute, „die sich nicht wirklich selbst ein solches Buch kaufen würden“ – das wollten die beiden Studenten David Nelles und Christian Serrer vor der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen schreiben. Herausgekommen ist „Kleine Gase – Große Wirkung“, ein quadratisches Buch mit 132 Seiten und vielen Grafiken. Es erklärt mit kurzen Texten die Grundlagen des Themas von Treibhauseffekt und Eis-Albedo-Rückwirkung bis zur möglichen Veränderung der Meereszirkulation. Hinzu kommen Doppelseiten über die Folgen für die Menschheit von Wetterextremen bis zu Ernteausfällen.

Für ihr Projekt haben die beiden Wirtschafts-Studenten viel Hilfe und Lob von Fachwissenschaftlern bekommen; unter anderem haben Ernst Rauch und sein Vorgänger Peter Hoppe von der Georisiko-Abteilung der Münchner Rück ein Vorwort geschrieben, und ein Zitat von Hans Joachim Schnellnhuber, Gründungsdirektor der Potsdam-Instituts, ziert den hinteren Umschlag. Auf der begleitenden Webseite dokumentieren die Autoren ihre Quellen [Q1]. Das Buch ist im Eigenverlag erschienen, trotzdem haben es Großhändler, Buchhandelsketten und Versandhandel ins Programm genommen. Eine ausführliche Rezension hat KlimaSocial bereits im Dezember 2018 veröffentlicht [Q2]. Seither sind die beiden Studenten unter anderem zu einem Vortrag bei der Europäischen Zentralbank eingeladen worden und haben nach eigenen Angaben fast 100 000 Exemplare verkauft. (csc)

David Nelles & Christian Serrer: Kleine Gase – Große Wirkung. Der Klimawandel; Eigenverlag, 5 Euro, 132 Seiten

[Q1]: Begleitende Webseite

[Q2]: Kleine Gase – Große Wirkung: Rezension bei KlimaSocial

Cover von Wissen im Quadrat von David Nelles und Christian Serrer
Cover von Wissen im Quadrat von David Nelles und Christian Serrer

Einstieg in den Minimalismus

„Einfach leben" heißt das Buch der Autorin Lina Jachmann, mit der sie uns in die Welt der Minimalisten mitnimmt. Menschen, die minimalistisch leben, wollen sich freimachen vom ewigen Konsumzwang, der Idee, dass immer mehr Dinge zu besitzen gleichbedeutend mit einem guten Leben ist.

Für die Entscheidung sich freiwillig und bewusst einzuschränken gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Die einen wollen Ressourcen sparen und die Umwelt schützen, die anderen weniger Geld benötigen und dadurch freier sein, Kontrolle über einzelne Bereiche ihres Lebens wiedergewinnen oder sich bei der Suche nach dem Wesentlichem im Leben nicht von materiellen Dingen ablenken lassen. Als Untertitel führt das Buch die Zeile „Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil".

Auf 240 Seiten schildert die Autorin, was Minimalismus bedeuten und welche Vorzüge ein solcher Lebensstil haben kann. Das Werk enthält einige Anleitungen, um schrittweise die Wohnung, den Kleiderschrank und auch den Tagesablauf zu entrümpeln. Es gibt zahlreiche weiterführende Links und Hinweise auf nützliche Webseiten, Apps und Initiativen, Anleitungen für DIY-Möbel und Kosmetika und für verpackungsfreies Einkaufen. Das Ganze ist illustriert mit schönen Bildern der Fotografin Marlen Mueller. Richtig interessant sind jedoch die Portraits über und Interviews mit Menschen, die ihren Lebenslauf und die Beweggründe für ihren Einstieg in ein minimalistisches Leben schildern.

  • Man erfährt wie die einstige Mode-Bloggerin Madeleine Alizadeh dazu kam, heute auf dariadaria über ihren reduzierten Lebensstil zu berichten.
  • Milena Glimbovski, Geschäftsführerin des Berliner ZeroWaste-Ladens Original Unverpackt gibt Einblick in ihr Zuhause, in dem jedes Möbel mit Bedacht ausgewählt wurde.
  • Filmemacher Daniel Freix berichtet, wie die radikale Reduzierung seines Hab und Guts dazu beigetragen hat, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.
  • Besonders stark ist das Interview mit Joachim Klöckner, der tatsächlich nur 50 Dinge besitzt, und diesen radikalen Lebensstil schon lange pflegte bevor es den Begriff Minimalismus gab. Klöckner ist es auch, der im Interview darauf hinweist, dass es durchaus Menschen gibt, denen dieser Lebensstil aus guten Gründen Unbehagen auslöst. In seinem Fall ist es seine Mutter, die in der Nachkriegszeit auf sehr viele Dinge zwangsweise verzichten musste.

Eine Sache, die vielleicht bei allen guten Ansätzen im Buch ein wenig kurz kommt: Nur weil der Leser in einer Überflussgesellschaft lebt, in der viele Dinge kurzlebig und kaum wertgeschätzt werden, gilt das noch lange nicht für alle Teile der Welt. Während wir frei entscheiden können, ist für andere Verzicht keineswegs optional. Ein wenig anstrengend ist außerdem der inflationäre Gebrauch des Wortes „clean". Clean Minds, Clean Eating, cleane Modeschnitte: Das alles löst trotz Sympathie für das Konzept des Minimalismus – zumindest bei der Autorin dieser Rezension sofort den Wunsch aus, sich in ein besonders buntes, mit paillettenbesetztes Glitzerkleid zu werfen, ein komplexes 5-Gänge-Menü zu bestellen und dazu einen dicken Dostojewskij zu lesen. Natürlich ist klar, worum es geht: Auch beim Essen kann weniger mehr sein und Achtsamkeit und Meditation sind anerkannte Methoden, um sich auf das Wesentliche im Leben zu fokussieren. Aber die ständige Wiederholung des „cleanen" wirkt dann doch etwas dogmatisch, was das Buch eigentlich gerade nicht sein will.

In jedem Fall ist „Einfach leben" eine umfangreiche Inspirationsquelle für Minimalismus-Anfänger und macht Lust, zumindest an einigen Stellen das eigene Umfeld ein wenig zu entschlacken. Punkteabzug gibt es für das fehlende Personen- und Sachregister, was ärgerlich ist, wenn man eine bestimmte Person oder einen Tipp nachschlagen möchte. (db)

Einfach leben: Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil, Goldmann Verlag 2018

Cover von Einfach leben - Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil von Lina Jachmann und Marlen Mueller
Cover von Einfach leben - Der Guide für einen minimalistischen Lebensstil von Lina Jachmann und Marlen Mueller

Das gute Leben

Man müsste schon ein sehr unsensibler Mensch sein, wenn man bei der Szene keinen Kloß im Hals bekäme, in der Henrys Ureche Epiayu die Tränen unter der dunklen Sonnenbrille herunterkullern. Sein herzzerreißendes Schluchzen durchdringt den Van, der ihn in seine neue Heimat fährt. Henrys altes Dorf Tamaquito in Nordkolumbien wird es schon bald nicht mehr geben, denn es steht El Cerrejón, dem weltweit größten Steinkohle-Tagebau, im Weg.

Nun sind Umsiedlungen wegen Kohleabbaus keine Einzelschicksale. Im Gegenteil: jedes Jahr verlieren weltweit hunderttausende Menschen ihre Heimat deswegen. In Deutschland haben die Kämpfe um die kümmerlichen Reste des Hambacher Waldes das Thema wieder ins Bewusstsein geholt. Auch in der Lausitz kämpfen Dorfbewohner schon lange um ihre Rechte. Die Probleme im Kampf gegen Konzerninteressen sind denen der Wayúu durchaus ähnlich, sagt Regisseur Jens Schanze, der auch die Prozesse in Ostdeutschland bereits filmisch dokumentiert hat.

In seinem Film „La Buena Vida„ kollidieren auf sehr anschauliche Weise zwei Denkarten miteinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die kapitalistische Welt und ihr unerschütterlicher Glaube an Fortschritt und Wachstum mit der Idee vom “guten Leben", die indigene Völker entlang der Anden praktizieren. In weitgehender Harmonie mit der Natur leben sie ein einfaches, aber glückliches Leben. Dieses „gute Leben" sind die Wayúu nun gezwungen aufzugeben, weil die benachbarte Kohlemine sich immer näher an ihr Territorium in den Wald hineinfräst. Die Bilder, wie der grüne Dschungel von der staubigen Mine mit ihren riesigen Baggern aufgefressen wird, gleichen den Bildern aus dem Hollywood-Film „Avatar" – nur dass diese die Realität abbilden.

Die Wayúu sind realistisch. Hier werden sie nicht bleiben können. Nach langen, zähen Verhandlungen willigen sie der Umsiedlung ein. Regisseur Jens Schanze sagt, das Besondere an Tamaquito sei die intakte Dorfgemeinschaft, die sich nicht durch den Druck des Konzerns oder Geldangebote auseinander dividieren ließ. Sondern sie verhandelte hart um die Bedingungen der Umsiedlung – so hart man eben verhandeln kann, als kleine indigene Gemeinschaft, die einem multinationalem Bergbaukonzern wie Cerrejón gegenüber steht.

Tatsächlich hätte die Umsiedlung von Tamaquito sogar eine Art Vorzeigeprojekt sein können. Und so lässt es Regisseur Schanze und den Zuschauer einigermaßen fassungslos zurück, wie der Betreiber der Mine, hinter dem Rohstoffkonzerne wie Glencore, Anglo American und BHP Billiton stehen – trotz Beobachtung durch ein Filmteam – den hart erarbeiteten Prozess vollkommen vor die Wand fährt. Denn die wichtigste der vertraglich zugesicherten Leistungen hält Cerrejón nicht ein: In Neu-Tamaquito gibt es bei Abschluss der Dreharbeiten Ende 2013 keine zuverlässige Wasserversorgung. Dieser Zustand hält bis heute an.

Die Wayúu mussten ihr sorgloses Leben im Grünen mit sicherer Nahrungsversorgung gegen elektrifizierte Häuser aus Stein auf trockenem, staubigem Land eintauschen. Die Möglichkeit eigenständig für ihr Überleben zu sorgen, bleibt ihnen verwehrt. Sie geben ihr gutes Leben für unser gutes Leben auf. Denn die Kohle aus El Cerrejón wird zu einem sehr großen Teil nach Deutschland verkauft, um hier Kohlekraftwerke zu befeuern – Kraftwerke, die gar nicht mehr ans Netz hätten gehen dürfen, würde man die beschlossene Energiewende tatsächlich in allen Konsequenzen ernst nehmen.

Nachdem man den Film angesehen hat, bleibt neben einem sehr schalen Gefühl auch die Frage, was man selbst tun kann. Regisseur Jens Schanze sagt, jeder könne seine eigene Rolle hinterfragen: „Woher kommt mein Strom? Bei welcher Bank habe ich ein Konto?" Denn die großen deutschen Banken sind allesamt Kreditgeber für die Konzerne in Südamerika. Und dann geht es natürlich um den eigenen Lebensstil, bei dem man sich fragen kann, ob es mit ein bisschen weniger nicht auch gut geht? (db)

La buena vida – Das gute Leben, erschienen 2015

Eine filmische Reise zu modernen Anarchisten

Gleich am Anfang des Films geht gleich mal ein Feuerwehrauto in Flammen auf. Die Szenerie ist düster, ein Auto wird zerstört, Gewalt liegt in der Luft. Der Dokumentarfilm „Projekt A“ beschäftigt sich mit Anarchismus, da scheint dies doch der passende Einstieg. Oder etwa nicht?

„Im Zentrum der anarchistischen Idee steht der Gedanke, dass kein Mensch über einen anderen herrschen soll. Von dieser Herrschaftslosigkeit, eigentlich auch Gewaltlosigkeit, entwickeln sich verschiedene Prämissen, wie etwa das Eigentum nicht ungleich verteilt sein darf. Das führt zu einer anti-autoritären sozialistischen Idee.“ Marcel Seehuber.

Marcel Seehuber und sein Kollege Moritz Springer wollten mit „Projekt A“ diese ursprünglich positive Idee des Anarchismus filmisch umzusetzen. Und so verzieht sich im Film rasch der Rauch und man findet sich als Zuschauer in einem schönen Garten in Athen wieder. Der war freilich nicht immer so grün: der Parko Navarinou war ursprünglich ein Parkplatz, der 2009 von Anwohnern und Anarchisten besetzt und dann Schritt für Schritt und in viel Handarbeit zu einem öffentlichen Park umfunktioniert wurde. Ein gutes anarchistisches Beispiel, denn „der Anarchismus stand immer dafür, etwas konkret zu versuchen, “ sagt Seehuber.

Geschichtlich betrachtet hat die antiautoritäre soziale Bewegung eine lange Historie, mit einer Blütezeit zwischen 1860 und 1930. Der Anarchismus erfuhr vor allem in Spanien Unterstützung, wo in der Folge Land und Fabriken kollektiviert und von der Arbeiterklasse verwaltet wurden. Doch auch in Deutschland gab es eine anarchistisch geprägte Gewerkschaft mit bis zu 30.000 Mitgliedern. Durch die Weltkriege und den Faschismus fand die Bewegung jedoch ein jähes Ende und ihre ursprüngliche Bedeutung geriet in Vergessenheit. Fast, denn in Barcelona ist die anarchosyndikalistische Gewerkschaft Confederación General del Trabajo (CGT) wieder mit Erfolg aktiv: sie hat 60.000 Mitglieder und verzeichnet als einzige Gewerkschaft Spaniens sogar Mitgliederzuwachs. Wie ihre Struktur funktioniert, wird in „Projekt A“ spannend und erhellend erklärt.

Die geregelte Struktur der Gewerkschaft steht dann wieder im krassen Gegensatz zu der Person von Enric Duran, den Medien gerne als den „spanischen Robin Hood“ bezeichnen. Der antikapitalistische Aktivist hat sich von 39 Banken eine Summe von nahezu einer halben Million Euro geliehen – ganz ohne die Absicht, die Kredite jemals zurückzuzahlen. Stattdessen investierte er das Geld in diverse Projekte. Heute lebt Duran im Untergrund. Die von ihm mitinitiierte Kooperative Cooperativa Integral Catalana (CIC) in Barcelona ist vielleicht die anschaulichste Umsetzung der anarchistischen Vision. Die mehr als zweitausend Mitglieder der CIC versuchen mithilfe von alternativen Währungsmodellen, eigener Produktion und Tauschhandel eine Transformation der Gesellschaft herbeizuführen. Die Infrastruktur der Kooperative bietet ein Gesundheitswesen und deckt allgemeine Lebens- und Ernährungsbedürfnisse. Der wesentliche Punkt ist, wie bei allen anarchistischen Projekten, dass sie auf Selbstverwaltung basiert. Das macht Arbeit und klappt auch nicht überall gleich gut.

„Wenn man die doch sehr zahlreiche anarchistische Literatur liest, bekommt man schon das Gefühl, dass es wahnsinnig viele Projekte gibt, die funktionieren, produzieren und Leute versorgen und dass alles ganz einfach ist. Tatsächlich haben wir aber erst sehr wenige gefunden." Marcel Seehuber

Dennoch halten die beiden Dokumentarfilmer die Bewegung für einen Trend. „Offenbar ist es für viele Menschen an der Zeit, einen anderen Weg zu suchen. Die Leute haben wieder mehr Bock auf Selbstverwaltung, “ meint Seehuber. Viele der von „Projekt A“ dokumentierten Initiativen sind noch sehr jung. Ihre Geburtsstunde fällt mit der europäischen Finanzkrise zusammen.

„Viele dieser Leute hatten aber schon immer alternative Ideen im Kopf. Doch sie hatten gute Jobs, und durch ihre Lohnarbeit blieb schlicht keinen Raum und keine Zeit, um etwas zu organisieren. Dann haben viele Leute ihre Jobs verloren – und natürlich gab es plötzlich die Notwendigkeit sich anders zu organisieren, aber auf einmal hatten sie auch die Zeit dafür. Deswegen sind gerade in Griechenland und Spanien viele Projekte auf diese Weise vor kurzem entstanden.“ Marcel Seehuber

Der Film entlässt die Zuschauer mit der Erkenntnis, dass die anarchistische Utopie sogar bis ins eher konservative Bayern vorgedrungen ist. Ganz im Kontrast zu dem Feuerwehrauto in Flammen besuchen die Filmemacher, zum Ende des Films das „Kartoffelkombinat“, eine solidarische Landwirtschaft im eher beschaulichen München. Die Mitglieder der Solawi bezeichnen sich zwar selbst nicht als Anarchisten. „Aber das andere Herangehen an Eigentum, die nicht profit- sondern bedürfnisorientierte Produktion und die demokratische Organisationsweise führt sehr zu den anarchischen Wurzeln zurück, “ sagt Seehuber. (db)

Projekt A, erschienen 2016

http://www.projekta-film.net/de/

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